Auslandspass Nr. 188042. Axel Rudolph

Auslandspass Nr. 188042 - Axel Rudolph


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wild mit den Kaffeetassen klappert und Mutter Brielow ächzend Eimer schleppt. Während Otto eine breite Stulle ohne Schwierigkeit in seinem Mund verschwinden läßt, mustert er nachdenklich das verschrumpelte alte Gesicht des Polen, der bescheiden auf dem Stuhl neben der Kochmaschine hockt.

      „Haste heut nacht den Schuß gehört, Franek?“

      „Hab ich nix gehört“, Franek schüttelt den Kopf, „hab ich geschlafen.“

      „Wat vor ’n Schuß?“ erkundigt sich Mutter Brielow streng. „Wat geht det uns an, wenn eener schießt!“

      „Na, ick meene ja man bloß, Mutter.“ Otto erzählt umständlich von dem Auto und dem Schuß. „Na, siehste, deshalb hätt ick Lust, mal den Jagdpächter zu fragen, wat ’n da los war.“

      „Sind det deine Angelegenheiten?“ erbost sich Mutter Brielow. „Det sind jar nich deine Angelegenheiten, Otto! Da halt du man die Finger von. Otto war heut nacht in Wiepswalde, Franek. Hat wohl bei Jastwirt Bethge een’ zuville getrunken, det er und hat uff‘n Heimweg so ’n Unsinn jehört.“

      „Jawoll. War in Wiepswalde“, echot Franek gehorsam.

      „Mecht ick wissen, wat dabei zu jrienen is, Franek. Wenn ick sage, det Otto in Wiepswalde war, denn is det so.“

      „Laß man, Mutter“, beruhigt Otto die Zürnende. „Franek is stieke. Und vor den ollen Dahlen hab ick keene Bange. Mit den kann ick reden, wie ick will. Wat meenste, Hildeken?“

      Hilde Brielow, die Achtzehnjährige, zuckt ärgerlich die runden Schultern und dreht dem augenzwinkernden Bruder energisch den Rücken. Otto nimmt den letzten Schluck Kaffee und zwängt sich zwischen Bank und Tisch hervor.

      „Na, denn komm man, Franek.“

      Mutter Brielow klappert wütend am Herd mit ihren Töpfen. „Ich denk, du willst auf Sehnitz zu und die Bretter holen!“

      „Mach ick ooch, Mutter. Wird allens jemacht. Vor Mittag treff ick Tischler Wolter man doch nich.“

      „Sonst haste woll nischt zu tun, wat? Otto, hör uff mir. Laß du andere Leute ihren Kram machen. Misch dir nich ein.“

      „Will ick ooch jar nich. Bloß wissen möcht ick, wat da heute nacht jespielt worden is. Det Auto, Mutter ...“

      „Ih, wat ick nich weeß, macht mir nich heeß.“

      Mutter Brielow hat noch allerhand auf dem Herzen, aber ihr Schimpfen stört Otto nicht mehr. Er ist bereits draußen und schreitet bedächtig die Dorfstraße entlang. Neben ihm trippelt, Korb am Arm, eifrig der kleine Franek, wie ein Schuljunge, der beglückt seinen Lehrer begleiten darf.

      Bei Tage sieht alles anders aus. Nichts Geisterhaftes ist an der glatten Landstraße, die sich zwischen den Kiefern und Fichten hinzieht, an der Heide, in die das Paar nun einbiegt und in der Otto Brielow jeden Baumstamm, jeden Ameisenhaufen kennt. Da ist das Jagdhaus, ein viereckiger, aus rohen Holzstämmen gefügter Bau mit einer kleinen Veranda vor der Tür. Etwa zehn Meter weiter rückwärts im Walde liegt der Holzschuppen, dicht dabei die Pumpe. Das Jagdhaus hat eine Küche, eine Wohnstube und ein Schlafzimmer. Es sieht sehr stilvoll und anheimelnd aus, wie es daliegt zwischen den hohen Kiefern. Die Vorderseite hat freien Blick über die große Lichtung. Über dem Eingang ist ein Hirschgeweih angenagelt.

      Die grüngestrichenen Läden vor Fenstern und Tür sind geschlossen. Otto Brielow sieht es erstaunt im Näherkommen. Sollte Herr von Dahlen schon fort sein? Da müßt er doch durchs Dorf gekommen sein. Aber wozu so früh? Der erste Zug nach Berlin geht doch erst um 10,24 Uhr von der Bahnstation Wagenitz, und die Bahnstation kann Dahlen doch mit seinem Fahrrad in knapp einer halben Stunde erreichen.

      Otto Brielow trampt mit seinen schweren Stiefeln auf die Veranda und pocht an die Tür. Ruft „Herr von Dahlen!“ In der Jagdhütte rührt sich nichts.

