Helden für einen Sommer. Jürgen Thiem
Autobahn ein Reifen seines Autos. Mit an Bord: Klaus Fichtel. Die beiden haben riesiges Glück im Unglück. Ob das der Grund ist, weshalb sich der Nationalmannschaftsverteidiger vorm Abflug nach England auf dem Düsseldorfer Flughafen noch mit dem Western-Bestseller Das letzte Gefecht eindeckt? Vielleicht ahnt Fichtel aber auch einfach nur, was ihn und die Mannschaft in Manchester erwartet.
Sein Zimmernachbar in Sportschulen und Hotels hätte den Abflug beinahe verpasst. Als Aki Lütkebohmert seinen nagelneuen BMW am Flughafen parkt, rollt der Mannschaftsbus bereits an ihm vorbei. Aki kommt direkt aus der Kaserne, muss seinen Koffer zum Abfertigungsgebäude selbst schleppen. Im Spiel hat dies keine besonders negativen Auswirkungen. Als Aki das Spielfeld nach gut einer Stunde betreten darf, ist das letzte Gefecht der Europacup-Saison bereits verloren.
Dass es so kommt, hat sich schon vorm Spiel angedeutet. Dabei werden die Königsblauen vor Ort herzlich empfangen – von der deutschen City-Legende Bert Trautmann. Obwohl Manchester City an der heimischen Maine Road seit fünf Spielen sieglos und in der Tabelle nur Zwölfter ist, warnt Trautmann ausdrücklich. Von den kleinen Tricks im Vorfeld des Spiels verrät der einstige Torhüter aber nichts. Als Schalkes Spieler eine Stunde vorm Spiel die Kabine betreten, herrscht darin Sauna-Atmosphäre. Die Engländer haben Stunden vorher die Heizungen hochgedreht. Schon nach dem Umziehen sind die Schalker Spieler klitschnass. Ein Schicksal, das auch den Platz ereilt hat. Der ist offensichtlich kurz zuvor geflutet worden. Not very British, das Ganze. Nach dem Spiel wartet die Mannschaft vergeblich auf das bei Auswärtsreisen übliche späte Abendessen. Im Hotel ist die Küche zu. Die Spieler gehen hungrig ins Bett.
Eigentlich sollte ihnen der Appetit aber auch vergangen sein. Angesichts der 90-minütigen Vorführung. Nach 27 Minuten steht es bereits 3:0 für Manchester. Der City-Stürmer mit dem Musikernamen Neil Young bläst Schalke gehörig den Marsch. Gegenspieler Slomiany vergeht schnell Hören und Sehen. Rudi Gutendorfs PR-trächtiger Englischunterricht zwei Tage vorm Spiel in der Sportschule Wedau ist nicht von Erfolg gekrönt. Was auch daran liegt, dass der Lehrer seinen Schülern die entscheidende Vokabel vorenthalten hat: Positionswechsel. Dass bei Manchester alle zehn Feldspieler wild durcheinanderlaufen, Slomiany sich plötzlich im Mittelfeld wiederfindet, van Haaren in der Abwehr und Erlhoff im Sturm, damit hat keiner gerechnet. Am wenigsten Schalkes Trainer.
Als seine Spieler zur zweiten Hälfte aus der Kabine schleichen, gibt’s prompt die nächste Demütigung. Durch die geöffnete Tür der City-Kabine steigt ihnen dichter Qualm entgegen. Beinahe genüsslich sitzen die englischen Profis noch auf ihren Holzbänken und rauchen. Der Letzte drückt seine Zigarette beim Auflaufen auf der Treppenstufe zum Rasen aus.
Viel Rauch um nichts – aus Schalker Sicht. Auch im zweiten Abschnitt sind die englischen Profis den Gästen stets einen Schritt voraus. Nein, dieses Spiel ist keine geeignete Werbung für die Anti-Raucher-Kampagne. Sekunden vor Schluss ist es Libuda vorbehalten, wenigstens noch den Ehrentreffer zu erzielen. 5:1 heißt es am Ende. Wenigstens muss kein Schalker jetzt jahrelang lamentieren, das Finale sei so nah gewesen. In Manchester war es für eine restlos überforderte Schalker Mannschaft unerreichbar weit weg.
In etwa so weit weg wie eine gütliche Einigung zwischen den ewigen Streithähnen Gutendorf und Siebert. Unmittelbar nach dem Abpfiff betont Siebert einmal mehr, dass eine gedeihliche Zusammenarbeit mit dem Trainer nicht mehr möglich sei. Diesmal holt der Trainer die Mannschaft mit ins Boot, oder besser, ins Haus. In seine Wohnung im Gelsenkirchener Stadtteil Heßler. Gutendorf will die Stimmung im Team ausloten. Keiner traut sich, Partei gegen ihn zu ergreifen. Und die, die seit Längerem gegen ihn opponieren, die Ersatzspieler, sind gar nicht erst gekommen.
Am darauffolgenden Abend klingeln Günter Siebert und Heinz Aldenhoven an Gutendorfs Wohnungstür. Wieder mal wird ein brüchiger Burgfrieden geschlossen. Noch erscheint den Verantwortlichen ein vorzeitiger Rauswurf zu teuer. Für den müsste Schalke 120.000 Mark berappen. Nicht zu bezahlen, obwohl der Verein durch den Europapokal ein lukratives Zusatzgeschäft hatte.
