Aufstieg der Schattendrachen. Liz Flanagan

Aufstieg der Schattendrachen - Liz Flanagan


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Fingerkuppen kühlte. Er wandte sich vom Klippenrand ab und gestattete sich endlich zu weinen. Sein ganzer Körper wurde von tiefen Schluchzern geschüttelt, während er lang ausgestreckt auf der Erde lag.

      Er weinte über den fremden, gefährlichen Menschen, der er gestern gewesen war.

      Er weinte, bis keine Wut und Enttäuschung mehr in ihm waren.

      Er weinte, bis keine Eifersucht und Arroganz mehr in ihm waren.

      Er weinte, bis keine Scham und kein Kummer mehr in ihm waren.

      Er weinte, bis nichts mehr übrig war.

      Er fühlte sich wie ein leeres Blatt Pergament, und das war eine Erleichterung. Es war Zeit, neu anzufangen.

      Dann taumelte er zurück zu seinem Versteck in der Höhle. Sein Überlebensset und die Laterne trug er immer noch um die Schulter geschlungen, den Rucksack mit Essen hatte er verloren.

      Am Höhleneingang nahm er sich einen Moment Zeit, um die Sturmlaterne anzuzünden, und bemerkte dabei vage, dass seine verbrannten Hände bebten. Ohne weiter darauf zu achten, hob er die Laterne über den Kopf. In dem zitternden goldenen Lichtkreis konnte er den Eingangsbereich der Höhle mit der kleinen Biegung an der Seite, wo er letzte Nacht geschlafen hatte, nun klar erkennen. Zu seiner Rechten lag tatsächlich eine größere Kammer, die voller Fledermäuse war. Der kräftige, unverwechselbare Geruch stach ihm in die Nase. Einige Schritte weiter befand sich eine Art Durchgang. Er lief hindurch und entdeckte eine breite Treppe mit ausgetretenen Stufen.

      Stufen?

      Stufen waren menschengemacht. Stufen führten irgendwohin.

      Hatte er sich nicht einen neuen Weg gewünscht? Nun, hier war er. Wohin er führte, war Jo gleichgültig, daher hob er die Sturmlaterne und ging die steinernen Stufen hinab. Die Dunkelheit machte ihm keine Angst. Mit einer Hand berührte er die Wand: Sie war kühl und rau. Die Luft roch nach Salz, Feuchtigkeit und Staub. Von dem gelben Lichtkreis sicher geleitet, stieg er immer tiefer und tiefer hinab.

      Jo erreichte die unterste Stufe. Der Gang verlor sich im Dunkeln. Er war breit genug, um mit ausgestreckten Armen hindurchzugehen, und hoch genug, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Die Wände waren leicht gewölbt, als hätten Wind und Regen sie geformt, aber hier unten war es für beides zu tief. Der Tunnel knickte ab, und Jo ging langsam und gleichmäßig weiter. Er stieg aufwärts und bog ab, ließ eine Kehre nach der anderen hinter sich und folgte dem Verlauf des Tunnels wie eine Ratte.

      Als er um eine weitere Biegung kam, blieb er verblüfft stehen.

      Er stand in einem gewaltigen Raum, der sich zu allen Seiten ausdehnte und größer war als der große Festsaal im Palast. Jo konnte nicht einmal die Decke erkennen, doch sie musste irgendwo weit über ihm ein Loch haben, denn ein Lichtstrahl fiel herein und durchbrach die Dunkelheit. Außerdem hörte er Wasser rauschen. Ein Bachlauf wand sich durch die riesige Höhlenkammer, floss an ihrem Ende in eine Art Becken und entschwand dann dem Blick. Jo ging hin und tauchte einen Finger ins Wasser. Er schnüffelte und leckte daran. Es schmeckte leicht schwefelig, ansonsten aber sauber, und es hatte einen metallischen Geruch. Er tauchte die Hand hinein und trank einen Schluck. Das Wasser war so kalt, dass es an den Zähnen wehtat.

      Jo ließ sich Zeit bei seinem Erkundungsgang. Die Höhlenkammer erwies sich als trocken und geräumig, außerdem sickerte von hoch oben Tageslicht herein. Sie war wie eine unterirdische Drachenhalle, wurde Jo schmerzhaft klar. Er atmete zittrig ein, akzeptierte, was er verloren hatte – und was er gerade gefunden hatte. Dieser geheime Ort würde ihm allein gehören. Ein Heim für ein Monster. Ein unter Arcosi verborgenes Königreich. Hier konnte er bleiben, während er sein Leben neu aufbaute. Hier konnte er für immer bleiben.

      8. Kapitel

      Jo schlief den ganzen restlichen Tag in der riesigen unterirdischen Höhlenkammer. Als er aufwachte, war er durchgefroren und er fühlte sich so allein, dass es ihm den Atem nahm. Einen Moment lang konnte er sich nicht rühren. Seine Kleider waren nass, seine Knie und Schienbeine voller blauer Flecken, und nun waren auch seine verbrannten Fingerspitzen blutig und zerschunden und pochten schmerzhaft.

