Luisa - Zwischen Puppen und Bomben. Käthi Schneider
ich hier zu Beginn meiner Kindheitsgeschichte erzähle, erfuhr ich mit zwölf Jahren. Ich war eingeladen in dem Dorf meiner jüngsten Kindertage. Tante Fischer, eine Nachbarin meiner Großeltern, erzählte mir von meiner Mutter, meinen Geschwistern, wie wir damals in den Kriegsjahren lebten. Ich schrieb mir vieles auf von unserer Familie. Besonders die Gespräche, die Tante Fischer mit mir führte, rührten mich sehr. Sie ließ mich schreiben: „Für später!“, sagte sie und lächelte.
Wie recht sie hatte! Denn nun will ich beginnen, für meine Familie und vielleicht auch für meine Freunde zu erzählen. Die Notizen, die ich damals machte, lagen gut behütet in meinem Poesiealbum. Was mir beim Schreiben half, war, dass Tante Fischer damals mit großer Vorsicht meine Fragen beantwortet hat. Ich hatte meine Feder gespitzt – die Worte purzelten fast von allein aufs Papier.
Mein grosses Glück, meine Freude und Dankbarkeit ist es, das ich vor vierundzwanzig Jahren zu schreiben beginnen konnte. Es sind unzählige Geschichten und Gedichte entstanden. Sie erzählen auch von meiner Kindheit wie ich aufwuchs, in meiner neuen Heimat ...
Beginnen will ich mit einem Gedicht.
*
Wünsche
Ich möchte zu den Sternen fliegen
mich auf der silbernen Mondsichel wiegen
durch fremde Galaxien reisen
die Unendlichkeit des Weltalls preisen
Möchte auf die höchsten Berge steigen
mit einem Drachen über ihre Gipfel gleiten
möchte dem Gesang der Vögel lauschen
mit nackten Füßen durch Wiesen laufen
Mit Freude dem Klappern der Störche zuhören
lass mich vom Ruf des Kuckucks betören
will mich spielend hinter Bäumen verstecken
versuche mein wahres Ich zu entdecken
Mein Name ist Luisa, sieben Jahre
*
Kinderzeit
Wir lebten in einem Dorf an der Aar. Meine Eltern mit uns drei Geschwistern. Mein Vater war nicht mein leiblicher Vater, trotz allem trug ich seinen Namen. Ich war die Älteste, neben meiner Schwester Sieglinde und meinem Bruder Hans-Robert.
Von meinem leiblichen Vater bekam Mutter den Bescheid von der Wehrmacht, dass er gefallen sei. Genaueres wurde der Verlobten nicht mitgeteilt. Als er eingezogen wurde, hatten sie sich verlobt, wollten bei seinem ersten Urlaub heiraten. Meine Mutter war mit mir schwanger. Die Nachricht traf sie wie ein Blitz. Ihre kleine glückliche Welt brach zusammen. Was sollte nun werden, fragte sie sich verzweifelt.
Ein junger Mann aus dem Dorf, der sie, wenn sie sich begegneten, nicht aus den Augen ließ, hatte ihr Unglück wohl schnell erfahren. Er hielt bei Opa um ihre Hand an. Opa kannte ihn als Kunden in seinem Friseursalon. Er stimmte zu und bat Mama, ihn zu heiraten, bevor ich geboren wurde. Er war Beamter bei der Bahn, verdiente gut, würde mich adoptieren, versprach er Mutter. Als sie ihn näher kennenlernte, war sie einverstanden. Die beiden heirateten.
Das Leben für Mutter sei nun gesichert, dachte mein Großvater. Leider war das Glück nur von kurzer Dauer.
War der Kindergarten nachmittags zu Ende, wurde ich zu meinen Großeltern gebracht. Da Opa noch Kundschaft in einem Friseurladen hatte, Oma oft krank war, nahm ihre jüngere Nachbarin Johanna Fischer ihr dieses temperamentvolle Mädchen ab. Mit mir kam Mathilde, wir beide waren unzertrennlich.
Tante Fischer war gut vorbereitet, hatte den Spielekasten, weißes Papier und Buntstifte bereit. Mathilde konnte damals schon gut malen. Ich sah ihr zu und war mir sicher, dass wir, wenn das Bild fertig war, die Blumen pflücken könnten. Tante Fischer las uns Geschichten vor, sie konnte wunderbar Märchen erzählen. Von ihr lernten wir so viel. Opa brachte uns dann gegen Abend zu unseren Eltern.
