Aufstieg der Schattendrachen. Liz Flanagan

Aufstieg der Schattendrachen - Liz Flanagan


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      Er gehörte nicht mehr dazu. Seine Eltern hatten Tarya, die Heerführerin der Insel, und Isak, den obersten Drachenwächter. Sie hatten Milla, die Nachfahrin des ältesten Geschlechts von Arcosi, die die Revolution geplant hatte, durch die Herzog Vigo an die Macht gekommen war. Sie brauchten keinen Schandfleck wie Jo, ein verzogenes, wütendes Kind. Nein. Solange er nicht etwas Sinnvolles vollbracht hatte, etwas, um den heutigen Tag wiedergutzumachen, musste er sich fernhalten.

      Er schob die Küchentür auf und schlich in die Vorratskammer. Dort schnappte er sich ein Brötchen, stopfte es sich in den Mund und verschlang es so hastig, dass er fast daran erstickte. Dann nahm er einen weichen Lederrucksack und packte Essen hinein: Käse, getrocknetes Fleisch, Rosinen. Er fand eine leere Feldflasche und füllte sie mit Brunnenwasser. Er nahm eine der Sturmlaternen und zusätzliches Öl.

      Was brauchte er noch? Das Überlebensset. Er riskierte es und schlüpfte durch den Vordereingang ins Haus. Das sanfte Mondlicht wies ihm den Weg zu seinem Zimmer.

      Wo hatte er es hingelegt? Jo suchte im schwachen Licht, bis seine Hände den Lederzylinder ertasteten. Er schlang sich die Schnur um die Schulter und wollte los.

      Da fiel sein Blick auf die purpurne Kappe und die Drachenreiterhandschuhe, die dort für ihn bereitlagen und auf ein Leben warteten, das niemals kommen würde. Er hatte von einer Zukunft geträumt, die nicht die seine war. Er verdiente sie ebenso wenig wie seine weißen Kleider. Er zerrte sich die zerrissene Jacke herunter, schleuderte sie fort und zog seine ältesten und wärmsten Sachen an. Die Geschenke von Conor und Amina fielen zu Boden, fast hätte er sie liegen gelassen. Erst im letzten Moment stopfte er sie in die Tasche und ging dann zur Tür.

      Etwas hielt ihn zurück.

      Er sollte sie wenigstens wissen lassen, dass er am Leben war. Aber wie?

      Jo griff nach der Kette mit dem kleinen Silberanhänger an seinem Hals, Millas Geburtstagsgeschenk. Er nahm sie ab.

      Vielleicht würde er sie sich eines Tages verdienen. Bis dahin stand es ihm nicht zu, sie zu tragen. Er war eine Schande für seine Familie. Das schwarze Schaf, der Watschler, das Monster.

      Er legte die Kette auf die purpurnen Handschuhe und ging, das Überlebensset fest an die Brust gepresst.

      Mit gespitzten Ohren schlich er die Treppe hinunter. Das Haus knarrte auf altvertraute Weise und verriet ihm, dass es leer war. Wo steckten seine Eltern? Aus dem Garten drangen Stimmen. Er schlüpfte zum Vordereingang hinaus und versteckte sich in einer dunklen Ecke, um im richtigen Moment über die steile Mauer hinter dem Übungsplatz zu klettern.

      »Was hat er gesagt?«, fragte eine Stimme. Das war Matteo, der Koch.

      Warum war Matteo noch wach, wenn er doch vor Tagesanbruch schon wieder aufstehen musste? Das sah ihm gar nicht ähnlich. Er würde morgen vor Müdigkeit nicht kochen können.

      »Na, sie suchen immer noch – sie werden die ganze Nacht unterwegs sein.« Das war Gabriel, der jede Nacht am Haupttor Wache hielt. Nestan konnte von alten Gewohnheiten nicht lassen und behielt ihn weiter im Dienst, obwohl die Insel jetzt friedlich und sicher war.

      Nach wem suchten sie? Nach ihm? Jos Herz schlug schneller. Er konnte die beiden kaum verstehen, so sehr rauschte das Blut in seinen Ohren. Er hasste den Gedanken, dass sein Vater, müde und enttäuscht, auf der Suche nach seinem missratenen Sohn immer noch dort draußen war.

      »Eine schlimme Geschichte«, zischte Gabriel durch die Zähne.

      »Ich war zwar nicht dabei, aber Jo ist ein guter Junge. Er hat es nicht böse gemeint«, verteidigte ihn Matteo.

