Sie zu lieben. Eva Lejonsommar
Berufung hätte, einen Sinn in ihrem Leben gesehen hätte. Aber nichts trieb sie voran. Sie kam sich vor wie der kleine Japaner, der bei ihr seine Reisen buchte; er reiste nicht mehr, weil er neugierig war, sondern weil es das einzige war, was noch blieb, wenn alles andere ihn mit Leere füllte.
Es fing an zu regnen, als Marie auf der Centralbron war. Erst ein paar Tropfen, die ihr nichts ausmachten, aber kurz darauf folgte ein richtiger Wolkenbruch, und sie mußte das letzte Stück laufen.
Als sie zum Reisebüro kam, ging sie naß und tropfend in die Toilette und schloß sich ein. Der Brustkorb hob und senkte sich heftig nach dem Dauerlauf. Die blonden Haare klebten am Kopf, und nasse Strähnen hingen ihr über die Schultern, als ob ihr jemand einen Mop auf den Kopf gesetzt hätte. Die Wimperntusche löste sich auf und lief ihr über die Wangen.
»Du siehst aus wie eine Hure«, tönte es aus einem dunklen Korridor in ihrem Hinterkopf.
Sie senkte den Blick, ohne zu widersprechen, und wünschte, der Tag wäre schon vorbei.
Marie hatte ihre neue Chefin erst einmal getroffen. Das war vor ungefähr einem Jahr bei einem Katalogkurs. Sie hatte Helen Källberg als sehr elegante Frau in Erinnerung, sie hatte sie gerne angeschaut und ihr gerne zugehört, aber sie hatte sich auch davor gehütet, in ihre Nähe zu kommen.
Sie wußte, daß Helen ursprünglich aus Griechenland kam, obwohl sie einen schwedischen Nachnamen hatte und akzentfrei Schwedisch sprach. Aber das Wissen um Helens Vergangenheit machte Marie nervös.
Rosmarie kam aus der Personalküche und klapperte auf Stahlabsätzen zu Maries Platz.
»Helen möchte jetzt mit dir sprechen«, sagte sie, und es gelang ihr fast, ein gemeines Grinsen zu unterdrücken.
Helen stand an der Spüle und wusch die Kanne der Kaffeemaschine mit heißem Wasser aus und versuchte gleichzeitig, einen Schrank aufzumachen, zu dem sie nicht ganz hochreichte. Sie sah aus wie eine Seiltänzerin, die zwischen zwei entgegengesetzten Bewegungen balancierte, der Schwerpunkt lag ungefähr da, wo der pepitagemusterte Rock um Hüften und Oberschenkel spannte. Marie blieb in der Tür stehen und wartete darauf, daß Helen sich umdrehte.
Sie dachte, Helen suche vermutlich den Kaffee, der in einer Dose neben der Kaffeemaschine stand, weil sie eine Schranktür nach der anderen aufmachte.
Marie ging zur Kaffeemaschine und hob die Dose hoch.
»Hier.«
Helen zuckte zusammen und drehte sich um. Sie starrte Marie an wie ein Gespenst.
»Hast du mich erschreckt!«
»Entschuldige. Ich dachte, du hättest mich kommen gehört.«
»Schleichst du dich immer so an die Leute ran?«
Die dunkelbraunen Augen waren wieder ein wachsamer Scheinwerfer und kein offenes Fenster.
»Ich wollte dich überhaupt nicht erschrecken«, antwortete Marie und setzte sich an den Küchentisch.
Helen drehte sich um und beendete, was sie angefangen hatte.
»Das Gebräu, das in der Kanne war, ist viel zu schwach für meinen Geschmack. Ich hoffe, du hast ihn nicht gemacht. Wenn doch, mußt du mich entschuldigen.«
Marie verzog den Mund. Bestimmt hatte Rosmarie den Kaffee aufgesetzt.
»Ich bin dabei, mir ein Bild zu machen – nimmst du Zucker in den Kaffee? –, wer in der Region arbeitet«, sagte Helen und setzte sich, um gleich wieder aufzustehen.
»Nein, ich nehme Milch, aber ich kann sie selbst holen.«
Marie mußte um den Tisch herumgehen, um zum Kühlschrank zu gelangen. Sie dachte, ich muß mich an Helens Stuhl vorbeiquetschen, ohne sie zu berühren. Das gelang ihr auch, aber als sie die Kühlschranktür aufgemacht hatte, wußte sie nicht mehr, was sie da wollte. Sie sah nur ein einziges Durcheinander von Bechern und Verpackungen, auf die mit schwarzem Filzstift Namen geschrieben waren, braune Bananen und halbaufgegessene Brote.