      Schwerfällig stieg er den Tunnel wieder hinauf und spähte ins Freie. Ein Sturzregen hüllte den Strand in grauen Nebel. Jo brauchte Salzwasser, um seine Wunden zu säubern, das hatte Milla ihm vor Jahren beigebracht. Ohne auf seine steifen Beine zu achten, stemmte er sich gegen den Regen, rutschte blinzelnd den steilen Hang hinab und lief zum Meer. Er zog die Schuhe aus, krempelte Hosenbeine und Hemdsärmel hoch und watete hinein, um die Arme in die Wellen zu tauchen.

      Die salzigen Fluten waren eisig, und seine Verletzungen brannten so sehr, dass ihm die Luft wegblieb. Schon bald fühlten sich seine Brandwunden völlig taub an – genau wie der Rest seiner Arme und seine Füße. Er klapperte mit den Zähnen. Die nassen Kleider hingen an ihm herab, die Haare klebten in seinen Augen.

      Er hatte mörderischen Hunger. Vielleicht würde er es irgendwann schaffen, Fische oder einen Hasen zu fangen, aber nicht heute, nicht in diesem Zustand. Er hatte keine Wahl: Er musste zurück in die Stadt und etwas Essbares auftreiben.

      Er wartete, bis es dunkel war. Der Sturm schien sich verzogen zu haben, zumindest hatte der Regen eine Atempause eingelegt. Jo kehrte auf dem gleichen Weg zurück, den er gekommen war: über den Weststrand, vorbei an den Lagerhäusern und hinein in die dunkelsten Straßen von Arcosi. Dort hielt er Ausschau nach einer Gelegenheit, etwas zu essen zu stehlen. Er folgte dem Geruch von Holzfeuer und Braten, bis er zu einem hohen Gebäude kam, das voller Menschen zu sein schien. Wenn dort ein Fest stattfand, würde man einen ungeladenen Gast vielleicht nicht bemerken.

      Jo schlich über die Straße und lauschte aufmerksam. Er linste durch einen Spalt im Fensterladen, erkannte jedoch nur vage ein dichtes Gedränge. Er legte den Kopf in den Nacken und suchte nach etwas, woran er hinaufklettern konnte, um von weiter oben einen besseren Blick zu haben, aber die Mauer war glatt und hoch. Über ihm standen ein paar Sterne am Himmel, zwischen zerfaserten Wolken eingeklemmt.

      Er horchte. Lauter Jubel erscholl. Dort drinnen mussten Dutzende Leute sein.

      »Du siehst hungrig aus. Wie eine ersoffene Ratte oder noch schlimmer.«

      Jo wirbelte herum und fand sich einem kleinen, stämmigen Mann gegenüber. Er stand da wie ein Soldat: Die Füße fest auf dem Boden, hielt er das Schwert in der Hand, als würde es nicht mehr wiegen als ein Esslöffel.

      »Ja, ich meine, nein, ich meine … wie meinen Sie das?«, stammelte Jo. Er schwankte, ihm wurde plötzlich schwindlig, und er bibberte vor Kälte.

      »Ganz ruhig, Junge«, sagte der Mann, der nun lächelte und ihn mit seiner freien Hand stützte. »Kein Grund zur Panik.« Sein schütteres weißes Haar zog sich in zwei Streifen seitlich um seinen Schädel. Er erinnerte Jo an einen freundlichen Dachs. »Das sieht doch jeder, dass du etwas Warmes zu essen und einen Platz zum Trockenwerden brauchst. Komm mit.« Er steckte sein Schwert weg und bedeutete Jo, ihm zu folgen.

      »Warum? Was ist das hier?« Jo dachte an Geschichten über junge Männer, die erst betäubt und dann gezwungen wurden, als Matrosen auf Schiffen zu arbeiten. Andererseits, hatte er sich nicht gewünscht, die Insel zu verlassen? Vielleicht war das doch keine so gute Idee gewesen.

      Ehe der Mann antworten konnte, schaute neben ihnen jemand zum Fenster heraus und rief: »Gibt es noch irgendwelche Nachzügler, Yannick? Komm rein, wir fangen gleich an.« Das Gesicht des Mannes verharrte über ihnen. Er hatte kurz geschorenes Haar, das im Mondlicht silbern leuchtete, hohle, stoppelige Wangen und eine geschwungene bootförmige Narbe unter einem Auge.

      »Wir kommen, Asa!«, erwiderte Yannick und lotste Jo zur Eingangstür. »Komm, iss mit uns und sei willkommen. Unsere Türen stehen Freunden immer offen …«

      Er trat vor die Tür und klopfte drei Mal im Rhythmus langsam – schnell – schnell. Als die Tür aufschwang, quietschten die rostigen Angeln, und ein Schwall warmes Licht und das


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