Kein Krieg in Deutschland. Astrid Wenke

Kein Krieg in Deutschland - Astrid Wenke


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bis wir mit der Gentherapie der Menschheit weiter vorangeschritten sind.«

      »Das ist absurd«, Agnes wurde laut.

      »Wahr! Nur, wie lange liegen deine Versuche zur genetischen Therapie der motorischen Unruhe beim Menschen schon brach? Wie viel weiter könnten wir sein? Es sind die Menschen, die sich über die Regeln ihrer Zeit hinwegsetzen, die ihre Zeit voranbringen.«

      »Es geht um die Zukunft unserer Art«, sagte Agnes fest. »Das dürfen wir nicht allein entscheiden.«

      Frida sah sie mit weit geöffneten Augen an. »Ich wünschte, ich hätte deine Geradlinigkeit.«

      Wenig später verließ Agnes das Büro. Beinahe rannte sie. Sie war glücklich, als sie ihr Labor erreichte: Das Weiß der Wände, die glatte Fläche ihres Arbeitstisches, die klirrende Härte der Reagenz- und Bechergläser. Hier herrschte Klarheit, Gewissheit. Mit routinierten Griffen zog sie die Box mit der Aufschrift »Mucoviscidose-Manipulation« aus dem Trockeneis, griff eines der elf Röhrchen heraus und stellte es in die Halterung. Sie stutzte. Irgendetwas war da gewesen, da stimmte was nicht, aber was war es? »Unsinn«, dachte sie sich, aber das Gefühl blieb, während sie unter dem Mikroskop mit der Therapie begann. Nach einer Stunde konzentrierter Arbeit stellte sie die genveränderten Embryoblasten zurück. Dabei bemerkte sie es: Der Deckel der »anderen Box« war nicht verschlossen, lag nur locker oben auf. Die »andere Box«: Agnes hatte die Diagnostik gebeten, überzählige Embryoblasten, wie sie regelmäßig bei künstlichen Befruchtungen anfielen, screenen zu dürfen. Sie war sich sicher, die Basenfolgen zu kennen, die die motorische Unruhe kodierten. Wenn sie einen Embryoblast entdeckte, der das Phänomen aufwies, sortierte sie ihn in die »andere Box« – für später. Irgendwann würde sie daran forschen dürfen. Jetzt stand die Box offen.

      »Die Wunder des Alltags«, murmelte Agnes. Sowas passierte. Sie zögerte. Es wäre ein Leichtes gewesen, eine der Zellkugeln herauszunehmen, nur um sie unter dem Mikroskop genauer zu betrachten. Agnes drehte entschieden den Deckel zu. Sie war fertig hier. Als sie mit ihrer Aktentasche auf dem Flur stand, gab sie wie üblich den Verriegelungscode auf ihrem Handy ein, das Schloss der Labortür leuchtete rot auf. Agnes wandte sich zum Gehen, kehrte jedoch nach einigen Schritten um und drückte gegen die Labortür. Alles in Ordnung, die Tür war verschlossen.

      Plötzlich verspürte Agnes Angst. Sie wollte nach Hause zu Adrienne. In ihrem Büro stellte sie fest, dass Robert schon gegangen war. Agnes schickte ihm eine Notiz auf den Schirm für informelle Kurznachrichten: »Hast du kürzlich die Box mit den motorisch Unruhigen geöffnet? Wer hat alles den Schließcode vom Labor? Bis morgen! Agnes.«

      Agnes nahm den Außenfahrstuhl hoch zu ihrem Apartment. In der Wohnung war es dunkel, als sie aus dem Fahrstuhl stieg. Sie zoomte das Licht hoch. Keine Nachricht auf dem Küchentisch. Heute Morgen hatte dort ihre offene Hand gelegen. Agnes setzte sich an den Tisch und legte den Arm so, wie er am Morgen dort gelegen hatte.

      Sie hatte es nie gemocht, allein in die dunkle Wohnung zu kommen. Adrienne hatte ihr geraten, eine Freundin anzurufen, wenn sie sich allein fühlte. Erst viel später verstand sie, dass Agnes keine Freundin hatte, die sie anrufen würde.

      Sie hatten sich geeinigt, dass Adrienne eine Nachricht hinterließ, wenn sie ohne Absprache abends ausging. Mit wenigen Ausnahmen hatte Adrienne sich daran gehalten. Heute lag keine Nachricht da. Auch auf dem Handy war keine Message angekommen.

      Agnes drückte die Radiofunktion. Der Nachrichtensprecher hatte eine tiefe, beruhigende Stimme. Aber dann begann er, Agnes von den schwarzen Hubschraubern zu berichten, die an der Mauer des Hochhauses aufgestiegen waren. Sie wollte nichts darüber hören und schaltete das Radio aus.

      In den vergangenen Jahren war es meist Agnes gewesen, die abends nicht zu Hause war, weil sie bis spät in die Nacht arbeitete. Was machte das schon?, dachte sie. Adrienne hatte so viele Freundinnen.