      »Ts.« Gabriel schnalzte mit der Zunge. »Ob böse oder nicht, er war der Auslöser. Es gab viele Verletzte heute. Die Heilkundigen wissen nicht, ob der halb totgetrampelte Junge es schaffen wird. Nein, dafür wird sich der Bursche verantworten müssen.«

      »Ich habe gehört, die Bruderschaft hätte die Situation zu ihren Gunsten ausgenutzt.«

      »Stimmt, und das sollten sie vielleicht auch. Vielleicht haben sie nicht ganz unrecht.«

      »Das bedeutet nichts Gutes für seine Schwester und den Herzog.« Die Männer entfernten sich, und ihre Stimmen wurden leiser.

      Jo wäre am liebsten im Erdboden versunken. Hatte er womöglich den Tod eines Kindes verschuldet? Der Gedanke war unerträglich. Bestimmt hasste ihn jetzt die ganze Insel, und wer sollte das den Leuten verdenken?

      Was die davongehenden Männer als Nächstes murmelten, konnte Jo nicht verstehen, den letzten Teil aber sehr wohl.

      »Ohne Lady Milla wäre er jetzt tot. Für seine Leute wäre es wahrscheinlich sogar besser so.« Gabriel sprach Jos größte Befürchtung laut aus.

      Es verschlug ihm den Atem.

      War es das, was die Leute dachten?

      Innerhalb eines einzigen Tages war sein ganzes Leben zerstört, und zurück blieben nichts als Trümmer und Enttäuschung. Ohne sich darum zu kümmern, wer ihn sah, floh Jo von seinem Zuhause, wohl wissend, dass er niemals zurückkehren konnte.

      7. Kapitel

      Jo war sich nie ganz sicher, was als Nächstes geschah. Bei der Zeremonie hatte er vor Wut gekocht, während er nun wie betäubt und starr vor Schreck durch einen Albtraum taumelte. Der stürmische Wind trieb heftige Regenschauer heran. Später war sein Körper von blauen Flecken und Kratzern übersät, und seine schlammigen, durchweichten Kleider waren zerrissen, also musste er gerannt, geklettert und gefallen sein. Er erinnerte sich vage an seine mörderische Runde durch den Hafen. Im strömenden Regen hatte er einen Kapitän nach dem anderen angefleht, ihn mitzunehmen, Hauptsache, fort von der Insel. Zwei Dinge machten das unmöglich: Er hatte kein Geld. Und jeder Seemann erkannte in ihm auf den ersten Blick Nestans Sohn. Er solle nach Hause gehen und seinen Eltern sagen, dass ihm nichts passiert sei, rieten sie ihm. Sie klangen nicht böse, aber ihre Augen sprachen eine andere Sprache: Verschlossen und enttäuscht wirkten sie, sie wollten nichts mit ihm zu tun haben.

      Als die Morgendämmerung anbrach, war es, als würde er aus einem bösen Traum erwachen. Er stand allein auf einem grasbewachsenen Felsvorsprung oben auf den Klippen im Nordwesten von Arcosi.

      Der Wind wehte böig und spritzte ihm Regen ins Gesicht, fast als täte er das mit Absicht. Der Himmel war fleckig grau und verhieß weitere Niederschläge. Jo sah nach unten: Weit, weit unter ihm wichen die gezackten Felsen dem tosenden Meer. Von hier oben wirkte es schwarzblau und sehr kalt.

      Während er unentwegt in die Tiefe starrte, sah Jo plötzlich einen Ausweg. Seine Schande war so groß, dass es ihm verlockend erschien, sich davon zu befreien, selbst auf diese Weise.

      Er zitterte. Nein! Er wollte nicht wirklich sterben – er wollte einfach nur von vorn anfangen, jemand anders sein. Jemand Besseres.

      Er war so müde.

      Er schloss die Augen und sammelte sich.

      In diesem Moment schob sich die Sonne durch einen schmalen Wolkenspalt am Horizont. Jo spürte die Veränderung des Lichts. Hinter seinen geschlossenen Augenlidern wurde die Welt purpurrot, wie das Purpur in seinen Träumen.

      Das Purpur des Drachen, den er nicht hatte.

      Es tat nicht weh. Es war beruhigend.

      Zitternd stand Jo mit geschlossenen Augen da und badete im purpurnen Glanz. Und er spürte einen ersten winzigen Hoffnungsschimmer. Irgendetwas wartete dort draußen auf ihn.

      Er konnte noch einmal von vorn anfangen, aber das würde ein harter Weg werden. Wenn er ein besserer Mensch werden wollte, lag das in seiner Hand. Und wenn er jetzt damit anfing, könnte er eines Tages vielleicht wieder erhobenen Hauptes dastehen.

      Vielleicht könnte er eines Tages sogar nach Hause zurückkehren.

      Langsam,


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