Luisa - Zwischen Puppen und Bomben. Käthi Schneider
zu ihrer Wohnung. Sie öffnete die Tür zur Küche, als plötzlich eine Sirene heulte. „Kind, wir müssen in den Luftschutzkeller, hier, trink schnell!“ Sie reichte mir einen kleinen Becher. Der Kakao war kalt, schmeckte sehr gut. Ich hatte großen Durst, trank den Becher in einem Zug aus.
„Danke, Tante Erna.“ Die Sirene war so laut, ich hielt mir die Ohren zu und folgte ihr.
Ein fürchterlicher Krach, ein Rums. Eine heftige Druckwelle riss uns von den Füßen. Wir stürzten vom zweiten Stock durch das ganze Treppenhaus.
„Halt dich fest!“, schrie Tante Erna. Sie versuchte, mich aufzufangen, packte meinen rechten Arm. Wir fielen gemeinsam, landeten im Hausflur auf Steinfliesen. Es dröhnte, das große Haus wackelte bis in die Grundmauern. In der Gaststube hörte ich Stühle von den Tischen fallen. Mein Arm, den meine Tante fest umklammert hielt, tat mir weh. Ich lag halb auf ihr, sah, dass sie die Augen geschlossen hatte, als würde sie schlafen.
„Tante Erna“, flüsterte ich. „Wach auf, bitte wach auf!“ Ich bekam große Angst, zitterte, weinend rief ich wieder und wieder ihren Namen – sie reagierte nicht. Vorsichtig rutschte ich von ihr herunter, stand auf, lief zur Haustür.
Gerade als ich sie öffnete, kam Onkel Louis, der Dorfpolizist, die Treppe herauf. „Kleines“, sagte er zu mir.
Ich hatte große Angst vor ihm. Er war klein und dick, hatte rote Haare. An diesem Tag hatte er wieder die große grüne Kappe mit einem Schirm auf dem Kopf. Wenn er sie trug, war meine Angst noch größer. Ich wich zurück.
„Was machst du denn hier?“, fragte er mich. Ich konnte nichts sagen, lief zurück zur Tante, klammerte mich an sie. Endlich öffnete sie die Augen, richtete sich auf, sah Onkel Louis in der Tür stehen. Der Polizist kam herein, berührte ihre Hand.
„Erna, kannst du aufstehen?“ Er beugte sich zu ihr. Seine starken Arme hoben meine Tante hoch, stellten sie auf die Füße. Sie zeigte auf mich. „Luisa!“, rief sie und weinte.
Ich umarmte sie. So standen wir eine Weile, bis der Polizist uns vor das Haus bat. Auf der Straße wimmelte es von erschreckten Menschen, sie waren zusammengelaufen. Aus dem Unterdorf stieg eine Rauchwolke auf, Flammen loderten hoch in den Himmel, die Luft flimmerte vor Hitze.
„Du musst nach Hause, deine Mama wird sich Sorgen machen“, sagte meine Tante aufgeregt.
Onkel Louis hieß in Wirklichkeit Ludwig. Alle Kinder fürchteten sich vor ihm, besonders vor seinem roten Schnurrbart, der beim Sprechen immer auf und ab hüpfte. Er bot sich an, mich zu meiner Mutter zu bringen. „Schlimm, nicht wahr Erna“, sagte er, und zeigte auf das fassungslose Chaos vor uns. „Bei Bauer Kessler soll die Bombe eingeschlagen sein. Ich weiß noch nichts Genaueres. Das Kind wohnt doch ganz in der Nähe.“
„Oh mein Gott!“, stieß die Tante hervor. „Ich komme mit!“, sagte sie, nahm mich bei der Hand und wir rannten los.
Doch es gab kein Durchkommen. Überall liefen die Menschen in großer Aufregung durch die Straßen. Sie standen dicht gedrängt an den Straßenecken und behinderten so auch die Leute, die Hilfe leisteten. Oder, wie in unserem Falle, Menschen, die dort wohnten, nicht an ihr Haus zu kommen. Mit einem großen Umweg gelangten wir schließlich in unsere Straße.
Eine Menschenmenge wogte auf und ab. Es wurde geschoben, gedrückt, alles rief und schrie durcheinander, die Luft war heiß, roch nach Schwefel. Wir waren ratlos, wie wir meine Mutter finden sollten.
Dort, aus einem Fenster – oder besser gesagt – aus einem Fensterrahmen rief ein Mann, ungefähr sieben Häuser von dem unseren entfernt. Onkel Ludwig als Respektsperson machte den Weg durch das Gewühl frei. Meine Mutter saß bei den Nachbarn in der Küche, umringt von der ganzen Familie. Sie war nicht mehr wiederzuerkennen. Ihre Kleider waren zerrissen, die Haare hingen aufgelöst herunter. Über und über mit Staub bedeckt, saß sie zitternd auf einem Stuhl und hielt meine kleine Schwester fest umklammert auf ihrem Schoß. Ihr Blick war ausdruckslos und die Tränen, die über ihr Gesicht liefen, hinterließen braune Spuren, vermischten sich mit dem Staub. Auf dem Küchentisch lag mein Brüderchen, er war noch ein Baby, schreiend auf einer Wolldecke. Ein Sanitäter beugte sich über ihn. Das Gesicht meines Bruders war mit Blut verschmiert. Glassplitter von unseren Küchenfenstern waren auf ihn gefallen, er hatte im ganzen Gesicht Schnittwunden.
