Anselmo - ein Kindersoldat in Mosambik. Mecka Lind

Anselmo - ein Kindersoldat in Mosambik - Mecka Lind


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haben noch fliehen können, denkt er und tritt ins Dunkel.

      Er bleibt erstarrt stehen.

      Vor seinen Füßen liegen die Körper seiner Mutter und des kleinen Agosto.

      Er wird sich an nichts anderes mehr erinnern. Er weiß nicht einmal mehr, wo er den Spaten herbekommen hat. Erst als er das Grab unter dem Mangobaum gräbt, beginnt sein Gehirn wieder zu arbeiten, und er überlegt, wo Rosa, Lucinda und Julio wohl sein mögen und ob und wie die Großeltern es wohl überlebt haben.

      Er arbeitet mechanisch. Als er tief genug gegraben hat, geht er zur Hütte zurück und schleppt den Körper seiner Mutter heraus und hinüber zum Baum. Dann holt er den kleinen Agosto. Er trägt ihn auf dem Arm und legt ihn neben die Mutter ins Grab.

      Dann setzt er sich mit dem Rücken an den Baumstamm und ruft die Geister der Ahnen mit dumpf leiernder Stimme, die sich zu einem verzweifelten Gesang steigert, herbei. Er bittet sie, sich der Seelen von Mutter und Agosto anzunehmen. Er singt davon, wie viel Gutes die Mutter im Leben getan habe und wie lieb Agosto gewesen sei in den drei Jahren, die er gelebt habe, und wie grausam der Krieg sei, der ihnen dies angetan habe.

      Er sitzt mit gebeugtem Kopf und geschlossenen Augen da und sieht sie deshalb nicht kommen. Er hört auch ihre Schritte nicht. Erst als ein Schatten über ihn fällt, schaut er auf und blickt in Rosas Augen. Lucinda steht neben ihr. Julio sitzt im Tuch auf dem Rücken der großen Schwester.

      Rosa starrt in das frische Grab.

      »Sie hat es also nicht geschafft«, sagt sie mit einer Stimme, die so dünn ist wie ein Spinnfaden.

      »Warum sind sie zurückgeblieben?«, fragt Anselmo. »Warum seid ihr nicht gemeinsam geflohen? Ihr seid doch geflohen, oder?«

      »Agosto«, flüstert Rosa. »Ist Agosto auch . . .?«

      Sie scheint erst jetzt zu verstehen, dass die Mutter nicht alleine im Grab ruht. Sie weint lautlos und schaut hilflos auf das frische Grab. Lucinda drückt sich an sie. Dann setzen auch sie sich hin. Nach einer Weile berichtet Rosa: »Agosto wurde gestern Abend krank. Er bekam sehr hohes Fieber. Mutter wollte zuerst mit ihm zum Curandeiro gehen, aber dann schlief er ein, und sie wollte lieber warten. Aber sie war unruhig und hat wahrscheinlich sehr leicht geschlafen, denn sie wachte von den fürchterlichen Schreien auf. Zu mir sagte sie sofort, ich solle Julio auf den Rücken und Lucinda an der Hand nehmen und weglaufen. Sie wickelte Agosto in die Capulana, unter der er schlief, sie musste ihn ja tragen. Er hatte so hohes Fieber, dass er nicht gehen konnte. Das ist das Letzte, was ich von ihr gesehen habe. Sie stand über den kleinen Agosto gebeugt. Sie müssen ganz kurz darauf gekommen sein, sonst hätte sie noch fliehen können.«

      Die drei Geschwister sitzen schweigend beieinander und halten sich umarmt. Sie sitzen so, bis Julio zu wimmern anfängt. Da erhebt sich Rosa, geht in die Hütte und holt Mais, schüttet die Körner in den Holzmörser, nimmt den Stock und beginnt zu stampfen. Stur, aggressiv und verzweifelt.

      Anselmo hört, wie Rosas Stampfen sich bald mit dem anderer Frauen mischt. Es ist ihre Art, das Böse zu bezwingen und in der Trauer das Leben weitergehen zu lassen.

      Lucinda, die immer noch bei Anselmo sitzt, fragt leise: »Wo warst du denn, als sie kamen? Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht. Wir haben geglaubt, sie hätten dich mitgenommen.«

      Die Schuldgefühle, die ihn beherrschen, seit er die Mutter und Agosto gefunden hat, sprengen ihn in tausend Stücke, und die Antwort bricht aus ihm hervor: »Ich habe die ganze Nacht mit Paolo verbracht! Wir waren betrunken und haben uns nicht getraut, nach Hause zu gehen, weil wir wussten, dass alle böse sein würden. Deshalb haben wir im Busch geschlafen.«

      Rosa ruft nach Lucinda. Sie braucht ihre Hilfe, Julio schreit und tritt um sich.

      Anselmo kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er weint heftig und wütend und lange. Dann steht er auf und nimmt den Spaten, um ihn wieder an seinen Platz zu stellen.

