Aufstieg der Schattendrachen. Liz Flanagan

Aufstieg der Schattendrachen - Liz Flanagan


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sie ihm vor der Nase zufiel. Sein Magen knurrte schmerzhaft und traf die Entscheidung für ihn. »Warten Sie!«, rief er. »Ich komme mit.« Über alles Weitere würde er sich Gedanken machen, wenn er gegessen hatte.

      Er trat ein und gelangte in einen kleinen Vorraum mit Wänden aus blanken Holzbrettern und einer Wendeltreppe, die linker Hand nach oben führte. Zwei Fremde beäugten ihn misstrauisch. Sie hielten Wache vor einer großen doppelflügeligen Tür mit verzierten Messinggriffen.

      »Bewaffnet?«, wollte einer wissen und klopfte Jo grobschlächtig ab.

      »Nur das hier.« Jo zog das Messer mit dem Drachengriff heraus, das Conor ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Wieder versetzte ihm der Gedanke daran, was er seit gestern Morgen alles verloren hatte, einen Stich.

      Der kleine Mann nahm das Messer und legte es in eines von mehreren tiefen Regelfächern unter der Treppe, die mit einem beunruhigenden Arsenal an Waffen gefüllt waren.

      »Mach nicht so ein besorgtes Gesicht, Junge.« Der andere Wachposten schlug ihm kräftig auf den Rücken. »Wir beißen nicht.« Er schob Jo zu einem Türflügel. »Noch nicht jedenfalls.«

      Mit ihrem Gelächter in den Ohren fummelte Jo nervös am Türgriff herum. Nicht einmal das bekam er hin! Schließlich ging die Tür auf, und er schlüpfte in den großen, überfüllten Raum.

      Das Erste, was ihm auffiel, war die Hitze: feucht, verschwitzt und säuerlich. Es mussten hundert oder mehr Männer sein und eine Handvoll Frauen, die dicht aneinandergedrängt nach vorn schauten. Jo stolperte ein Stück weiter und landete zwischen einem großen rotbärtigen Fremden und einem kleinen Glatzkopf, den er vage aus Aminas Nachbarschaft wiedererkannte. Alle waren Norländer. Jeder Einzelne von ihnen.

      Jo stellte sich auf die Zehenspitzen und erhaschte einen kurzen Blick auf den Mann namens Asa, der ganz vorn stand. An der Seite befanden sich einige Bänke und aufgebockte Tische mit drei großen Fässern. Wahrscheinlich Bier, vermutete Jo, zumindest lag ein starker Hefegeruch in der Luft.

      »He, hast du Hunger, Junge?« Yannick erschien mit einem Holzteller voller Wurstscheiben und festem, dunklem Brot in der einen Hand und einer Schüssel Suppe in der anderen.

      Erleichtert nahm Jo das Essen entgegen. »Danke.«

      »Setz dich dorthin und iss. Bin gleich wieder da.« Yannick zeigte auf eine Bank im hinteren Teil des Raums und verschwand dann in der Menge.

      Jo bahnte sich seinen Weg zur Bank, ohne dabei allzu viel Suppe zu verkleckern, und schlang das Essen hinunter. Es kümmerte ihn nicht mehr, ob es womöglich mit etwas versetzt war, das ihn betäuben würde. Selbst wenn er auf dem Deck eines fremden Schiffes aufwachte, würde er das im Augenblick als fairen Tausch betrachten.

      Asas Stimme war laut und klar. »Also, beginnen wir unseren Abend wie immer.«

      Hier und da ertönte Applaus und zustimmendes Brummen. Dann begannen zu Jos Überraschung alle zu singen. Es war ein traditionelles norländisches Lied über das Meer, an das sich Jo vage erinnerte.

      Der Mann mit rotem Bart, der ihm am nächsten stand, starrte ihn böse an. Also brummte Jo mit, um nicht weiter aufzufallen.

      »He, du«, sagte der Mann, als er sich zu Jo hinabbeugte und ihn anstieß.

      »Was?«, fragte Jo und aß schneller. Falls man ihn vor die Tür setzte, wollte er vorher so viel Essen in sich hineinstopfen wie möglich.

      »Wer singen will, muss auch trinken – hier, nimm das!« Der Mann reichte Jo einen überschwappenden Becher mit etwas Schaumigem.

      »Äh, danke!« Jo nahm den Becher und trank einen kräftigen Schluck. Er hatte schon einmal heimlich am Krug seines Vaters genippt und erkannte den starken, bitteren Geschmack. Aufgewärmt vom Bier, dem Essen und der Gesellschaft, entspannte er sich allmählich. Vielleicht war er doch nicht ganz allein. Vielleicht gab es hier bei diesen Menschen einen Platz für ihn. Sie wirkten offen und freundlich. Er sang lauter.

