Mythos Mensch. Frank Lisson

Mythos Mensch - Frank Lisson


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diejenigen, die verhindert worden sind, ins Leben gefunden hätten, wäre die Welt keine andere als die heutige! Darin liegt der Beweis, wie wenig es auf jeden Einzelnen ankommt, und dass Leben immer nur sich selber über die verschiedenen Arten, niemals aber echte Individuen hervorbringt. Heute wachsen weltweit Generationen heran, die ein Vermischungs- und Nivellierungswunsch antreibt, der sich vielleicht nur mit dem Willen zur Ökumene im Hellenismus vergleichen lässt, später mit dem Willen zur Weltkirche. Fast alle kulturelle Entwicklung tendiert zur Vereinheitlichung, zur Überwindung gewachsener Unterschiede. Darin scheint ein geschichtsanthropologisches Lebensprinzip zu liegen, das sich überall beobachten lässt, wo die jeweiligen Bedingungen und historischen Erfahrungen einen solchen Prozess erlaubten. – Deshalb werden schon in naher Zukunft die wirklich großen Fragen nicht mehr politischer oder soziokultureller Natur sein, die ja bereits heute bloß noch als Showgefechte stattfinden, sondern sich an die Begabung des Einzelnen zur Eigenrezeptivität und Selbstreferenz richten und dadurch eine grandiose Erweiterung in die Tiefenschichten entpersonalisierter Weltwahrnehmung erfahren, wie sie dem bisherigen Menschen kaum zu verkraften sein würden. Für die nächsten Jahrhunderte steht eine derart gründliche Selbstrevision bevor, deren Ergebnisse uns heute noch erschaudern ließen. Bald schon dürfte man dem Zeitraum vom Altertum bis zum zweiten Millennium gleich fremd und überlegen gegenüberstehen wie wir Heutigen dem prähistorischen Menschen der Eiszeit. – Der in diesem Sinne erkenntnistheoretisch erweiterte Mensch wird seiner eigenen Apparatur zunehmend ferner rücken, zu sich selber und zu allen anderen noch mehr auf Distanz gehen, sich vielleicht gar nicht mehr als Teil irgendeiner definierbaren Gruppe verstehen, sondern als das Ewige, Einzige und Ganze begreifen lernen, worin sich die Welt als solche spiegelt und erhält. Niemand gehört dann noch sich selber, ja nicht einmal einer Nation oder Kultur oder irgendeiner anderen Klassifikation an. Vielmehr ist er in der Struktur eines sich fortwährend erneuernden Netzwerkes oder Schwarmes aufgegangen, dem er überindividuell und ganz automatisch zugehört wie ein energetischer Faktor. In einem solchen Zustand der Kumpanei, mit dem Aufgehen und Heimkehren ins Gattungskollektiv, kann sich niemand mehr seiner sicher sein; und der Mensch wird vielleicht irgendwann gänzlich davon abkommen, von sich im Singular als eines klar bestimmbaren Subjekts zu sprechen. »Es könnte sein«, wie kluge Beobachter bereits am Ende des 20. Jahrhunderts bemerkten, »daß die dritte Stufe der Verarbeitung von Informationen (nach Sprache und Schrift), die wir gerade jetzt durchleben, nochmals ganz grundsätzliche Veränderungen der sozialen Interaktion bringen wird. Mit dem elektronischen Netzwerk des computerisierten Weltdorfs werden die gemeinsam zugänglichen Informationen und die entsprechenden Programme allgegenwärtig; sie lassen das Individuum definitiv hinter sich. In der Literaturwissenschaft ist der ›Verlust des Subjekts‹ oder ›des Autors‹ bereits zum Schlagwort geworden.«3 – Möglicherweise beginnt also mit dem globalen Siegeszug der Digitalisierung des Lebens sowie der One-World-Verbraucher-Ideologie eine geistig-materielle Erneuerung der Menschheit von Grund aus, wie sie zuletzt nach der epidemischen Verbreitung der christlichen Erlöserreligion stattgefunden hat.

      Unterschätzte Natur. – Dass wir uns nicht vorstellen können, wie etwas so Komplexes und Kompliziertes wie menschliches Leben aus der Natur hervorgegangen sein kann, sondern eines »Schöpfers«bedurft haben müsse, liegt freilich an unserer eigenen Beschränkung, die uns unsere Art auferlegt. Jedes andere Wesen, auch das primitivste, müsste, wenn es denken könnte, ebenso reagieren. Diese Kurzsichtigkeit, sich außerhalb des Spektrums von Pflanzen, Insekten, Fischen oder Säugetieren zu wähnen und von seiner »Ebenbildlichkeit Gottes« überzeugt zu sein, wäre vielleicht noch hinnehmbar, wenn der Mensch das einzige Lebewesen auf Erden verkörperte. Doch da es so viele Stufen und Entwicklungsgrade des Lebens gibt, verwundert die Behauptung, Leben könne nicht aus der Natur selber hervorgegangen sein, obwohl sich doch überall beobachten lässt, welche verschlungenen und verzweigten Wege der Artenbildung die Natur einzuschlagen fähig ist.

