Anselmo - ein Kindersoldat in Mosambik. Mecka Lind
»Wer seid ihr?«, fragt der Mann mit scharfer, durchdringender Stimme.
Anselmo würde am liebsten Lucinda an der Hand nehmen und weglaufen, aber das traut er sich natürlich nicht. Er konzentriert sich deshalb auf die Frage, die ihm gestellt wurde.
»Wir sind auf dem Weg zu Verwandten, die in einem Dorf in der Nähe wohnen. Wir waren durstig, und als wir sahen, dass hier ein Brunnen war, dachten wir, wir könnten unseren Wasserkanister füllen. Wir dachten nicht, dass hier jemand wohnt.«
»Soso, ihr dachtet nicht«, sagt der Mann und verzieht den Mund wieder zu diesem ekligen Grinsen.
Anselmo nickt Lucinda zu, sie soll den Kanister hochziehen. Er nimmt das Bündel mit der Mandioka auf. Im Bündel hat er auch seine Machete eingewickelt. Sie wollen gerade gehen, als der Mann sich ihnen in den Weg stellt. »So eilig habt ihr es wohl nicht«, sagt er mit einem unangenehmen Unterton in der Stimme.
Anselmo schluckt, damit seine Stimme nicht verrät, wie ängstlich er ist.
»Es ist noch weit und wir wollen vor der Dunkelheit hinkommen«, sagt er.
»Wenn es so weit ist, müsst ihr zuerst etwas essen.«
»Wir haben schon etwas Mandioka gegessen.«
Der Mann grinst jetzt nicht mehr.
»Es ist auf jeden Fall besser, wenn ihr erst mal mitkommt.«
Dies ist keine Einladung. Dies ist ein Befehl.
Anselmo schaut seine Schwester nicht an. Seine Augen würden ihn verraten, und sie braucht jetzt seinen Mut, nicht seine Angst.
Der Mann stößt sie mehr oder weniger vor sich her zu einer der Hütten und weiter ins Halbdunkel. Drinnen sitzen drei erwachsene Männer. Zwei von ihnen haben Maschinengewehre. Der dritte hat eine Pistole im Hosenbund stecken. Er trägt auch richtige Soldatenstiefel und ein einigermaßen sauberes Hemd.
Der ist der Anführer, denkt Anselmo und zweifelt nicht mehr . . . sie sind der Guerilla direkt in die Arme gelaufen. »Woher kommt ihr?«, fragt der Mann mit den Stiefeln.
Obwohl Anselmo außer sich ist vor Angst, versucht er, dem Mann in die Augen zu sehen, als er antwortet, und merkwürdigerweise empfindet er diesem Mann gegenüber nicht den gleichen Abscheu wie für den mit dem dummen Grinsen. Aber er weiß auch, dass dieser gefährlicher ist.
»Wir kommen von weit her, unser Dorf wurde überfallen, unsere Eltern sind tot, wir sind auf dem Weg zu Verwandten in einem Dorf weiter weg.«
Woher kommen bloß all diese Worte? Er begreift es nicht. Er spürt, dass Lucinda zusammenzuckt, als er sagt, dass beide Eltern tot seien, aber sie widerspricht nicht, und das ist das Wichtigste, denn wenn sie erzählen würden, dass ihr Vater auf Seiten der Regierung kämpft, wären ihre Überlebenschancen gleich null. Und nur daran denkt Anselmo. Dass sie es schaffen . . . dass sie nicht umgebracht werden.
»Wie heißt das Dorf, in das ihr unterwegs seid?«
»Ich weiß nicht, wie es heißt«, sagt Anselmo. »Ich weiß nur, dass es in dieser Richtung liegt.«
Er zeigt auf gut Glück in eine Richtung.
»Wie heißt das Dorf, aus dem ihr kommt?«
Einen Moment lang wird ihm schwarz vor Augen. Er kann doch nicht den Namen seines eigenen Dorfes sagen. Wenn sie dann auf die Idee kommen, es noch einmal zu überfallen.
Der Mann vor ihm spürt sein Zögern und schlägt ihm ins Gesicht. Lucinda schreit auf. Einer der anderen packt sie und drückt die scharfe Klinge der Machete an ihren Hals.
Er hat keine Wahl. Er schämt sich, als er sich reden hört, als wäre er aufgezogen. Er starrt die ganze Zeit auf die Stiefel, um die Angst in den Augen seiner Schwester nicht sehen zu müssen. Er erzählt, aus welchem Dorf sie kommen. Er erzählt, wie er und Paolo sich betrunken haben, dass sie über Nacht im Busch geblieben waren und was sie am nächsten Morgen vorgefunden hatten.