      Als das Lied zu Ende war, gingen alle herum und hielten nach ihren Freunden Ausschau. Jo war wie betäubt von den laut gebrüllten Namen und Begrüßungen.

      Sein Brot kauend blickte er sich um und versuchte, den Grund für diese Versammlung herauszufinden. Die Menschen saßen nun in kleinen Gruppen beieinander und unterhielten sich angeregt.

      Yannick tauchte mit einer alten Decke wieder auf, die er Jo über die Schultern warf. »Geht’s dir besser?«, fragte er, als er vor ihm stehen blieb. Er lächelte abermals recht freundlich, aber Jo beschlich das Gefühl, dass der Mann ihm die Sicht verstellen wollte.

      »Hm-hm, vielen Dank«, murmelte er, den Mund voller stark gepfefferter Wurst. »Was ist das hier?«, fragte er schließlich beherzt. Das Bier hatte ihm die Zunge gelockert. »Ich meine, was passiert hier?«

      »Sind bloß Freunde, die sich mal wieder austauschen«, erwiderte Yannick.

      Jo war nicht überzeugt. Er war schon immer ein aufmerksamer Beobachter gewesen, und das hier erschien ihm viel zu organisiert für ein geselliges Treffen. Jede der Gruppen bestand nun aus genau zwölf Leuten, und es gab mindestens zehn davon. »Sie haben aber viele Freunde«, sagte er. »Und sie sind ausschließlich Norländer.« Das war ungewöhnlich auf einer Insel voller Menschen aus allen Teilen der Welt.

      »Das stimmt.« Yannick lachte leise. »Du bist ein neugieriger kleiner Vogel, was?« Er rückte näher heran, sodass Jo nur noch Yannicks umfangreichen Bauch und die Schnallen seines Ledergürtels sah. Yannick hatte sein Schwert behalten dürfen, fiel ihm auf, während alle anderen ihre Waffen draußen lassen mussten. Also hatte er hier vielleicht das Sagen. »Was ist mit dir? Was für Umstände führen dich hierher?«

      »Das interessiert keinen mehr«, erklärte Jo ihm schwermütig, während er die letzten Krümel auf seinem Teller aufsammelte. Er hasste den wehleidigen Ton, der sich in seine Stimme schlich.

      »Und wenn es das doch tut?« Plötzlich tauchte Asa neben Yannick auf. »Du bist schließlich auch ein Norländer. Diese blauen Augen lügen nicht.«

      Anscheinend wussten sie nicht, wer er war oder was er getan hatte. Sobald sie es herausfanden, wären sie bestimmt nicht mehr so freundlich. »Was spielt das für eine Rolle?«, fragte Jo verlegen. »Was ist so toll daran, ein Norländer zu sein?«

      Die beiden lachten, als hätte er etwas Lustiges gesagt.

      »Wir halten hier unser Erbe hoch«, erklärte ihm Asa. »Wir singen norländische Lieder, essen norländisches Essen und erzählen uns Geschichten aus der alten Heimat.«

      Das hörte sich recht harmlos an. Jo nickte, aber Asa war noch nicht fertig.

      »Wir halten die alten Traditionen am Leben, mehr nicht.« Asas Gesicht verhärtete sich. »Damit sie nicht verloren gehen, wie alles andere …«

      Jetzt, wo Jo gegessen hatte, wurde er hellhörig. Mit jähem Schrecken fiel ihm etwas auf, das ihm eigentlich sofort ins Auge hätte springen müssen: Yannick und Asa und etwa die Hälfte der anderen Leute im Raum steckten in abgerissener schwarzer Kleidung. Manche trugen Mäntel oder Jacken darüber, deshalb hatte er das nicht früher bemerkt.

      Es waren die Uniformen von früher. Aus der Zeit des vorigen Herzogs. Plötzlich wusste Jo genau, wer diese Leute waren und in was er da hineingestolpert war – sie alle gehörten zur Bruderschaft! Er verfluchte sich für seine Begriffsstutzigkeit, bemühte sich aber, sich nichts anmerken zu lassen.

      »Was ging denn verloren?«, fragte er und hoffte, neugierig und nicht misstrauisch zu klingen.

      »Ach, wir alle haben etwas verloren, Jowan Thornsen«, sagte Yannick gedehnt. »Und es ist an der Zeit, es uns zurückzuholen.«

      Sie wussten also doch, wer er war! Jo wurde rot vor Scham. Er wusste, dass die Bruderschaft seiner Schwester und Herzog Vigo das Leben schwer machen wollte. Würden sie ihm etwas antun, um an die beiden heranzukommen? Er hatte Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was sie sagten.

      »In den alten Zeiten, als diese Insel


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