Helden für einen Sommer. Jürgen Thiem

Helden für einen Sommer - Jürgen Thiem


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in Münster wechselt er den Polen ein, um ihn zwei Minuten später wieder rauszunehmen.

      Gutendorf selbst legt Wert auf sein Äußeres, will jugendlich erscheinen. Ein Drang, der mitunter skurrile Formen annimmt. So kommt es häufiger vor, dass Spieler vergeblich nach ihren Vitamintabletten suchen, die nach Trainingseinheiten regelmäßig in der Kabine der Glückauf-Kampfbahn ausgelegt werden. Gerne wirft sich der Trainer selbst das eine oder andere Präparat ein. Bei Flügen zu Europacupspielen grinsen die Spieler über seinen gewöhnungsbedürftigen Modestil. Während ein feiner Zwirn Oberkörper und Beine kleidet, finden sich seine Füße schon mal in vulgären Turnschuhen wieder.

      Auch seine Kurzsichtigkeit spielt ihm den einen oder anderen Streich. Weil er sich von einer Brille verunstaltet fühlt, trägt er Kontaktlinsen. Es sind Exemplare der ersten Generation, Haftschalen genannt. Mit dem einzigen Problem, dass sie nicht immer halten, was ihr Name verspricht. Hin und wieder haften sie nicht. So soll es auch bei einem Flutlichtspiel am 21. April 1970 auf dem Betzenberg gewesen sein. In der 65. Minute zeigt Schiedsrichter Frickel auf den Punkt. Doch noch bevor Otto Rehhagel den Strafstoß zum 1:1-Endstand verwandeln kann, ist lautes Gelächter auf der Schalker Bank zu vernehmen. Gutendorf soll seine zunächst verdutzten Spieler mit der ins Feld geschrienen Frage behelligt haben: „Warum macht denn keiner ’ne Mauer?!“

      Es sind diese und andere Kleinigkeiten, die auf Dauer an seiner Autorität nagen. Der schmale Grat zwischen PR-Aktion und sinnvoller Maßnahme ist für viele Spieler überschritten, als Gutendorf sie auf dem tiefen Geläuf der Trabrennbahn einem selbst gesteuerten Sulky hinterherrennen lässt. So etwas kommt bei der Presse gut an, bei der Mannschaft nicht.

      Auch die uneingeschränkte Rückendeckung für Kapitän Libuda können manche nicht mehr nachvollziehen. Immer häufiger leistet sich der Star der Mannschaft Extratouren, die Gutendorf nur noch bedingt geheim halten kann. Am 23. Dezember 1969 wird Libudas Wohnhaus im Haverkamp von mehreren Polizeiwagen mit Blaulicht großräumig abgeriegelt. Eine schwangere Frau hat den Nationalspieler der sexuellen Belästigung bezichtigt. Libuda verbringt die Nacht zu Heiligabend in Untersuchungshaft, wird am nächsten Morgen auf freien Fuß gesetzt. Im Januar 1970 wird das Ermittlungsverfahren der Essener Staatsanwaltschaft mangels Beweisen eingestellt.

      Mit Beginn der Rückrunde verabschiedet sich die Mannschaft endgültig aus dem Titelrennen. Wegen des schneereichen Winters kommt es zu zahlreichen Spielausfällen. Im Februar und März gibt es aufgrund der Nachholspiele allein vier englische Wochen. Nur im Europacup scheint die Terminfülle dem Team nichts anhaben zu können. Die Spiele im Wettbewerb der Pokalsieger gehen in die Geschichte ein. Allen voran der erste Auftritt beim irischen Vertreter Shamrock Rovers.

      Vorm Spiel schreibt der Irish Independent, Gelsenkirchen sei ein Wintersportzentrum zwischen Düsseldorf und Köln. Doch statt mit den Iren Schlitten zu fahren, stochern die Schalker im Hinspiel kräftig im Nebel rum. Beim Abschlusstraining hat Gutendorf seine Stammelf gegen eine durch Nigbur und Rüssmann verstärkte Journalistenauswahl kicken lassen. Das Spiel endet 1:1. Gutendorf tobt. Abends dann, im kleinen Dubliner Stadion, fehlt ihm vollends der Durchblick. Was diesmal nichts mit seinen Kontaktlinsen zu tun hat. Der Nebel ist so dicht, dass sich alle wundern, warum der dänische Unparteiische die Partie anpfeift. Plötzlich ein Schrei auf dem Rasen. Stille. Von der Pressetribüne, einem Bretterverschlag, rufen Reporter herunter: „Was ist passiert?“ Aus dem Nebel antwortet einer: „Tor!“ Frage von oben: „Für wen?“ Antwort aus dem Nebel: „Für uns!“ „Wer hat’s gemacht?“ „Ich!“ „Wer bist du denn?“ „Der Pirkner!“

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       Bringen Farbe in den tristen Gelsenkirchener Alltag: Trainer Rudi Gutendorf und seine attraktive Frau Ute.

      Am Ende beweisen die Gastgeber die bessere Orientierung, gewinnen das Spiel 2:1. In der Kabine ist Norbert Nigbur erstaunt über das Trikot von Klaus Scheer: „Wovon bist du eigentlich so dreckig?“ Dem Torwart war – mangels Sicht – völlig entgangen, dass Scheer zehn Minuten vor Schluss eingewechselt worden war. Die Wut über die Niederlage lässt die Mannschaft noch in der kleinen stickigen Kabine schwören: „Im Rückspiel kriegen die zehn Stück.“ Es werden immerhin drei.