Die alte Bäuerin zog meine Tante zu sich heran. „Erna“, sagte sie leise. Dem Sanitäter konnte Hans-Robert nicht genug danken, seine Augen ließ Mama nach dem Krieg untersuchen. Der Augenarzt fand nur geringe Narben auf der Netzhaut, im Gesicht blieben keine hässlichen Narben zurück. Sanitäter hatten meine Mutter mit meinen Geschwistern aus den Trümmern unseres Hauses gerettet. Sie saß in einer Ecke in der Küche auf dem Fußboden, ihre Kinder fest im Arm, wimmerte, brachte kein lautes Wort heraus. Mein kleiner Bruder hatte so jämmerlich geschrien, dass die Rettungskräfte in unser Haus stürzten. Der Kleine hat ihnen das Leben gerettet – der Dachstuhl stand schon in Flammen. Das Haus wurde bei diesem Angriff stark beschädigt. Doch irgendwie kam Hilfe, denn wir wohnten weiterhin darin, denke ich. Jede Erinnerung daran fehlt mir. Wer es wiederaufgebaut hat und wann, auch wo wir in dieser Zeit lebten, daran kann ich mich nicht erinnern.
Dagegen kann ich mich noch gut an die vielen Fliegerangriffe erinnern, wenn die Sirene heulte. Wenn sie endlich verstummte, lag ein unheimliches Summen in der Luft.
Wir konnten nie wissen, wann die feindlichen Flugzeuge angriffen, sie konnten jede Minute kommen, am Tag oder in der Nacht. Dann mussten wir raus, denn unser kleines Haus bot uns keine Sicherheit. Wurde ich in der Nacht durch die Sirene aufgeweckt, sah ich durch die geschlossenen Gardinen die Suchscheinwerfer über den Himmel geistern. Dies war für mich das normale Leben, ich kannte es nicht anders. Wir zogen uns dann, so schnell wir konnten, an. Meine Mutter trug meinen kleinen Bruder auf dem Arm, meine drei Jahre alte Schwester lief neben ihr, ihre Hand fest umklammert.
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Scheinwerfer und Sirenen
Eine Nacht im Krieg. Mama schaute in die Teekanne, goss die Tassen noch einmal voll und ging in die Küche, um neuen Tee zu aufzubrühen, das Wasser hatte gerade gekocht. Onkel Siegfried rückte die Rumflasche in die Mitte des Tisches. Ein kleiner Rest war noch darin, den Rum hatten sich die Männer in Wochen und Monaten sorgsam eingeteilt, ab und zu einen kleinen Schuss in den Tee getan. Draußen heulte die Sirene.
Mein Onkel Siegfried schaute durch einen Ritz der Verdunklung. „Sie kommen“, sagte er.
Ich saß neben Papa. Mama kam wieder in die gute Stube. Sie trug die dickbauchige weiße, mit vielen bunten Punkten verzierte Teekanne vorsichtig mit dem heißen, frisch aufgebrühten Tee herein und stellte sie auf den Tisch.
„Alarm! Wir müssen ...!“
„Nimmst du den Tee mit? Wer weiß, wie lange das wieder dauert heute Nacht“, sagte Papa zu ihr.
Mama goss den dampfenden Tee in die Thermoskanne und verstaute diese in dem Korb, der mit Essen immer bereitstand. Wir tranken unsere Becher aus, nahmen sie beim Henkel. Papa löschte das Licht. Es wurde stockfinster. Durch die Ritzen der Verdunklung fielen dünne Lichtstreifen vom Vollmond auf die dunkelrot gebohnerten Holzdielen.
„Immer müssen sie abends kommen, die verfluchten Bomber!“, sagte Onkel Siegfried wütend.
Mama trug den Korb, mich nahm sie bei der Hand. Papa trug meinen kleinen Bruder auf dem Arm, Onkel Siegfried meine Schwester, die gerade zwei Jahre alt war.
Wir gingen eilig durch unseren Hof, liefen über die schmale Straße, betraten den Hof von Bauer Kessler. Über den Himmel schossen die Suchscheinwerfer, die Luft dröhnte vom Sirenengeheul. Ich hatte nicht mehr so viel Angst, wir erlebten das nun schon lange, es war unser Alltag. Meine Eltern waren bei mir, ich war mir ganz sicher, dass mir nichts passieren konnte. Ich trug den kleinen braunen Koffer, in dem unsere wichtigen