»Und dein Vater? Der ist auch tot, hast du gesagt, ja?«
Diese Frage beendet das verzweifelte Plappern, und er kann wieder denken.
»Er ist schon lange tot«, lügt Anselmo und fährt fort: »Alle, die überlebt haben, flohen schon am gleichen Tag, und wir, meine Schwester und ich, gingen mit. Wir übernachteten im Wald. Als wir aufwachten, waren die anderen schon weitergegangen. Sie hatten uns vergessen. Deshalb sind wir auf dem Weg zu dem Dorf, wo Verwandte wohnen.«
»Wer hat euer Dorf niedergebrannt? Wer hat eure Mutter und euren kleinen Bruder ermordet?«
Anselmo starrt ihn an. Was erwartet er denn für eine Antwort? Er versucht sich zu erinnern, ob er schon gesagt hat, es sei die Guerilla gewesen, aber er weiß kaum noch, was er gesagt hat.
»Ich weiß nicht«, sagt er deshalb so leise, als spräche er zu sich selbst.
»Dann werde ich es dir sagen«, hört er die Stimme des Mannes weit oberhalb seines Kopfes. »Euer Dorf ist von Regierungssoldaten niedergebrannt worden. Sie haben eure Mutter und euren Bruder getötet. Ich kenne das Dorf, aus dem ihr kommt, und ich habe von dem Massaker gehört.«
Einen Moment lang zögert Anselmo. Er hat die Leute, die es gemacht haben, ja nie gesehen. Er war nicht einmal in der Nähe, als es passierte. Aber die Leute im Dorf konnten doch wohl die Guerilla von den Regierungssoldaten unterscheiden, und die Soldaten brannten doch keine Dörfer nieder und töteten Menschen?
»Seht ihr jetzt ein, wie grausam sie sind?«, fragt der Mann. Das Einzige, was Anselmo einsieht, ist, dass es das Beste ist, zu nicken und zuzustimmen, und glücklicherweise macht Lucinda das Gleiche, als sie sich an sie wenden.
»Die Soldaten behaupten, die Guerilla würde brennen und morden«, fährt der Mann fort. »Aber ihr habt ja gesehen, wie es wirklich ist. Wir wollten euch befreien und beschützen, aber wir kamen zu spät. Das ist unsere Aufgabe. Dieses Land von seiner grausamen Regierung zu befreien.«
11
Anselmo und Lucinda werden getrennt, und sie wagen nicht zu protestieren. Lucinda wird zu einer Hütte gebracht, wo noch andere Mädchen und Frauen sind. Anselmo wird von Wilson geholt, einem großen, schlaksigen Jungen von ungefähr fünfzehn Jahren. Er hat eine große, hässliche Narbe über der einen Wange und einen kalten, durchdringenden Blick. Auch er hat eine Pistole im Hosenbund. Anselmo kann ihn vom ersten Moment an nicht leiden, und er weiß, dass es auf Gegenseitigkeit beruht. Er weiß eigentlich nicht, warum. Sie kennen sich ja noch gar nicht.
Wilson nimmt ihn zu einer Hütte neben der der Männer, hier warten weitere fünf Jungen. Drei sind in Anselmos Alter. Die anderen scheinen etwas älter, vielleicht dreizehn, vierzehn zu sein. Die älteren und einer der jüngeren haben Maschinenpistolen und Macheten. Die anderen haben nur Macheten. Niemand sagt etwas. Es werden keine Fragen gestellt, sie warten.
Warten worauf, denkt Anselmo und setzt sich zu den anderen.
Bis der Befehl zum Aufbruch kommt, da versteht er alles. Und er kann nicht verhindern, dass er denkt, wenn er und Lucinda nur ein wenig später in das Dorf gekommen wären, dann wären die Banditen schon weg gewesen und er und seine Schwester wären nicht gefangen genommen worden.
Anselmo war der Meinung, dass er und Lucinda in den letzten Tagen schnell vorwärts gekommen waren, aber das war nichts gegen das Tempo, das sie jetzt mithalten müssen. Er sieht seine Schwester weiter vorne. Hoffentlich schafft sie es. Als er einmal zufällig auf gleiche Höhe mit einem der Mädchen kommt, fragt er vorsichtig: »Wohin gehen wir?«
Sie antwortet ihm nicht. Vielleicht hat sie sein Flüstern nicht gehört. Er setzt an sie noch einmal zu fragen, aber da knallt es auf seinem Kopf, dass er zu Boden fällt. Wilson hat ihn mit dem Pistolenkolben geschlagen.
»Niemand redet, ohne gefragt zu werden«, sagt er.
Anselmo steht auf und geht ohne ein Wort weiter. Der Schmerz droht ihn zu zersprengen, aber er beißt die Zähne zusammen. Die anderen sind nicht einmal stehen geblieben.