Luisa - Zwischen Puppen und Bomben. Käthi Schneider
mich sicher an die Treppe, die in den Felsenkeller führte. Wir blieben oben stehen, bis Papa und Onkel Siegfried mit den Kindern unten waren. Am Tag war Mama oft mit uns Kindern alleine, dann stieg ich zuerst hinunter.
„Jetzt kannst du gehen“, sagte Mama zu mir.
Als ich den Fuß auf die erste Stufe setzte, gab es einen Donnerschlag. Ich flog, flog tief hinunter. Mama schrie! Papa war da, hob mich auf, seine Tränen fielen mir ins Gesicht. Den Koffer hatte ich fest in der Hand, im Arm meine Bertha. Er trug mich in den Keller hinein. Kerzen brannten, die Nachbarn waren alle da.
„Im Oberdorf ist eine Bombe gefallen, es brennt, der Feuerschein ist deutlich zu sehen.“ Der Bauer kam als Letzter die Treppe herunter.
„Das Kind hatte einen Schutzengel“, sagte die alte Bäuerin Kessler. Außer Schürfwunden und blauen Flecken hatte ich nichts abbekommen.
Später ...
Ein Schmerz fuhr durch meinen Körper, ich schrie! Es war, als würde mich jemand mit einem Messer aufschneiden. Ich schrie, strampelte, wurde fest auf das Bett gedrückt. Die roten Nebelschleier wurden immer schneller, sie erfassten mich, mir wurde übel und schwindelig. Der Raum war fast dunkel, nur ein Lichtschein hüpfte hin und her, über meine Bettdecke, das braune Bett, über die dicken, gedrehten Bettpfosten, oben, rechts und links. In diesem Lichtkegel sah ich meine Mutter. Neben ihr beugte sich ein Mann, ein fremder Mann, über mich. Als er sich aufrichtete, erkannte ich ihn. Es war unser Doktor. Er hob die Hände bis zu seiner Brust. Ich sah Blut daran. Schnell schaute ich zur Wand.
Wieder der kreisende Schmerz. Ich schrie: „Mama!“
„Schon gut mein Mädchen“, sagte Mutter und streichelte mich. Der Arzt hatte mir ohne jede Betäubung das eiternde Knie aufgeschnitten. Es gab keine Betäubungsmittel für die Bevölkerung. Sie wurden an der Front für unsere verwundeten Soldaten gebraucht.
Ich habe es überlebt. Nur eine hässliche Narbe erinnert mich an dieses schmerzhafte Erlebnis.
*
Erste Schritte
Wir wurden eingeschult, meine Freundin war sieben, ich sechs Jahre alt. Wir freuten uns, dass wir Jahre zusammenblieben, gingen in die gleiche Klasse. Nachmittags machten wir unsere Schularbeiten zusammen, wir waren ein unzertrennliches Duo.
Unsere Schule war ein großes stattliches Gebäude mit einem breiten Treppenaufgang. Von der Straße aus betraten wir den Schulhof, mussten ihn überqueren, das Schulgebäude lag weiter zurück, umgeben von Bäumen. Wie mein erster Schulranzen aussah, weiß ich noch genau. Aus einer riesengroßen braunen Papiertüte zog meine Mutter ihn heraus. Ich nahm ihn fest in meine Arme, konnte ihn kaum umfassen. Aus beigem Bast, innen aus Karton, die Vorderseite mit einem Rosenmuster und grünen Blätterranken. Einen Tag, bevor die Schule begann, legte Mama ihn auf den Küchentisch.
Mein Herz klopfte schnell, als sie ihn öffnete. Ich hatte noch nie so viele schöne Dinge gesehen.
„Das ist alles für mich?“, fragte ich außer Atem. Eine Schiefertafel, der Schiefer schwarz, der Rahmen aus hellem Holz. An der einen Seite, durch ein Loch gezogen, hing eine weiße Schnur, daran ein weißer, gehäkelter Lappen, um die Tafel zu trocknen. Dazu gab es ein Schwammdöschen mit einem roten Schwamm, den ich jeden Tag auswaschen konnte.
Ein Griffelkasten aus hellem Holz mit weißen Edelweißblüten. Darin lagen zwei Griffel, mit regenbogenbuntem Papier umwickelt, die Mama jeden Tag anspitzte. Mein Herz klopfte laut, in diesem Augenblick wusste ich, da war etwas, das jetzt begann.
Am nächsten Morgen gingen wir zur Schule. Oma hatte meine kleine Schwester Sieglinde an der Hand und Mama meinen Bruder Hans Robert auf dem Arm. Wir betraten den großen Schulhof.