      »Nicht schlimm?«, hatte Adrienne irgendwann gebrüllt. »was denkst du denn! Ich möchte mit dir Zeit verbringen. Mit dir, verstehst du?«

      Nein, Agnes verstand das nicht – nicht wirklich –, aber es war doch schön. Sie hatte weinen müssen.

      Als sie später ins Bett gegangen waren, hatten sie nach langer Zeit wieder miteinander geschlafen. Agnes lächelte in der Erinnerung daran. Dann versickerte das Lächeln in den Minuten, die vergingen. Sie spürte die Stille und Leere der Wohnung.

      Adrienne war nicht da und Frida wollte, dass sie illegale Experimente durchführte. Agnes nahm das Handy und zielte auf den Vorratsschrank. Die Tür sprang auf. Sie stellte die Magnetfunktion ein. Geniale Erfindung, die Weinflasche flog geradezu auf den Tisch. Seit der Magnettransport auf fast jedem Handy installiert war, waren in alle Verpackungen Metallstückchen eingearbeitet. Agnes hatte zudem Geschirr mit Metallstreifen gekauft, sobald es auf dem Markt war. Jetzt holte sie sich mit der Magnetfunktion ein Glas.

      »Mit diesen Erfindungen wird die Menschheit es tatsächlich noch schaffen, aus Bewegungslust eine Krankheit zu erschaffen«, hatte Adrienne genörgelt, als Agnes ihr begeistert die neuen Errungenschaften vorführte.

      Schchch. Agnes schreckte auf. Das war der Fahrstuhl und er hielt direkt an der Außenwand der Küche. Die Tür öffnete sich und Agnes musste lachen, fiel Adrienne um den Hals. »Da bist du endlich. Ich hatte Angst, ganz alleine.«

      »Hallo Agnes«, Helge stieg aus dem Fahrstuhl.

      »Wir waren in der Redaktion«, Adrienne drückte Agnes an sich,: »Schön, dass du da bist.«

      »Warum wart ihr in der Redaktion? Heute hast du frei, es ist Donnerstag.«

      »Wegen der Demo«, mischte Helge sich ein. »Wir haben uns gewundert, wieso diese umstrittene Organisation spontan eine Großdemo auf die Beine stellen kann.«

      »Es war alles schon lange geplant«, erklärte Adrienne, »sie wollten verhindern, dass es im Vorfeld Proteste gibt. Die Mitglieder sind über Mail informiert worden und haben über Mundpropaganda und Mailkontakt den Demotermin an Interessierte weitergegeben.«

      Agnes überlegte; »Sie müssen viele Anhänger haben, wenn sie diese Masse nur durch Mundpropaganda mobilisiert haben.«

      »Die Leute werden gefährlich.«

      »Warum hat die Stadt ihnen die Genehmigung erteilt?«

      »Weißt du das nicht?«, fragte Adrienne.

      »Nein.«

      »Rohloff, der derzeitige Bettgenosse deiner Frida und Sohn von Viktor Rohloff, Eigentümer des Unternehmens Manipulation und Kloning von Tieren und Pflanzen, hat unserem Bürgermeister einen Besuch abgestattet.«

      »Ach. Rohloff geht mit Frida ins Bett. Ich dachte, er ist ihr Stichwortgeber.«

      »Der sticht sie wohl nicht nur mit Worten.« Helge kicherte. Adrienne musterte ihn mit einem Blick aus dem Augenwinkel. Helge zog für einen Moment den Kopf ein.

      »Wie auch immer, dieser Rohloff hat gesagt, wegen der Aktualität des Themas würde eure Abteilung und auch die Firma seines Vaters befürworten, dass die OzEmG ihre Demo durchführen kann und eine öffentliche Diskussion anstößt.«

      »Aber woher wusste er davon, wenn nur Mitglieder …«, Agnes stockte, überlegte, »… und ihre Transparente haben sich auf meine Rede bezogen. Woher wussten sie, was ich sagen würde?«

      »Du weißt es nicht? Wir dachten, du weißt vielleicht mehr.«

      »Irgendetwas stimmt hier nicht.« Agnes erzählte von Fridas unausgesprochener Aufforderung und der geöffneten Box mit den Embryoblasten. »Ich will das nicht!« Sie sah Adrienne an und ballte die Fäuste. »Ich bin überzeugt von der Gentherapie, aber die Menschen müssen sich dafür entscheiden. Ich will nicht Gott spielen.«

      Adriennes Augen umfassten sie ruhig und liebevoll: »Ich weiß, dass du das nicht willst.«

      »Morgen ist die Gegendemo der Christen«, unterbrach Helge. »Wir fanden eine Demonstration etwas mager, um eine öffentliche Diskussion anzustoßen, das sieht doch eher nach Manipulation der Bevölkerung aus. So haben wir das dem Bürgermeister gesagt.


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