Radanika. Die Gefangene des Urwalds. Robert Heymann
Schutze der Tiere des Waldes und in deinem heiligen Schimmer!
Eines Tages aber kam ich zu deiner Bambushütte, doch die Hütte war leer.
Die Spur deiner Schritte war verweht.
Bist du aufgestiegen zur letzten Erkenntnis, zum Nirwana? Ist deine Seele eingegangen in einen nenen Körper? Kali Belloh, der Teufel, hat keine Macht über dich. Warum aber über mich?
Ich weinte bitterlich. Viele Sonnenauf- und -niedergänge bin ich umhergewandert, dich zu finden; aber ich fand dich nicht. Und als ich dich am Rande der Dschungeln suchte, dort, wo man zu den fauchenden Drachen der Weissen gelangt, wo die Fremden wohnen, da überfielen sie mich und schleppten mich hierher. Warum hast du mir nicht beigestanden? Man hat mir Jasminkränze ins Haar geflochten, und du hast mich gelehrt, dass nur Buddhas Bild mit Jasmin geschmückt wird.
Wo bist du? Konntest du nicht verhindern, dass sie mich einfingen wie das törichte Elefantenbaby, das sich zu weit von der warnenden Mutter entfernt hat?
„Schlafe nicht auf üppigem Lager!“ steht auf dem Torbogen der Tempel des Erleuchteten.
Und ich ruhe hier zwischen Kissen und Fellen und Decken. Ich ersticke und leide und fürchte mich!“ —
Bei diesem Gedanken schnellte Radanika hoch, um aus diesem Gefängnis der Wohlgerüche zu entfliehen. Aber da fliegt ein Teppich zur Seite. Der Fürst steht vor ihr, in einen langen Seidenmantel gehüllt. Sein Lächeln verwirrt sie. Seine Augen unter dem Turban deuten Unheil, Schande. Seine Arme, die sich ausstrecken, erregen ihren Zorn. Scheint er doch vier Arme zu haben in seiner Gier, scheint er doch einen Elefantenkopf auf seinen breiten Schultern zu tragen, so wie der Gott Ganesch geschildert wird, den die armen Götzenanbeter auf Ceylon verehren.
Sie duckt sich, weicht zurück.
Er folgt ihr.
Warum sieht er mich so an mit seinen schmutzigen, schwarzen Augen? denkt Radanika. Er sinnt Böses. Sie entgleitet bis zur äussersten Säule. Aber der Radscha holt sie ein und umschlingt sie. Federnd hebt er sie empor. In diesem Augenblick erwacht das Blut in Radanika.
Die Milch der Leopardenmemmsahib.
Mit einer Kraft, die nie in dem gazellenschlanken Körper zu vermuten war, schnellt sie sich aus den Armen des Mannes. Wie eine Flamme auflodernd steht sie da. Pfeifendes Fauchen entflieht den halbgeöffneten Lippen. Die flammenden Lippen heben sich über das blinkende Gebiss. Sie zischt.
Ihre glitzernden Augen haben den Dolch entdeckt, den der Radscha am Gürtel trägt. Sie kennt die Bedeutung der Waffe. Die wenigen Matschimenschen, die durch die Dschungeln sich einen Weg bahnen, die seltenen Bewohner des Tarai, tragen solche Messer.
Stark und kräftig sind sie, der Stahl ist nach innen gebogen, Kuckrie nennen sie die Klinge.
Rascher als die schiessende Schlange ist ihr Arm nach dem Messer des Radschas vorgestossen, ihre Hand umspannt das tödliche Eisen.
Da stürzen Männer der Leibwache herein.
Radanikas Dschungelruf tönt durch den Palast. Mit der Gewandtheit der Kobra entschlüpft Radanika durch den Menschenknäuel. Marmorgänge sieht sie im Scheine der edelsteingeschmückten Lampen. Eine Treppe, so breit, dass der Staatselefant sie betreten kann. Wie der Vogel im Flug durchmisst sie den Palast.
Erreicht die mondscheinumflossenen Gärten, und ehe die Soldaten ihr folgen können, eilt sie schon durch die dichten Büsche in schnellstem Lauf, den Ausweg suchend.
Sie lockt und ruft und girrt in wachsender Verzweiflung. Aber sie findet den Ausweg nicht.
Inzwischen blinken Lichter an allen Enden und Ecken des Parkes. Fackeln spiegeln sich in dem stillen Teich. Vögel flattern erschreckt aus dem Schlaf. Von allen Seiten eilen Soldaten mit Waffen herbei. Radanika ist von neuem umstellt, von schreienden Männern umringt. In heller Wut wirft sie den Dolch. Doch man reisst sie nieder, bindet sie, man steckt die Beissende in einen Sack und schleift sie vor den alten Fürsten.