Tante Hanna Fischer war nicht mit uns verwandt, nicht unsere wirkliche Tante. In der damaligen Zeit durften wir Kinder zu allen erwachsenen Frauen Tante sagen, das war eben so. Wir wussten, jede von ihnen würde uns beschützen. Denn was wir erlebten, traumatisierte uns alle, auch die Erwachsenen. Ständig und ohne Vorwarnung mussten wir in den Luftschutzkeller laufen, ob bei Tag oder Nacht. Manchmal waren Keller alle überfüllt. Das war die größte Angst meiner Mutter, mit drei kleinen Kindern, meist in der Dunkelheit, einen sicheren Platz zu finden. Die Bomben fallen zu sehen und zu hören. Das kann ich nicht schildern, das muss man erleben, um von diesem Elend zu erfahren. Von den Feuerpilzen, dem pfeifenden Geräusch der herabfallenden Bomben, die die Häuser einstürzen ließen, den Schreien der Sterbenden, den Verletzten oder den Verschütteten.
War der Angriff vorbei, sammelten sich die wenigen Männer, die nicht zum Wehrdienst eingezogen worden waren – Männer mit einer vererbten Erkrankung oder Verunglückte, sie wurden ausgemustert. Das hörte ich Vater zu meinem Onkel sagen. Sie beide gehörten nicht dazu. Sie waren Beamte bei der Reichsbahn. Züge fuhren, wenn auch wenige private, Herr H., dessen Namen ich nicht ausspreche, brauchte für die Transporte der vielen Menschen auch sehr viel viele Züge. Das erfuhr ich aber erst als Sechzehnjährige. Damals gruben und gruben sie, diese Handvoll Männer, wenn nach einem Angriff alles in Scherben, nein in Trümmern lag, suchten und fanden die Toten und Verletzten, andere mit Brandwunden. Wir hörten ihre Schreie, so etwas vergisst man nie.
Was mir die allergrößte Angst machte, war das Geräusch der Flak, wenn unsere Soldaten versuchten, die angreifenden Flugzeuge abzuschießen. Erst viel später wusste ich, wie selbstverständlich die Frauen und Mütter ein dichtes Netz an Hilfe und Fürsorge für uns Kinder ins Leben gerufen hatten, damit wir nicht alleine waren, einen Angriff alleine erlebten, allzu große Ängste abfingen. Zurück zu der Aar. Die Aar ist ein kleiner Fluss, der bei Taunusstein entspringt und bei Diez in die Lahn mündet, heute im Bundesland Rheinland-Pfalz.
Die stattlichen Häuser und Bauernhöfe in meinem Heimatdorf wurden um einen Bergkegel herum erbaut. Die gepflasterte Hauptstraße führte im Halbrund um diesen Berg und teilte – und teilt natürlich auch heute – das Dorf in Ober- und Unterdorf. Hinter den Gärten fließt die Aar vorbei. Städte und Dörfer, die an einer Bahnlinie lagen, waren ein beliebtes und schnell gefundenes Ziel der feindlichen Geschwader, ihre tödliche Fracht freizugeben, unser Land zu zerstören.
Wir lebten im Unterdorf, in einem kleinen Fachwerkhaus. Im Parterre gab es ein großes Zimmer, das Mutter in eine Küche und ein winziges Wohnzimmer verwandelt hatte. Und eine kleine Kammer, in der die Magd unseres Vermieters schlief. Wie Mutter uns oben in ihrem Schlafzimmer und der kleinen Kammer schlafen ließ, darin erinnere ich mich nicht genau.
Eines Nachts wachte ich auf, als etwas Helles mir in die Augen schien. Ich war sofort hellwach. „Mama!“, rief ich. Sie war nicht da. Doch ich lag in ihrem Bett, sah mich erschreckt um. Ja, das war Mamas Bett. Das Holz war braun, mit dicken Holzkugeln oben auf beiden Seiten, wo mein Kissen lag. Der helle Schein tat mir weh. Ich legte schnell meine Hände über die Augen, sah durch die Finger hindurch. Nun war es besser. Verschlafen saß ich neben unserem Schlafzimmerfenster. Es war verdunkelt. Mama hatte eine Wolldecke davor gehängt, die Decke war verrutscht.
„Hell erleuchte Fenster verraten uns“, sagte Mama. So könnten wir das Ziel der vielen Bomben werden, die nachts über unserem Land abgeworfen wurden. Deshalb musste ganz Deutschland alle Fenster sorgfältig verdunkeln. Ich war so verschlafen, begriff nun aber, was mich aufgeweckt hatte: Die Suchscheinwerfer hatten mich getroffen, durch die Lücke und an der Wolldecke vorbei. Müde legte ich mich wieder hin und hoffte, dass Mama bald käme. Ich muss noch klein gewesen sein, vielleicht vier Jahre alt.
Ich erinnere mich auch an meinen Puppenwagen, er war beige, wie ein Korb geflochten, mit großen Rädern, die laut ratterten, wenn ich mit ihm durch den Hof sauste. Meine Schwester, zwölf Monate alt, rutschte die Treppe