„Geh mal dort unter den großen Baum!“, sagte Mutter. Sie kam auf mich zu, öffnete die braune Papiertasche und zog, ich konnte es nicht glauben, eine große, dicke, braun gebackene Brezel heraus und drückte sie mir lachend in die Arme.
Nun stand ich dort, die Brezel war so groß, sie reichte mir vom Kinn bis unten auf die Füße. Mama fotografierte mich. Eine Glocke läutete, ich gab Mama die Brezel zurück und stieg mit meiner Freundin und vielen anderen Kindern eine hohe Treppe ins Schulgebäude hinauf. Wir waren so viele Kinder, mussten in drei oder vier Klassen verteilt werden. Ich war aufgeregt und konnte es kaum erwarten, all die wunderbaren Dinge aus dem Ranzen auszupacken.
Genau in diesem Augenblick begann für mich die spannende, nie endende Bekanntschaft mit den sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets. Eine schillernde Welt begann zu leben. Ich war neugierig, eifrig, schnell, viel zu lernen. Jeden Tag übte ich, wischte immer wieder meine Tafel blank und schrieb, bald konnte ich mein Lesebuch, das ich abends mit ins Bett nahm, von Anfang bis zum Ende lesen. Die Schule war für mich etwas ganz Besonderes.
*
Meine Mutter
Mädchen sechs Jahre
geborgen an Mutters Hand
der Krieg vorbei
wir hatten überlebt
Das Erlebnis, das mein Leben für immer veränderte, ist so tief in mir verwurzelt, dass ich es niemals vergessen habe.
Als ich am Morgen des 21. September im Jahre 1945 aufwachte, war es ungewöhnlich still im Haus. Ich horchte, nichts war zu hören. Verschlafen kletterte ich aus dem Bett, zog meine Pantoffel an, öffnete die Schlafzimmertür und trat auf den Flur.
Links an der Wand lag ein weißes Stoffbündel, ein zusammengerolltes Betttuch. Ich ging weiter, lief die Treppe hinunter und von dort in die Küche. Papa saß am Küchentisch. Seine Kaffeetasse stand vor ihm. Er war dabei, Brote zu bestreichen. Für mich das Pausenbrot und in eine Dose legte er seine Brote, die er mit zum Dienst nahm. Papa arbeitete bei der Bahn.
„Guten Morgen Papa“, sagte ich verschlafen. „Wo ist Mama?“
Er hörte nicht auf, die Brote zu bestreichen, wickelte sie in Butterbrotpapier und sagte, immer den Blick auf seine Hände gerichtet. „Setz dich, Kleines“, sagte er und schob mir einen Stuhl an den Tisch. Er strich mir über das Haar und räusperte sich. Vor unseren beiden Fenstern, der Tisch stand genau zwischen ihnen, brannte noch die Straßenlaterne, es war früh.
„Also mit Mama, das ist so. Sie ist heute Nacht ins Krankenhaus gekommen.“
Ich bekam Angst und begann zu weinen.
„Liebes, sie ist sehr krank“, hörte ich seine Stimme durch mein Schluchzen und Schniefen. „Du hast so fest geschlafen, sie wollte dich nicht aufwecken. Tante Erna war hier und hat deine Schwester und deinen Bruder mit zu sich nach Hause genommen.“ Zusammengekauert saß ich auf meinem Platz, sah immer in das Licht der Laterne, so als könnte es mir Mama wieder zurückbringen. „Du musst ja zur Schule und ich zur Arbeit“, sprach Papa weiter. Er nahm mich auf seine Knie, wischte mir die Tränen fort. „Wenn du aus der Schule kommst, fahren wir beide ins Krankenhaus und besuchen deine Mama“, versprach er mir.
An Papas Hand betrat ich am Nachmittag das Krankenzimmer. Das Zimmer war ein großer Saal mit vielen Betten. Rechts an der Wand standen die Betten hintereinander. Im obersten Bett am Fenster lag Mutter. Ich riss mich von Vaters Hand los und lief weinend zu ihr. Sie sprach nicht mit mir, sie streichelte mein Haar. Mutters Gesicht war weiß, ihre Hand kalt.
Das war unsere letzte Begegnung. Ich weiß, dass meine Mutter noch vier Wochen lebte, doch an einen weiteren Besuch bei ihr habe ich keine Erinnerung.
In dem Bündel im Flur, das ich für ein Betttuch gehalten hatte, war mein kleiner Bruder eingewickelt, der in der Nacht geborenen worden war. Er hat nur zwei Stunden gelebt.
Meine Mutter starb am 31. Oktober 1945 an einer Sepsis, gerade erst 26 Jahre alt. Bei ihrer Beerdigung gab es viele Tränen. Ich, gerade sieben Jahre alt, stand stolz an