Sie zu lieben. Eva Lejonsommar

Sie zu lieben - Eva Lejonsommar


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      Eva Lejonsommar

      Sie zu lieben

      Saga

Sie zu lieben ...

      1

      Marie schob den Sitz zurück, streifte die Schuhe ab und stützte die Füße an das Handschuhfach.

      Sie drehte eine helle Haarsträhne um den Zeigefinger. Sie drehte immer weiter, bis sie die Strähne von der Schulter bis zum Haaransatz aufgewickelt hatte. Dann ließ sie sie los und nahm eine neue.

      »Was ist denn, Marie? Hat dir das Haus nicht gefallen?«

      Anna nahm die Hand vom Steuer und legte sie auf Maries Schenkel. Sie schaute in Zweisekundenintervallen zwischen Marie und der Straße hin und her, um nicht in den Graben zu fahren.

      »Doch, es war schön, aber ich muß erst noch ein bißchen darüber nachdenken.«

      Anna schaute sie weiter mit diesen schnellen Kopfbewegungen an und strich dabei mit der Hand über Maries Schenkel.

      »Konzentrier dich aufs Fahren«, sagte Marie und legte Annas Hand wieder aufs Steuer.

      Marie machte das Handschuhfach auf und wühlte in den Kassetten, bis sie die mit Tina Turner fand. Sie schob die Kassette in den Recorder und drehte die Lautstärke auf. Dann setzte sie sich wieder zurecht, die Füße am Handschuhfach, und starrte in die vorbeiziehende Landschaft.

      Sie hatte es schon immer gemocht, wenn es Herbst wurde; die sakrale Stille, wenn das All sich weitete, und das ruhige Atmen der Erde kurz vor dem Einschlafen.

      Es war eine Jahreszeit, in der sie normalerweise mit sich und ihrem Leben im reinen war. Aber jetzt pochte die Unruhe wie ein eingesperrter Zugvogel in der Brust.

      Das Haus, das sie angesehen hatten, war sehr reizvoll, vielleicht ein wenig heruntergekommen, aber es hatte die richtige Größe und war so nahe an der Stadt, daß sie dort die Wochenenden verbringen konnten. Sie hatte nur Schwierigkeiten, den Gedanken zu Ende zu denken, jetzt, wo er Wirklichkeit werden sollte. Anna sprach seit fünf Jahren davon. Aber es war, wie so vieles andere, über das sie geredet hatten, ein Traum in einer fernen Zukunft, nichts Konkretes, das eine Entscheidung verlangte.

      »Sie ist über fünfzig, das sollte man nicht glauben.«

      »Wer?«

      »Tina Turner«, sagte Anna und trommelte mit den Händen aufs Steuer. »I don’t wanna lose you ... true love«, sang sie den Refrain mit.

      Sie fuhren an Arboga vorbei und näherten sich der Raststätte, an der sie auf dem Weg zu Annas Eltern immer eine Pause machten.

      »Hast du die Milch vergessen?« fragte Anna, als sie die Becher und die Thermoskanne aus der Picknicktasche holte.

      »Du hast gepackt.«

      Anna fand das Glas mit der Milch in einer der Außentaschen.

      »Warum packe eigentlich immer ich?« fragte sie und goß Milch in den Kaffee.

      »Ich weiß nicht. Es gefällt dir vielleicht.«

      »Nein, das stimmt nicht. Aber außer mir macht es ja niemand.«

      »Und außerdem können wir dann sicher sein, daß es ordentlich gemacht wird, nicht?« sagte Marie und ließ zwei Zuckerstücke in ihren Becher fallen.

      Sie fuhren schweigend weiter. Es waren fast noch hundert Kilometer, aber Marie war in Gedanken schon mehrmals angekommen. Es gab ein bestimmtes Geräusch, beziehungsweise eine Sequenz von Geräuschen, die sie sehr mochte.

      Es war das Geräusch, wenn vier schwer belastete Gummireifen über eine dicke Schicht Kies fuhren und die Steine gegeneinanderdrückten. Es war das Geräusch, wenn ein neuer Automotor mit niedriger Drehzahl im zweiten Gang durchs Tor und den Kiesweg zum Haus hinauffuhr und dann auf dem Kies nach links abbog und stehenblieb, der Motor abgestellt und die Handbremse mit einem leisen, ratschenden Geräusch wie bei einem Reißverschluß angezogen wurde. Und genau dann, in der Sekunde von Stille, vor dem Ausatmen, vor dem »Wir sind da«, bevor die Haustür geöffnet wurde und Karin heraustrat, bevor die Hunde zu bellen anfingen, bevor alles wieder konkret wurde – da war dieses wohlige Gefühl.

