Anselmo - ein Kindersoldat in Mosambik. Mecka Lind
Dunkelheit schleichen sie sich bis ganz nahe an die Hütte, um heimlich zu lauschen.
Der Streit dreht sich natürlich um den Preis für das Bier. Da Fernandos Kunden normalerweise kein Geld haben, lässt er sie ihre Schulden auf seinen Machambas abarbeiten. Er besitzt mehrere Machambas, und einige gehören ihm nur deshalb, weil die Männer sie vertrunken haben. Im Moment sieht es besonders schlecht aus für den alten Ernesto. Die anderen haben Mitleid mit ihm.
»Wenn er seine einzige Machamba verliert, dann wird er nichts zu essen haben«, sagt einer von ihnen.
Aber Fernando ist unerbittlich und sagt, er habe Ernesto unzählige Male gewarnt. Und wenn jemand im Dorf zählen kann, dann ist es Fernando. Aber ebenso viele Male hat Ernesto ihn überredet, ihm noch eine Flasche Bier zu geben.
»Armer Ernesto«, flüstert Paolo. »Heute Abend scheint es richtig schlimm um ihn zu stehen.«
Da sieht Anselmo zwei Flaschen, die an der Palme direkt neben ihnen lehnen. Er stößt Paolo in die Seite und zeigt darauf.
»Wenn Fernando sein Bier so herumstehen lässt, ist er selber betrunken«, sagt er. »Man kann es ja einfach mitnehmen.«
»Dann nehmen wir es«, schlägt Paolo vor. »Wenn er dem alten Ernesto seine Machamba wegnimmt, dann nehmen wir ihm sein Bier weg.«
Anselmo ist einverstanden. Ernesto wird dieses Bier morgen früh dringend brauchen, wenn er aufwacht und feststellen wird, dass er seine einzige Machamba verloren hat. Dann braucht er ganz bestimmt etwas, um seine Sorgen zu ertränken.
Es dauert nur Sekunden und dann sind die beiden Flaschen und die Jungen weit weg. Sie laufen in den Busch, um sie zu verstecken.
»Dort . . . unter den Büschen da vorne . . . da verstecken wir sie«, sagt Anselmo.
Der Mond scheint nicht, aber die Jungen sind es gewohnt, sich im Dunkel unter den Sternen zurechtzufinden.
Während sie die Flaschen verstecken, fragt Paolo: »Hast du schon einmal Bier getrunken?«
Anselmo schüttelt den Kopf.
»Du?«
»Ein-, zweimal«, sagt Paolo. »Ich finde, es schmeckt ganz gut.« Seine Augen glänzen.
»Sollen wir einen Schluck trinken? Schließlich bist du zehn, und da musst du es wenigstens versucht haben.« Er sieht, dass Anselmo zögert.
»Es wird auch noch für Ernesto reichen«, sagt Paolo und holt die eine Flasche. Er zieht den Korken heraus, trinkt einen Schluck und reicht Anselmo die Flasche.
Paolo hat Recht, denkt Anselmo. Wenn man zehn ist, muss man es wenigstens versucht haben.
Er setzt die Flasche an den Mund und trinkt einen ordentlichen Schluck. Es schmeckt überhaupt nicht gut. Es schmeckt eklig. Aber laut sagt er: »Nicht übel.«
»Fernando ist zwar böse und gemein, aber er braut ein gutes Bier«, sagt Paolo und nimmt noch einen Schluck, bevor er die Flasche wieder Anselmo zurückgibt, der findet, dass es immer besser schmeckt, je mehr man davon trinkt. Außerdem genießt er diese merkwürdige, wohlige Wärme, die sich in seinem Körper ausbreitet.
Ich bin zehn Jahre alt, denkt er glücklich. Ich habe versprochen, mich um die Familie zu kümmern, und das werde ich tun, da kann Mama lachen, so viel sie will.
Er muss pinkeln und steht auf. Verblüfft und nicht wenig überrascht, merkt er, wie der ganze Busch sich um ihn dreht. Er schließt die Augen und öffnet sie wieder, aber das hilft nicht.
»Ich glaube, ich bin betrunken«, stellt er sachlich fest.
»Ich auch«, sagt Paolo lachend.
»Mutter wird böse werden«, sagt er. »Sehr böse.«
»Sie ist eine Frau«, sagt Paolo. »Frauen mögen es nicht, wenn Männer trinken. Meine Mutter mag es auch nicht.« »Sie werden bestimmt miteinander sprechen, und dann werden sie noch ärgerlicher sein«, sagt Anselmo seufzend.