Auf dem Rückweg zu ihrem Platz stieß sie dann doch an Helens Stuhl, so daß die Handtasche mit einem lauten Klirren von Schlüsseln und Schminkutensilien zu Boden fiel.
»Hier steht, du arbeitest seit sieben Jahren für uns und hast davor in Griechenland und Deutschland in der Tourismus- und Dienstleistungsbranche gearbeitet. Stimmt das?«
»Ja.«
»Mil’te ellenika?«
»Nein, lieber nicht.«
Helen beugte sich vor, die Lippen glitten über weißen Zähnen auseinander, und ein dunkler Schatten zeigte sich auf der Oberlippe. Sie glich einem Rennhund, der gerade richtig in Fahrt gekommen war.
»Warum nicht? Nach dem, was ich gehört habe, sprichst du richtig gut Griechisch.«
Marie errötete. Helen kam ihr mit ihren Fragen plötzlich viel zu nah. Es stimmte, daß sie fließend Griechisch sprach, aber zur Zeit nie in nüchternem Zustand.
»Das ist eine lange Geschichte, die heben wir uns für ein anderes Mal auf«, antwortete sie und spürte, daß sie schon zu viel gesagt hatte.
Als Marie aus dem Aufzug stieg, roch es noch intensiver nach frischgebackenem Kuchen als auf dem Weg nach oben. Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und machte die Wohnungstür auf.
»Hast du heute abend keine Vorlesung?« rief sie in die Küche.
»Ich habe geschwänzt«, sagte Anna und schob ein Blech mit Zimtschnecken in den Ofen.
»Wenn das deine Schüler wüßten.«
»Niemand würde es besser verstehen als sie.«
Marie hängte ihren Mantel auf und stellte sich in die Tür.
»Du scheinst nicht sehr erfreut zu sein, mich zu sehen«, sagte Anna.
»Ich bin müde.«
Marie hob das Handtuch hoch und schaute die frischgebackenen Zimtschnecken an.
»Darf ich eine nehmen?«
»Natürlich darfst du eine nehmen. Aber ich habe gerade Kaffee aufgesetzt. Wenn du so lange warten kannst.«
Marie nahm Tassen und Teller mit ins Wohnzimmer und legte sich dann aufs Sofa. Sie war müde, aber sie hatte auch nicht erwartet, daß Anna zu Hause sein würde. Sie schloß die Augen, und sofort traten Bilder von Helen hervor. Sie hatte winzige Kleinigkeiten bemerkt, die sie jedoch nicht richtig hatte studieren können. Einen goldenen Anhänger um den Hals, wie eine Orchidee geformt und mit gefaßten Steinen, die in der Spalte zwischen den Brüsten glitzerten. Ein Muttermal am Hals, eine Locke, die ihr immer wieder in die Stirn fiel. Ihre Art, immer zwei Dinge gleichzeitig zu machen, und ihr Eifer, als sie schließlich doch über Griechenland redeten. Ihr Lachen und die Wärme ihres Handschlags, als sie sich trennten.
»Du siehst völlig fertig aus«, sagte Anna, als sie mit dem Kaffee hereinkam. »Du hast doch deine neue Chefin getroffen. Wie ist es gelaufen?«
Marie setzte sich mit einem Gähnen auf.
»Ich weiß nicht«, sagte sie und gähnte noch einmal. »Sie hat mich gefragt, wie mir die Arbeit gefällt und ob das der Job ist, den ich am liebsten mache.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Ja, was soll man darauf sagen? Ich habe Angst, rausgeworfen zu werden. Ich kann wohl kaum sagen, daß ich es verabscheue hinzugehen. Ich weiß ja auch nicht, was ich statt dessen machen sollte.«
»Das weißt du sehr wohl«, sagte Anna leise.
»Hör jetzt bitte auf damit«, sagte Marie und nahm sich eine Zimtschnecke.
»Ich habe überhaupt nichts gesagt.«
»Nein, aber ich weiß, was du sagen willst, und ich habe keine Lust, darüber zu diskutieren.«
»Du könntest ein Studium anfangen.«
»Meinst du, ich sollte