      Marie bekam Gänsehaut, wenn sie sich nur vorstellte, wie es sich anhörte.

      Sie bogen in die lange Allee ein, in der die Kronen der Ulmen ineinanderwuchsen. Auf der Kuppe eines langgestreckten Hügels, der sich wie eine Welle in der Landschaft erhob, wie eine Welle aus Kies und Lehm, lag der Hof. Von weitem konnte man rotbraune Dachziegel und Teile der gelben Fassade durch Laubwerk und Gebüsch sehen. Auf der rechten Alleeseite weideten Bengtssons Jungkühe. Einige hoben die Köpfe und schauten dem vorbeifahrenden Auto lange nach. Auf der linken Seite war Bengtsson mit Pflügen beschäftigt. Er saß auf einem Traktor, den Oberkörper hatte er halb nach hinten gedreht, damit er sehen konnte, ob der neue sechsschärige Pflug die Schollen wendete, wie er sollte. Am Ende der Allee teilte die Straße sich in drei Wege. Links war das Pächterhäuschen. Da wohnten Bengtsson und seine Frau Signe. Rechts waren die Scheune und alle Nebengebäude, und geradeaus lag das Wohnhaus. Das gelbe, zweistöckige Haus war fast völlig von Hopfen überwachsen und von einem Garten umgeben, in dessen Mitte ein Kiesplatz mit einem Herz aus Gras und Rosen lag.

      Marie schloß die Augen, als sie an den Torpfosten vorbeifuhren. Sie lauschte andächtig auf das Geräusch.

      Wartete.

      Dann machte Anna den Motor aus und zog die Handbremse an.

      »So, wir sind da«, sagte sie mit einem Seufzer und lehnte sich im Sitz zurück.

      Dann bellten die Hunde, die Haustür ging auf, und Karin stand auf der Treppe.

      Marie machte die Augen wieder auf und lächelte Karin durch die Autoscheibe an.

      Die gleichen dicken schwarzen Haare wie Anna. Die gleichen haselnußbraunen Augen und der neugierige Blick. Die gleiche Nase und auch ein Mund, in dem die Zähne nicht in gleichmäßigen Reihen Platz gefunden hatten und sich deshalb ein bißchen hintereinander stellen mußten.

      Sie glichen sich auch im Körperbau, Anna war jedoch mit den Jahren runder geworden und Karin schlanker, seit sie wieder angefangen hatte zu reiten.

      Marie und Anna stiegen aus. Die zwei Rauhhaardackel schafften es vor Karin, die beiden Frauen zu begrüßen. Sie bellten laut, wedelten mit dem Schwanz und sprangen an ihnen hoch, als wollten sie die beiden langbeinigen Gäste umwerfen.

      »Schluß, habe ich gesagt!« schrie Karin und machte einen Schritt zur Seite, damit die zwei Dackel ihr nicht die Strümpfe zerrissen. »Sie gehorchen mir überhaupt nicht mehr, die beiden Biester«, jammerte sie, stemmte die Hände in die Hüften und starrte Roy in die Augen, was zur Folge hatte, daß er nur noch hysterischer bellte.

      Anna nahm Roy und Roger, unter jeden Arm einen, und trug sie zum Hundezwinger.

      Karin machte ein paar Schritte auf Marie zu, beugte den Oberkörper vor, legte ihre Hände auf Maries Schultern und zog sie schnell zu sich.

      »Marie! Wie schön, daß du da bist«, rief sie aus und schob Marie dann wieder von sich.

      Marie holte das Gepäck aus dem Kofferraum und trug es ins Haus. Die Treppen knarrten unter ihrem Gewicht. Durch das kleine Fenster im Zwischenstock sah sie, wie Anna den Zwinger verriegelte und sich dann zum Haus wandte.

      Marie stieg weiter die Treppe zu Annas altem Zimmer hinauf, das jetzt ein Gästezimmer mit Doppelbett und neuen Schränken war. Das Zimmer erinnerte an ein Hotelzimmer, es fehlte bloß der Fernseher und das Telefon. Es hing sogar ein Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht stören!« an der Türklinke.

      Sie hatten sich bisher nicht getraut, das Schild zu verwenden, auch wenn das Bedürfnis nach Ungestörtsein manchmal heftig war. Es wurde irgendwie stillschweigend vorausgesetzt, daß dieses Recht nur den heterosexuellen Gästen und den heterosexuellen Familienmitgliedern wie Niklas und seiner Exfrau Susanne zustand.

      Sie und Anna waren immer herzlich willkommen in der Familiengemeinschaft, solange sie ihr Liebesleben in Stockholm ließen.

      Marie


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