Kein Krieg in Deutschland. Astrid Wenke
Gute.
Erst jetzt bemerkte Agnes, dass Adrienne nicht wie sonst in ihrem Bett lag. Sie musste früh aufgestanden sein, wollte vermutlich mit Agnes frühstücken. Seit Monaten hatten sie viel zu wenig Zeit füreinander.
Agnes lächelte, während sie an ihre Freundin dachte. Noch hatte der tägliche Weckruf ihren Gefühlen nichts anhaben können. Als Adrienne vor vielen Jahren erstmals ein Kinderfoto von Agnes gesehen hatte, hatte sie gelacht:
„So ein trotziges, einsames Mädchen. Das muss man einfach lieb haben.“ Sie hatte das Bild zärtlich angesehen und gestreichelt.
Agnes hatte die Worte ungläubig aufgenommen und verwahrt. Seit Jahren nährte sie heimlich ihre Liebe daraus, die Liebe zu sich selbst wie die zu Adrienne.
Agnes schüttelte unwillig über sich selbst den Kopf. »Träumerin«, schimpfte sie, »stehst hier rum, sentimental, ungewaschen und im Nachthemd.« Entschieden ging sie ins Bad. Die kalte Dusche würde sie aufwecken. Wenig später trat sie duftend und angekleidet in den runden Ess und Wohnraum. Adrienne ließ die Hand sinken, die gerade das Brötchen zu ihrem Mund geführt hatte. Ihr Mund klappte zu. Noch einmal zuckten ihre Augen über die Tagesnachrichten, die auf den Bildschirm in der Tischplatte übertragen wurden. Dann sah sie auf und suchte Agnes Blick. »Guten Morgen, Agnes.«
Agnes gähnte, ein Blick auf die Uhr. Schön, wenn Adrienne auf sie gewartet hatte, aber sie wollte nicht zu spät ins Labor, schaffte es womöglich nicht rechtzeitig zur Fütterung der genmanipulierten Mäuse.
»Du wirst mir immer fremder.« Adrienne betrachtete sie kühl.
Agnes’ Gesichtsmuskeln zuckten.
»Was ist?«
Adrienne näherte ihren Mund dem Tischmikrofon. »Artikel von gestern, Gentherapie«, forderte sie. Sie wartete, dass der Bildschirm reagierte, während Agnes sich setzte, zögernd nach einem Brötchen griff, es dann doch zurück in den Korb legte und stattdessen die Hände in ihrem Schoß stapelte.
»Das Ende der genetischen Selbstbestimmung?«
Adrienne las mit lauter, vorwurfsvoller Stimme. »Gläubige und andere Menschen, für die der Eingriff in das menschliche Erbmaterial ein Tabu ist, müssen sich auf schwere Zeiten einstellen. Vielen geht schon die genetische Sichtung der Embryoblasten zu weit, wie sie seit sieben Jahren für jede Schwangere Vorschrift ist. Jetzt bemühen sich einflussreiche Kräfte darum, auch die Manipulation bestimmter Gene zur allgemeinen Pflicht zu machen. Die angestrebte Regelung betrifft alle Gene, die anerkannte Erbkrankheiten wie zum Beispiel die Mucoviscidose vererben.«
»Ja«, sagte Agnes.
Adriennes Blick stach in Agnes’ Augen wie eine Pipette und saugte alles in sich hinein, was ihr schlecht erschien.
»Bitte, lass«, Agnes streckte ihre Hand über den Tisch zu Adrienne hin.
»Weißt du noch, was du gesagt hast?«, fragte Adrienne, ohne die ausgestreckte Hand zu beachten. »Weißt du, was sie über dich schreiben?«
Agnes erinnerte sich genau: Das verwirrende Gespräch mit Frida – Frida hatte sie aufgefordert, die Rede auf der Abschlussveranstaltung des Kongresses zur Gentherapie zu halten, und Agnes hatte es schließlich getan, unvorbereitet, mit ein paar Notizen und Anregungen von Frida.
»Es ist widersinnig, wenn Eltern das Recht haben, erbliches Leid an ihre Kinder weiterzugeben«, hatte sie erklärt. »Diesem fragwürdigen Recht misst die jetzige Gesetzgebung jedoch höheren Wert bei als den Bemühungen der Medizin, Erbkrankheiten endgültig aus dem menschlichen Genom zu tilgen.«
Blitzlichter waren aufgeflammt, wenig später war Agnes von Journalisten umstellt worden, die sie mit ihren Mikrofonen bedrängt hatten.
Die Gewissheit, dass die Mucoviscidose ausgerottet werden musste, hatte Agnes durch den Sturm von Unterstellungen, Verdrehungen und Fragen geleitet, dem sie dann eine gefühlte Ewigkeit ausgesetzt gewesen war.