      „Scheint nich mehr dazusein, Franek. Wenn er noch hier wär, hätt er doch sicher nich die Läden zugemacht.“

      Franeks Mund steht offen. „Aber ich soll doch ... Pane von Dahlen hat gesagt, ich soll Eier bringen. Zehn frische Jaizi.“

      „Wann hat er det gesagt?“

      „Vorgestern, Pane Brielow. Wie ich bin hier gewesen mit Butter. Franek, hat Pane von Dahlen gesagt, iebermorgen zehn frische Eier. Jawohl, Pane, hab ich gesagt, werd ich bringen. Hat auch gehört fremdes Herr, wo war bei Pane von Dahlen.“

      „War Besuch da?“

      „Tak, Pane. Großes, junges Herr. Kenn ich nicht.“

      „Hatte der so ’n hellen Regenmantel an?“

      „Weiß nich, Pane Brielow. Saß in Stube und hatte keinen Mantel an. Aber Pane von Dahlen muß hier sein. Sonst er doch nich bestellen Franek mit frische Eier.“

      Nochmaliges Rufen und Klopfen. Otto geht um das Häuschen, sucht durch die Läden zu blicken und kommt unverrichteter Sache zurück. „Keener da, Franek. Wirste deine Eier man wieder heimtragen müssen.“

      Die unerwartete Abreise des Jagdpächters erörternd, gehen sie langsam durch den Wald zurück. Ein Dutzend Schritte nur, da bleibt Otto Brielow stehen, bückt sich und hebt etwas vom Boden auf.

      „Nanu! Det is doch ... Det sieht doch fast aus, als ob det der Schlüssel zum Jagdhaus wär.“

      Auch Franek betrachtet den langen, einfachen Schlüssel, den Otto in der Hand hält, und nickt eifrig. „Pia krew! Wird Pane von Dahlen haben verloren!“

      „Will doch mal kieken, ob det wirklich sein Schlüssel is.“ Otto Brielow macht kehrt und geht entschlossen zur Jagdhütte zurück, steckt vorsichtig den Schlüssel ins Schloß. Wahrhaftig, er läßt sich ganz leicht rumdrehen. Die Tür geht auf.

      Nur in die zunächstliegende Küche dringt das Tageslicht durch die offene Tür. Das nebenanliegende Wohnzimmer ist völlig dunkel, da die Läden fest geschlossen sind. Kalter Tabakgeruch hängt in der Luft. Dazu noch etwas, ein geringer, sonderbarer Geruch, der Otto Brielow verwundert schnuppern läßt. Er tastet sich im Finstern durch die Wohnstube, löst den Riegel und stößt den Fensterladen auf. Hell flutet das Sonnenlicht herein.

      Eine Minute später torkelt Otto Brielow wieder aus der Tür, zu Franek, der, noch immer seinen Korb am Arm, erwartungsvoll auf der Veranda stehengeblieben ist.

      „Franek!“ Ottos sonst so dröhnende, selbstgefällige Stimme ist heiser. Seine Augen sind ganz groß aufgerissen. „Lauf, was du kannst! Lauf schnell ins Dorf! Ruf beim Gastwirt Lange den Doktor an. Oder nee — sag Lange, er soll selber anrufen. Dein Polnisch versteht ja keiner. Der Doktor soll gleich hierherkommen, hörst du! Am besten auch ... ja, sag Lange, er soll auch gleich den Gendarm anrufen!“

      „Jesus, Pane Brielow! Doktor? Gendarm? Hierher? Zu Pane von Dahlen?“

      „Ja. Mach rasch, Mensch! Lauf! Da drinnen ...“ Otto zieht die Tür hinter sich zu und schüttelt sich wie in einem Frostschauer. „Drin liegt Herr von Dahlen. Er is dod!“

      Gendarmerieposten Pritzow

      In der zu meinem Postenbereich gehörenden Jagdhütte des Jagdreviers Röbelek bei Pritzow wurde heute morgen der Jagdpächter Felix von Dahlen in anscheinend bewußtlosem Zustand durch den Landwirt Otto Brielow aufgefunden. Fernmündlich verständigt, begab ich mich sofort dorthin und stellte folgendes fest:

      Jagdpächter von Dahlen ist durch einen Schuß aus seinem eigenen Jagdgewehr ums Leben gekommen. Nach Aussage des sofort herbeigeholten Arztes Dr. Menke ist der Tod bereits zwischen zwölf und zwei Uhr nachts — mindestens sieben Stunden vor Auffindung der Leiche — eingetreten. Die Leiche lag in der Wohnstube der Jagdhütte, neben einem Sessel. Unmittelbar davor lag das Jagdgewehr, aus dem der tödliche Schuß abgegeben worden ist. Die Kugel, die aus nächster Nähe abgefeuert worden ist, hat die rechte Schläfe durchschlagen und ist ins Gehirn gedrungen. Lage der Leiche und der Waffe lassen die Annahme eines Unglücksfalles oder Selbstmordes zu.

      Dem widerspricht jedoch die Tatsache, daß das Jagdhaus ordnungsgemäß verschlossen


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