      In Runde zwei fällt gegen IFK Norrköping aus Schweden ein einziges Tor. Klaus Scheer erzielt es im Rückspiel, bei dem auch Aki Lütkebohmert mittun darf. Gutendorf setzt den Bundeswehrsoldaten immer häufiger im Mittelfeld ein. Mit dem 3:1-Sieg bei Dinamo Zagreb gelingt im Hinspiel des Viertelfinales eine echte Sensation. Grund genug eigentlich, die Tassen hochzuheben. Stattdessen kommt es zum Eklat. Nach dem Schlusspfiff poltert Günter Siebert in die Kabine rein, droht dem Trainer vor der versammelten Mannschaft lautstark mit Rauswurf.

      Was war passiert? Gutendorf soll Siebert auf der Trainerbank als „Schwein“ beleidigt haben. Später nach der Landung auf dem Düsseldorfer Flughafen sieht sich der Trainer genötigt, zu schwören, dass er Siebert nicht beleidigt habe. Wohl aber habe ihm Siebert ständig in taktische Dinge hineingeredet, habe unter anderem nach Erlhoff und Lütkebohmert mit Galbierz noch einen dritten Einwechselspieler gefordert. Gutendorf fürchtet um seine ohnehin bereits stark lädierte Autorität. Am darauffolgenden Freitagabend, den 6. März 1970, wird der Streit nach einer dreistündigen Sitzung von Vorstand und Verwaltungsrat offiziell beigelegt. Der bedauernswerte Beinbruch von Verteidiger Klaus Senger sowie die besondere Bedeutung des Spiels hätten die ungewohnte Nervosität verursacht. Beide Seiten garantieren – offiziell – weiterhin harmonische Zusammenarbeit.

      Das Rückspiel gewinnt Schalke 1:0. Wieder ist Klaus Scheer der Siegtorschütze, wenn auch kein astreiner. Sein ohnehin nicht mehr entscheidender Treffer hätte gar nicht zählen dürfen. Durch ein Loch im Netz findet der flach geschossene Ball knapp neben dem Außenpfosten den Weg ins Tor. Viele haben’s gesehen, der rumänische Schiedsrichter nicht.

      Sei’s drum. Schalke steht im Halbfinale. Angesichts des größten internationalen Erfolgs der Vereinsgeschichte glätten sich die Wogen im Machtkampf Präsident gegen Trainer. Vorübergehend. Der Spielerrat wird bei Siebert vorstellig. Der Präsident soll eine Prämie fürs Erreichen des Halbfinales locker machen. Schon für den Einzug in den Wettbewerb hatte Siebert nichts zahlen wollen. Nach zähem Ringen bewilligte er 500 Mark pro Mann. Jetzt ist’s immerhin das Doppelte. Im Schneeregen des 1. April bezwingen die Schalker Manchester City durch ein Libuda-Tor mit 1:0. Siebert erhöht den Einsatz für den Fall, dass die Sensation, der Einzug ins Finale, gelingt. Von 5.000 Mark, der höchsten je auf Schalke gezahlten Prämie, ist die Rede. Er kann sich sein Geld sparen.

      Vorher aber noch sorgen zwei äußerst schwache Darbietungen in der Bundesliga für reichlich Gesprächsstoff. Beim 1:3 in Hannover taucht erstmals das Wort „Schiebung“ im Zusammenhang mit einem Schalker Spiel auf. Gutendorf und die Spieler weisen die Vorwürfe weit von sich. In der Presse kommt besonders Aki Lütkebohmert schlecht weg. In wenigen Tagen würde er seinen Wehrdienst nach insgesamt 18 Monaten beenden. Für Siebert und Gutendorf steht jetzt – ausnahmsweise mal unisono – fest: Aki wird seine Form steigern und in Zukunft noch Großes für Schalke leisten. Siebert ist diese Überzeugung eine Vertragsverlängerung um zwei Jahre und ein Handgeld in Höhe von 40.000 Mark wert. Noch aber ist nichts unterschrieben. Und noch ist Aki nicht in der Lage, das in ihn gesetzte Vertrauen zurückzuzahlen.

      Auch nicht eine Woche später. Beim Heimspiel gegen den HSV muss er wieder als Linksaußen ran. Diesmal quittieren die 10.000 verbliebenen Schalker Fans die müde Vorstellung der Mannschaft mit „Aufhören, Aufhören“-Rufen. In der 62. Minute greift Gutendorf zu einer unkonventionellen Maßnahme. Er lässt den Stadionsprecher eine Entschuldigung sprechen: „Haben Sie doch bitte Verständnis dafür, dass unsere Mannschaft innerhalb von 50 Tagen ihr 18. Spiel austrägt!“ Die Durchsage geht im Hohngelächter unter. Das Spiel endet 1:1.

      Doch damit an schlechter Stimmung noch nicht genug vorm historischen Rückspiel in Manchester. Eine Woche zuvor, beim Freundschaftsländerspiel Österreich gegen CSSR, verletzt sich Hansi Pirkner so schwer, dass er fürs Rückspiel in England ausfällt. Der DFB hatte Pirkners Freistellung für Schalkes DFB-Pokalspiel am folgenden Tag in Alsenborn ausgehandelt. Siebert hatte gegen Gutendorfs Willen Verzicht geäußert, sonnte sich dafür jetzt in Zeitungs- und Fernsehinterviews


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