Aufstieg der Schattendrachen. Liz Flanagan

Aufstieg der Schattendrachen - Liz Flanagan


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dabei in die Brust warf.

      Und mir nichts, dir nichts war die freundliche Atmosphäre verflogen.

      Jo schwieg. Milla hatte ihm erzählt, wie hart es früher für all jene gewesen war, die keine Norländer waren. In den alten Zeiten hatten Ungerechtigkeit und Ungleichheit geherrscht.

      »Damals gab es nicht so ein Durcheinander, wie wir es gestern erleben mussten«, fuhr Yannick fort. »Eine Frau kann keine Heerführerin sein – wir haben alle gesehen, dass sie außerstande war, die Ordnung wiederherzustellen.«

      »Daran war ich schuld, nicht meine Schwester!« Jo begann zu schwitzen. Er rutschte auf der harten Bank unruhig hin und her. Seit er begriffen hatte, dass er nicht hierhergehörte, sah er alles in einem düstereren Licht. Was genau taten sie hier? Was hatten sie vor?

      »Keineswegs«, knurrte Asa.

      Jo wartete. Was würden sie tun, jetzt, da sie wussten, wer er war, und auch, dass er nur ein – wie hatte Noah ihn genannt? –, Halbling war? Wenn er nun darüber nachdachte, ging ihm auf, dass Noah mit seinen endlosen Tiraden über die alten Zeiten und darüber, wie wichtig die Norländer waren, ein wenig wie die Bruderschaft klang.

      »Du warst mutig genug, den Mund aufzumachen«, sagte Asa zu Jo. »Gestern genauso wie heute.« Er machte eine kurze Pause. »Das wissen wir zu schätzen.«

      Jo, der kaum noch zuhörte, sah sich im Raum nach einem Fluchtweg um. Das hintere Fenster war wahrscheinlich am ehesten geeignet. Er musste zuerst lediglich an ein paar Dutzend Leuten vorbei, die allen Grund hatten, ihn zu verachten.

      Asa beobachtete ihn, seine blauen Augen leuchteten im Lampenschein. »Also schön, das reicht für deinen ersten Besuch.«

      Jo hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Was hatten sie mit ihm vor?

      »Wir würden dich doch nur langweilen mit unseren Schwelgereien«, sagte Asa aalglatt. »Du willst es sicher nicht hören, wenn alte Männer sich über bessere Zeiten unterhalten.«

      Jo zitterte. Bessere Zeiten? Besser für wen? Hoffentlich sah er weniger beunruhigt aus, als er sich fühlte.

      »Geh jetzt.« Asas Stimme veränderte sich und nahm einen Befehlston an. »Aber denk darüber nach, was wir gesagt haben. Einen Burschen wie dich können wir in der Bruderschaft gebrauchen.«

      Jo sah überrascht auf. Ihn gebrauchen, inwiefern? Etwa gegen seine Schwester? Wie kamen sie auf den Gedanken, dass er sich ihnen anschließen könnte? Dann fiel ihm ein, dass sie ihn gestern bei der Zeremonie beobachtet hatten.

       Sie hatten ihn von seiner schlimmsten Seite erlebt und jemanden in ihm gesehen, mit dem sie zusammenarbeiten wollten.

      Noch während er darüber nachdachte, wurde er zur Tür bugsiert. Mit halbem Ohr hörte er ihre Bemerkungen:

      »Warum lassen sie ihn gehen?«

      »Nützt uns mehr, wenn er freiwillig mitmacht.«

      »Sicher, dass er es ist?«

      Dann gaben ihm die Wachen sein Messer zurück und schubsten ihn hinaus auf die Straße.

      Jo stolperte und stürzte, dabei schürfte er sich die verbrannten Hände wieder auf, aus denen Blut und etwas Weißliches heraussickerte, das er an seiner immer noch feuchten Kleidung abwischte. Wieder allein. Er gehörte nicht hierhin. Er gehörte nirgendwohin. Es war dumm von ihm gewesen, etwas anderes zu glauben, aber das gute Essen und das starke Bier hatten ihn eingelullt.

      Eine Welle der Erschöpfung überrollte ihn, und seine Hände schmerzten so sehr, dass er nicht mehr klar denken konnte.

      Es gab nur einen Ort, wohin er jetzt noch gehen konnte.