Seit elf Jahren war die Bekämpfung dieser entsetzlichen Krankheit der bedeutungsvollste Inhalt ihres Lebens – abgesehen von ihrer Liebe zu Adrienne. »Eigentlich«, überlegte Agnes, »war beides nicht voneinander zu trennen.« Sie erinnerte sich lebhaft an den Tag, an dem es begonnen hatte: Sie hatte den Berg eben überwunden. Hinter ihr war Adrienne auf ihrem Fahrrad die letzten Meter bergauf gekeucht. »Juchuh«, hatte Agnes gerufen und den Lenker losgelassen. Mit ausgebreiteten Armen war sie ins Tal gerast, hatte gespürt, wie der Fahrtwind an ihrem leichten Seidentop zog. Sie rollte und rollte.
»Den Berg hoch bin ich langsamer, aber bergrunter hast du keine Chance«, hörte sie Adrienne neben sich mit betont gelassener Stimme sagen. Schon war Adrienne vorbeigesaust und Agnes strengte sich an, die Führung zurückzugewinnen. Auf gerader Strecke hatten sie die Räder auslaufen lassen und schließlich an einem Fleckchen Wiese gehalten. Es waren noch dreißig Kilometer nach Fredersdorf, wo Adriennes Schwester wohnte.
»Komm«, Adrienne zog Agnes zu sich ins Gras. »Leg dich auf mich.«
Agnes hatte die Augen geschlossen und Adrienne schlang die Arme fest um ihre Taille. Still hatten sie gelegen. »Ich zerfließe«, hatte Agnes gedacht.
»Ich bin so gespannt auf deine Schwester«, murmelte sie, während ihr Gesicht an Adriennes Wange rieb.
Adrienne seufzte wohlig.
»Ich freue mich vor allem auf die kleine Pauline! Ich hoffe nur, es geht ihr gut zur Zeit.«
Adrienne hatte dann bald aufbrechen wollen, war ungeduldig ihr Nichtchen wiederzusehen. Agnes hatte den Generator an ihrem Fahrrad angestellt. Ihr Modell war schon etwas älter, aber die Grundidee war die gleiche wie bei moderneren Geräten. Ihre Muskelkraft wurde in Strom umgewandelt, der in den Motor des Rades eingespeist wurde. »Dann sind wir schneller!«
»Faulpelz«, kommentierte Adrienne und trat energisch in die Pedale.
Adriennes Schwester Carla wohnte mit Pauline in einer ausgebauten Gartenlaube. Kaum hatten sie ihre Räder durch die Gartenpforte geschoben, als ein zartes Mädchen aus dem Haus stürzte. Es hustete und röchelte, während es auf sie zurannte.
»Tante Adrienne«, schrie das Mädchen mit hochrotem Gesicht.
»Paulinchen«, rief Adrienne. Sie nahm das kleine Wesen hoch und drückte es an sich.
»Ich dachte, sie wäre schon älter«, flüsterte Agnes ihr zu.
»Ich bin älter.« Pauline war gegen diese Art Bemerkungen gewappnet. »Ich bin acht. Ich wachse nicht, weil ich krank bin. Ich habe Mucoviscidose.«
Agnes bemerkte, wie ein eigenartiger Ausdruck in Adriennes Augen trat.
Später hatten sie in der Sonne gesessen. Es hatte Kuchen gegeben, Kaffee und Kakao. Kaum war ihr Kakao ausgetrunken, wollte Pauline mit der Tante spielen. Carla hatte sie zurückgehalten: »Nachher, Schätzchen, du musst erstmal inhalieren. Das weißt du doch.«
»Aber Tante Adrienne ...«, jammerte Pauline.
»Ich bleibe doch noch bis abends. Und zum Inhalieren komme ich natürlich mit.«
Pauline hatte am Küchentisch gesessen und sich den Inhalator vor das Gesicht gehalten, während Adrienne ihr Geschichten erzählte. Wenn es zu komisch wurde, musste Pauline aufhören zu inhalieren. Lachen und inhalieren, das ging nicht zusammen. Sie hustete, Luft quietschte durch den getrockneten Schleim in den Bronchien. Pauline kämpfte Zug um Zug um ihren Atem. Wieder trat der fremde Blick in Adriennes Augen und Agnes begriff, dass es Schmerz war. Das war der Moment gewesen, in dem Agnes Krauß beschloss, die Mucoviscidose zu besiegen.
Agnes schob ihre Hand weiter zu Adrienne hinüber. »Ich habe gesagt, was ich für richtig halte.«
Adrienne beobachtete sie. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.
»Die anerkannte Gentherapeutin Agnes Krauß erhielt insbesondere von den Vertreterinnen der Krankenversicherungen Applaus. Man strebe eine Übereinkunft an, die Behandlung von Krankheiten, die infolge verweigerter embryonaler Genomtherapie vererbt wurden, generell aus dem Leistungskatalog