Eine alles in allem enttäuschende Saison endet – wegen der anstehenden WM in Mexiko – denkbar früh am 3. Mai 1970. Sie endet versöhnlich. Nach zuletzt fünf sieglosen Spielen in Folge ringt die Mannschaft dem noch amtierenden Meister Bayern München nach 0:2-Rückstand noch ein 2:2 ab. Beide Tore erzielt Aki Lütkebohmert, das erste in der 73. Minute nach Flanke von Slomiany sogar per Kopf. Ein Körperteil, das er gewöhnlich nur für andere Tätigkeiten verwendet. Spätestens sein Sololauf mit schönem Distanzschuss zum Ausgleich in der 85. Minute beeindruckt auch die Bayern.
Am Tag nach dem Spiel klingelt im Heidener Kreuzweg das Telefon. Am anderen Ende der Leitung: Bayern-Manager Robert Schwan. Franz Lütkebohmert versichert dem freundlichen Mann, er wolle es seinem Sohn ausrichten. Akis Vater notiert Namen und Telefonnummer des Anrufers. Der Umworbene ist, wie so häufig, im Wald unterwegs, Pilze sammeln. In den Wäldern rund um seinen Heimatort kennt er sich bestens aus. Hier findet er die nötige Ruhe und Ausgeglichenheit, kurzum, seinen inneren Frieden, der ihm mehr wert ist als alles andere. Mit Laufschuhen oder Pilze-Korb – fast egal. Ein Vorteil beim geliebten Pilzesammeln liegt aber klar auf der Hand, oder noch besser, an der Hand. Seine Freundin Christa begleitet ihn. Seit gut zwei Jahren sind die beiden ein Paar. Sie ist nicht mehr wegzudenken aus seinem Leben.
Als die beiden am Abend in Akis Elternhaus zurückkommen, liegt der Notizzettel des Vaters neben dem Telefon. Aki überfliegt die Zeilen und schluckt. Bayern München, an der Seite von Maier, Müller, Beckenbauer, die Nationalmannschaft vor Augen. Er wird am nächsten Tag auf jeden Fall zurückrufen. Er legt den Zettel wieder auf die Ablage zurück. Dann sieht er Christas flehenden Blick. Eine Woche später unterschreibt er Sieberts Vertragsangebot zu leicht verbesserten Konditionen.
Jugend forsch
Zweimal hatte Schalke in der Vorsaison gegen 1860 München gewonnen. In beiden Spielen boten die Löwen ein neues Stürmertalent auf: Klaus Fischer. Ein Tor hat er in diesen Partien zwar nicht gemacht, dafür aber mächtig Eindruck. Auf das Schalker Bankpersonal und ein paar Meter weiter oben, auf die Tribünengäste. Nach dem 3:1-Sieg im Februar 1970 bedrängt Fritz Szepan Günter Siebert: „Den müssen wir holen!“
Leichter gesagt als getan. Fischer hat in seiner ersten Bundesligasaison gleich 19 Tore erzielt. Die Bewerber stehen Schlange. Günter Sieberts Ehrgeiz aber ist längst geweckt. Für seine Traumelf fehlt ihm noch ein echter Torjäger. Dem einstigen Mittelstürmer bereitet die Torflaute geradezu körperliche Schmerzen. In der Vorsaison haben Schalkes Spieler ganze 43 Tore bejubelt. Erfolgreichster Schütze war Manfred Pohlschmidt, mit fast 30 Jahren in Sieberts Augen so etwas wie ein Auslaufmodell. Keine Frage, dieser Fischer ist genau das, was Schalke sucht. Jung, wendig, kopfballstark, ein echter Strafraumstürmer eben. Seine Verpflichtung ist Chefsache, ein Stück weit auch geheime Kommandosache. Zumindest in der Theorie. In der Praxis ist sie eher eine Mischung aus Schmierentheater und Komödienstadl.
Doch der Reihe nach. Siebert lässt nichts unversucht, den 20-Jährigen für seine Pläne zu gewinnen. Die erste Kontaktaufnahme kann alles entscheidend sein. Das weiß der Präsident aus – zumeist guter – Erfahrung. Siebert muss nach München reisen, so viel ist klar. Und er darf dabei nicht erkannt werden. Anfang April stoppt er seinen Mercedes kurz hinter der Münchener Stadtgrenze. Neben ihm sitzt Schatzmeister Aldenhoven. Siebert öffnet das Handschuhfach. Aldenhoven grinst. Siebert greift zu. Eine Minute später sehen beide aus wie Handlungsreisende aus Istanbul. Die Schnurrbärte sitzen, die Hüte sind tief in die Stirn gezogen. Als sie Klaus Fischer nach dem Training an der Grünwalder Straße ansprechen, fühlt der sich zunächst im falschen Film. Es dauert ein paar Sekunden, bis der Verwirrte die präsidiale Maskerade durchschaut. Sie beeindruckt ihn aber offensichtlich, denn nur zwei Wochen später sitzen die Herren Siebert und Aldenhoven im elterlichen Wohnzimmer in Zwiesel.
Auch hier bedarf es besonderer Anstrengungen. Da ist zum einen die Mutter des Torjägers, der die beiden Schalker in weiser Voraussicht zur Begrüßung einen dicken Blumenstrauß in die Hände drücken. Passend zum Präsent lässt der Präsident eine blumige Rede folgen, über die Vorzüge seines Vereins, seiner selbst und überhaupt. Die Mutter zeigt sich wenig beeindruckt: „Da ist mir der Junge zu weit weg. Da sehen wir ihn ja gar nicht mehr!“ Siebert tätschelt Mutter Fischer den Arm: „Ach wissen Sie,