»Wir schlafen heute Nacht hier«, schlägt Paolo vor. »Morgen sind wir wieder nüchtern, dann denken wir uns eine gute Ausrede aus und gehen wieder nach Hause.«
»Dann können sie nicht böse werden«, sagt Anselmo.
»Wenn sie bloß wüssten, wie rücksichtsvoll wir sind«, fährt Paolo fort. »Wir sind wirklich gute Söhne, wir wollen den Schlaf unserer Mütter nicht stören.«
»Ja, sie können wirklich froh sein, dass sie uns so nicht zu sehen brauchen«, fügt Anselmo hinzu.
»Mein Vater wäre sehr stolz auf mich«, sagt Paolo.
»Meiner auch«, sagt Anselmo.
Sie denken an ihre Väter und vermissen sie. Sie sind plötzlich sehr ernst.
»Ich ziehe vielleicht auch in den Krieg«, verkündet Paolo.
»Ich auch«, schließt Anselmo sich an.
Tief ergriffen von ihren großartigen Überlegungen, holen sie die zweite Flasche hervor.
»Ich glaube, es ist wirklich nicht gut für den alten Ernesto, so viel zu trinken«, sagt Anselmo.
»Nein«, pflichtet Paolo ihm bei. »Er ist selber schuld.«
5
Die Sonne weckt sie auf. Als Anselmo den Kopf bewegt, explodiert er fast vor Schmerz. Er hat das Gefühl, als ob sein Magen sich nicht entscheiden könnte, in welchen Teil des Körpers er gehört, falls er überhaupt da hingehören will. Paolo scheint es nicht viel besser zu gehen.
»Meine Mutter kann sagen, was sie will«, stöhnt Anselmo. »Ich gehe jetzt nach Hause.«
Paolo brummt zustimmend.
Sie kämpfen sich den Pfad entlang, der zum Dorf führt. Aber egal, wie schlecht Anselmo sich fühlt, er wundert sich doch darüber, dass er niemanden auf einer Machamba arbeiten sieht, es ist auch niemand unterwegs dahin. Die Sonne steht schon hoch am Himmel. Und was riecht denn so schlecht? Es stinkt. Wie nach . . . nach verbranntem Fleisch.
»Wir verlassen den Pfad«, schlägt er vor, und Paolo stellt keine Fragen.
Gespannt und unruhig gehen sie weiter im Schutz des hohen Buschgrases. Für Anselmo ist es wie eine schauerliche Wiederholung. Die gleiche Angst, die gleiche Unruhe, die gleiche Vorsicht. Nur dass er dieses Mal nicht alleine ist.
Als sie die ersten niedergebrannten Hütten sehen, bleiben sie stehen. Sie trauen sich nicht, ins Dorf zu gehen. Sie gehen außen herum durch den Busch. Alles ist zerstört. Große Teile des Dorfs sind bis auf den Grund niedergebrannt. Auf dem Boden liegen verstümmelte Körper. Viele erkennen sie. Zumindest an der Kleidung. Dort liegt Dolores. Ihre Capulana ist nicht zu verkennen. Sie war die Einzige im Dorf, die eine Capulana mit so einem Muster hatte. Sie hatte sie von einem Verwandten bekommen, der sie ihr in einer großen Stadt weit weg von hier gekauft hat. Sie war sehr stolz darauf gewesen. Sie sehen auch den alten Ernesto. Er wird nie mehr Durst auf Bier haben. Und auch seine Machamba wird er nicht mehr brauchen.
Die Angst vor dem, was sie bei sich vorfinden werden, pocht ihnen in den Adern. Sie können nirgendwo ein Lebenszeichen entdecken. Bis sie den Teil des Dorfes erreichen, in dem sie selbst wohnen. Da hören sie Spatenstiche.
Jemand gräbt ein Grab, denkt Anselmo.
Sie gehen auf das Geräusch zu, und jetzt begegnen ihnen Überlebende, aber die eilen an ihnen vorbei. Beide sehen von weitem, dass ihre Hütten noch stehen. Die Erleichterung spült wie eine Welle über Anselmo hinweg, und er beginnt zu laufen. Er läuft vorbei am Mangobaum, vorbei am Arbeitstisch, auf dem noch einige gespülte Töpfe stehen und weiter zur Hütte.
Die klapprige Bambustür steht offen, und ihm fällt ein, dass er der Mutter versprochen hat, eine neue zu machen.
»Mama«, ruft er vorsichtig in der Türöffnung.
Kein Laut.
»Rosa, Lucinda.«