      Zum Irren veranlagt. – Müssten nicht all jene, die vorgeben, »selber zu denken«, zu den gleichen Ergebnissen kommen? Denn was hätte »Selberdenken« für einen Sinn, wenn darin doch bloß die Rechtfertigung zur Verteidigung der eigenen Torheiten läge? Wie bilden und entwickeln sich verschiedene Anschauungen von der Welt, da doch allen Menschen stets die gleichen Wahrheiten, bloß hinter verschiedenen Wirklichkeiten verborgen, zur Verfügung stehen? Verschiedene philosophische Modelle können nur dort zustande kommen, wo unzureichend gedacht wird. Wie hätte es je Fraktionen geben können, wenn nicht alle Anhänger der verschiedenen Schulen auf ihre Weise irrten? Ein fehlerhaftes System weist einem anderen fehlerhaften System Fehler nach. Das war die Leistung des deutschen Idealismus, der sich für oder wider Kant definierte. Und darum ähneln sich die Verläufe kultureller Entwicklungen so sehr. Jeder kann leicht an sich selber beobachten, dass er zu denjenigen Einsichten, Urteilen, Qualitäten, die ihn jetzt bestimmen, einst noch nicht fähig war. Wo das gleiche oder gleich gedacht wird – wie in den sogenannten philosophischen Schulen –, haben wir es selten mit Überzeugungen aufgrund logischer Beweisführung zu tun, sondern mit mentaler Verwandtschaft: ähnliche Voraussetzungen oder Anlagen führen zu ähnlichen Ergebnissen. – Daher ist Philosophie vor allem eine Charakterfrage.

      Worauf beruht Übereinstimmung? – Man stimmt überein heißt: man hängt der gleichen Stimmung an, teilt das gleiche Wollen, ist ähnlich veranlagt, verfolgt die gleichen Ziele, trägt sich mit den gleichen Absichten. Diese entstehen infolge ähnlicher Ausrichtungen und Erfahrungen, also aus rein subjektiver Prägung, über die niemand Gewalt hat. So ist der Mensch das Abbild der Reaktion seiner Instinkte auf bestimmte Ereignisse, woraus seine Anschauungen und Gesinnungen erwachsen, die ihn fortan steuern und die Menschen verschieden sein lassen. Denn die Welt ist das, was sich ereignet. Die Verhältnisse oder Beziehungen zwischen den Ereignissen ergeben das, was jede Generation als »Zeitgeist« erfährt. – Aus solchen, unseren inneren Erfahrungen schließen wir auf die Welt, denn wir suchen überall nach Analogien zu uns selber, also zu unseren Regungen. Wir mögen und bevorzugen, womit wir uns selber identifizieren können, worin wir uns erkennen, da wir die Welt nach uns selber absuchen. Worin wir uns wiederfinden, darin stimmen wir überein – notfalls auch gegen die Tatsachen objektiver Erfahrung.

      Vom Mythos zum Logarithmus. – Alle Systeme – von Platon über Schopenhauer bis Marx – unterliegen dem Grundmakel, dass sie naturgemäß Menschenwerk sind und also unter den Bedingungen menschlicher Ausrichtung gleichsam mythologisch funktionieren, nicht aber an und für sich Geltung haben können. Alle Systeme spiegeln, wie der Mythos, nur die Möglichkeiten unseres Denkens, nicht aber die Welt oder die Dinge, wie sie für sich, also unabhängig vom Menschen bestehen. Denn Mensch und Welt bilden zwei in sich geschlossene Räume, die nur über die menschliche Empfindung miteinander verbunden sind. Deshalb ist uns die Welt »an sich« nicht zugänglich; wir gehören dort nicht hinein, sondern nur in jene, die das Bild ist, das wir uns von ihr machen. Die Denkfähigkeit, Perzeption etc., die den Menschen von allen anderen Lebensformen so wesentlich unterscheidet, schließt ihn eben deshalb von jener Welt aus, die alle anderen bewohnen. Eine Ahnung davon schlich bereits durch das Altertum, als sich Philosophen wie Thales, Anaximander oder Heraklit erstmals entschieden gegen die Macht der Mythen wandten; Hekataios von Milet versuchte nachweisbar vielleicht als erster, den Mythos zu rationalisieren… – Nun nehmen allmählich Maschinen den Platz der frühen Mythen ein; Geschöpfe, die freilich den Vorteil gegenüber den alten Göttern haben, tatsächlich greifbar zu sein, wo sie gebraucht werden.

      Verweigerung. – Gewisse Tatsachen sind der menschlichen Eitelkeit und Naivität so zuwider, dass sie von jeder nachwachsenden Generation neu geleugnet werden; so die längst bekannte, völlig evidente und immer wieder ausgesprochene4 Wahrheit, dass »Seele« und »Geist« nicht für sich bestehen, nicht vom Organismus losgelöst zu denken sind, sondern bloß poetische Bezeichnungen für Genfunktionen darstellen, dass sie gar nichts anderes sein können als eben dieses, folglich mit der menschlichen Natur entstehen und vergehen. – Alle politisch-religiösen Anschauungen entsprechen menschlichen Eigenschaften. Es gibt keine »Kultur«, deren Motive nicht in der Natur des Menschen lägen. Der Einzelne hat darauf keinen Einfluss; jeder ist bloß Abglanz von Motivpaletten, deren verschiedene Farbtöne nach und nach zur Geltung gelangen.

      Grundnatur. – Gibt es ein intellektuales Recht auf moralischen Widerstand gegen die Grundnatur menschlicher Verhaltensweisen, oder gibt es womöglich eine biologische Pflicht zum Erdulden,


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