      Jo stand auf und humpelte durch die Straßen, bis er eine fand, die er wiedererkannte. Er nahm den langen Weg, um sicher zu sein, dass ihm niemand folgte, und taumelte langsam zurück zur Höhle.

      Die Überquerung des Weststrands war anstrengend: Der Sand schien seine Füße einzusaugen, und er hätte sich am liebsten hineinfallen lassen, doch er war nicht sicher, ob er die Kraft finden würde, wieder aufzustehen. Seine Beine waren bleischwer. Trotzdem zwang er sich weiterzugehen.

      Er schaffte es bis in die erste Kammer, in der er seine Laterne zurückgelassen hatte. Mit zitternden Fingern schlug er mit dem Feuerstein mühsam einen Funken und zündete den Docht an.

      Dann wankte er taumelnd in die Dunkelheit.

      Als er die Treppe erreichte, merkte er, dass er die Laterne nicht richtig aufgedreht hatte. Sie flackerte und ging aus.

      Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, ein weiterer Beweis für seine Dummheit, auch wenn es eigentlich keiner Bestätigung mehr bedurfte. Nur ein Narr stolperte in ein Treffen der Bruderschaft, ohne es zu merken.

      Er verfluchte sich, schleuderte wütend die Lampe zu Boden und hörte, wie sie klirrend die Stufen hinabpolterte.

      »Gut gemacht, Jo«, murmelte er vor sich hin. »Das war sehr hilfreich.« Seufzend tappte er blindlings der Lampe hinterher.

      Plötzlich geschahen mehrere Dinge nacheinander: Jo rutschte auf dem verschütteten Lampenöl aus. Er fiel die Treppe hinab und schlug hart mit dem Kopf auf.

      Dann wurde alles schwarz.

      9. Kapitel

      Die Zeit verstrich auf merkwürdige Weise. Für Jo gab es nur zwei Zustände: Schmerz oder Schlaf. Es war dunkel, und er träumte: Drachen suchten nach ihm, sausten im Tiefflug über schwarzes Wasser, kamen näher und näher.

      Schweißnass und frierend schreckte er schließlich auf. Seine Finger bewegte er als Erstes: Er lag auf einem Bündel aus grobem Stoff, das nach altem Schweiß, Öl und Schmutz stank. Er fand eine Feldflasche neben sich, zog den Korken heraus und trank das Wasser in gierigen Schlucken, bis seine schmerzende Kehle streikte.

      Sein Kopf fühlte sich an, als hätte Iggie auf ihm gesessen, und seine rechte Schulter brannte bei jeder Bewegung. Er drehte sich um und versuchte, sich über die linke Seite aufzurichten.

      Er stöhnte. Dann biss er die Zähne zusammen.

      Wo war er? Wer hatte ihn an diesen Ort gebracht? Was ging hier vor?

      Als seine Gedanken ein wenig klarer wurden, sah er sich nach Hinweisen um.

      Er lag in einer kleinen Felsenkammer auf einem staubigen alten Umhang. Auf einem Vorsprung über seinem Kopf brannte matt eine altmodische Lampe. Es war nicht mehr als eine mit einem Schluck Öl gefüllte Muschelschale, aus der auf der einen Seite ein Docht herausragte. Sie würde bald erlöschen, also wollte Jo die Helligkeit nutzen, solange es ging. Die Kammer war klein und trocken und ansonsten leer.

      Da ihm bei jeder Kopfbewegung schwindlig und übel wurde, bewegte er sich so behutsam wie möglich. Langsam, ganz langsam ging er auf Hände und Knie. Dann merkte er, dass auch das nicht einfach war, weil er seinen rechten Arm nicht belasten konnte. Auf den linken gestützt, schob er sich zum Ausgang der Kammer und spähte hinaus: Vor ihm lag ein langer gerader Tunnel, von dem links eine steinerne Treppe nach oben führte.

      Jo kam mühsam auf die Beine. Er machte einen Schritt, dann noch einen.

      Purpurne Wolken vernebelten ihm die Sicht. Schweiß lief ihm über den Rücken. Dann fiel er wieder ins Dunkel.

      Zwei weitere Male erwachte Jo, versuchte sich zu bewegen und verlor erneut das Bewusstsein.

      Beim dritten Mal sah er verschwommen ein Gesicht, das sorgenvoll auf ihn herabschaute: »Hallo«, sagte es.

      Jo brachte irgendetwas zwischen Ächzen und Stöhnen zustande.

      »Tut es sehr weh?«

      Ächz.


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