      »Ich gehe hinüber zu den Großeltern und sehe nach, wie es ihnen ergangen ist«, sagt er.

      Rosa kommt zu ihm, legt ihm die Hand auf die Schulter. »Ich bin so froh, dass du nicht hier gewesen bist«, sagt sie sanft.

      6

      In Paolos Familie haben alle fliehen können und sind deshalb wohlbehalten. Anselmo kommt auf dem Weg zu den Großeltern bei ihnen vorbei. Sie wohnen in dem Teil des Dorfes, den es am wenigsten erwischt hat.

      Die beiden Alten sitzen immer noch in ihrer Hütte hinter ein paar Säcken mit Holzkohle versteckt. Anselmo muss sie überreden hervorzukommen, sie scheinen nicht verstehen zu können, dass die Gefahr vorüber ist . . . zumindest für dieses Mal. Schließlich gelingt es ihm, sie zu beruhigen. Großmutter Angela drückt seine Hand.

      »Wie gut, dass ihr fliehen konntet«, sagt sie. »Ihr konntet doch fliehen. Allen geht es . . .«

      Anselmo weiß nicht, wie er es erzählen soll. Aber muss es erzählen.

      »Rosa und Lucinda und Julio konnten fliehen. Ich selbst war gar nicht da.«

      »Aber was ist mit Mutter? Und dem kleinen Agosto?«

      Die Stimme der Großmutter ist bittend, als ob sie mit ihrer Hilfe das Schicksal lenken könnte.

      »Ich habe sie gerade begraben«, sagt er, und es klingt beinahe so, als ob er selbst sie umgebracht hätte.

      Großmutter Angela wimmert ihren Schmerz heraus, als sie erfährt, was ihrer Tochter und ihrem Enkelkind widerfahren ist. Der Großvater schweigt und wendet sich ab. Anselmo hat einige Mühe, bis er die beiden Alten mit nach Hause zu den Geschwistern nehmen kann.

      Am Nachmittag gehen Anselmo und Paolo durchs Dorf und fragen, ob jemand ihre Hilfe braucht. Sie sehen jetzt, dass der Teil des Dorfes, der in der Nähe der Schule lag, bis zum Brunnen im Zentrum vollständig niedergebrannt ist. Hier hat niemand fliehen können. Aus diesem Teil des Dorfes sind auch die meisten Gefangenen verschleppt worden . . . Jungen, Mädchen, Frauen und die wenigen jüngeren Männer, die noch da waren. Alle, die noch irgendwie von Nutzen sein könnten. Alle anderen hatte man getötet.

      Der Sohn des Lehrers, Emilio, der beim letzten Überfall davongekommen war, ist jetzt weg. Er und seine ganze Familie. Bei Fernando wird nie mehr Gejohle und lautes Gerede zu hören sein. Efraim, der Anführer des Dorfes, ist auch verschwunden.

      »Ihn haben sie zuerst genommen«, berichtet jemand. »Ihn und seine Familie. Aber der alte Alfredo ist offenbar davongekommen.«

      Der alte Alfredo ist Efraims Vater und war der Anführer des Dorfes, bis er seinen Sohn bat, ihn abzulösen. Er ruft auch jetzt die Leute des Dorfes zusammen. Kurz vor Sonnenuntergang sollen sich alle drüben am Brunnen versammeln.

      Alle, die kommen können, sind da. Der alte Alfredo ist sehr beliebt, und wenn jemand sie in diesem Chaos zusammenhalten kann, dann ist er es.

      »Wir haben eine fürchterliche Nacht hinter uns«, beginnt er zu sprechen. »Eine weitere Nacht steht uns bevor, und die Banditen wissen, dass es hier noch genug zu holen gibt, sowohl Nahrung als auch Leute. Die Gefahr, dass sie wieder kommen, ist groß. Deshalb rate ich euch, im Busch zu übernachten, nehmt eure Verletzten und Kranken mit und versteckt euch im hohen Gras. Morgen, wenn die Sonne hoch am Himmel steht, versammeln wir uns wieder hier und beraten weiter. Ich weiß, dass einige Familien schon das Dorf verlassen haben und dass viele von euch überlegen, es ihnen gleichzutun. Ich verstehe alle, die fliehen, und ich verstehe alle, die bleiben. Lasst uns morgen weiter darüber sprechen. Sucht jetzt Schutz für die Nacht.«

      Anselmo hört dem alten Mann zusammen mit seinen Schwestern und seinen Großeltern zu. Paolo und seine Familie sind auch da, dann gehen sie gemeinsam heimwärts.

      Die Sonne ist bereits hinter den Bäumen verschwunden. Das Dunkel umgibt sie.

      »Es ist vielleicht am besten, das Dorf zu verlassen«, sagt Rosa.

      »Und wohin soll man fliehen?«, fragt Paolo. »Die Guerilla ist doch überall. Da ist es doch ebenso gut, hier im Busch zu schlafen wie woanders.«


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