Blutrot ist das Geäder in seinen Augen. Er stampft vor Wut.
Röchelnd sagt er, als ob er Betel kaue:
„Den Tigern!“
Radanika fühlt sich emporgehoben und fortgetragen. Unergründliche Treppen rollt sie hinab in ihrem Sack. Schwer fällt sie auf Steinfliesen auf.
Was tut es, wenn sie Arme und Beine bricht? Morgen soll sie den Tigern in der Arena vorgeworfen werden!
7.
Eine Weile liegt Radanika still, betäubt von dem Sturz. Sie hat das Gefühl, als sei eben ein Laut erloschen, wie eine Sternschnuppe, die über den Himmel gefahren, ein Laut, der noch in ihren Ohren nachklingt.
Die Stille ist schwer.
Eiseskälte steigt aus der Erde.
Sie bewegt die müden Glieder. Allmählich kehrt ihre Besinnung zurück. Sie findet sich eingebunden in den Sack und fühlt die schmerzenden Stricke an den Gelenken. Ein verächtliches Lächeln gleitet über ihre Lippen in dem engen Gefängnis von Palmfasern und Wollstoff.
Sie bringt die Gelenke in die Höhe ihrer Lippen und schiebt die Fesseln zwischen ihre starken Zähne. Diese Zähne, machtvoll und weiss, die kraftvollen Kiefer in diesem zarten Mädchenmund erinnern an die Pracht eines Raubtiergebisses. Mit Leichtigkeit durchbeisst sie die Stricke und zerreisst den Sack. Sie ist frei.
Frei in einem undurchdringlichen Gewölbe von Kälte und Finsternis.
Horch! Da beginnt von neuem die Stimme, die in ihre halbe Bewusstlosigkeit noch nachgeklungen hatte. Radanika kauert auf den Knien und lauscht atemlos.
Ein Mann singt. Ein knarrendes, ächzendes Geräusch begleitet seinen monotonen Gesang. Ein Rad wird gedreht, das in verrosteten Gewinden hängt und dessen Speichen knarren. Schauerlich klingt dazu das Lied einer Stimme, fernher, leise, immer im gleichen Rhythmus, voll erdrückender Traurigkeit, ein Lied ohne Hoffnung, ein Lied ohne Licht. Der Instinkt sagt Radanika, dass jenseits der Mauer ein Mensch ist, gefangen gleich ihr.
Sie ruft in der Drawidasprache:
„Lebender, du, hinter der Mauer! Was singst du?“
Das unheimliche Geräusch hört auf. Es ist, als lauschen das tote Ding und der Mann gleichzeitig auf die seltsamen Laute aus lebendem Munde. Doch keine Antwort kommt.
Das Lied tönt wieder. Das Ächzen setzt sich fort. Radanika wiederholt ihre Frage in fast dialektfreiem Sanskrit, in jener Ursprache der Arier, die in den meisten Gebieten des nördlichen Indiens gesprochen wird. Der Einsiedler war ihr Lehrer, ebenso wie im Gutscharati, der Sprache des Handels. — Keine Antwort! Doch der Mensch hinter der Mauer horcht auf. Da, von irgendwoher, von oben, ein zorniger Ruf.
Das Ächzen beginnt wieder, wieder das klagende Lied. Radanika rezitiert langsam und feierlich einen Rik aus einem der 1028 Sukta der Rig-Veda, einen Vers aus dem Schöpfungslied:
„Damals war nicht Unsterblichkeit noch Tod,
Und ungeschieden von den Nächten war der Tag.
Nur einer atmet ohne fremden Hauch: Ein Gott.
Da war kein Ding, das über diesem lag — —“
Und siehe! Siehe! Höre, Ohr! — Radanika lauscht voll Entzücken und Bewunderung, denn nur der Einsiedler, glaubte sie bisher, kennt die Geheimnisse dieses ur-uralten Liedes. Von jenseits der Mauern kommt Antwort:
„Wie ward die Schöpfung, als sie einst vollbracht?
War sie geschaffen?
Ward von selbst das Licht?
Das weiss nur der, des Auge sie bewacht.
Im Himmel. — Oder weiss auch Gottes nicht?“
Stille folgt.
Wieder knarrt das tote Ding.
Tiefes Mitleid erfasst Radanika. Ein Mensch leidet.
Eine