Helden für einen Sommer. Jürgen Thiem
entgegnet dem Vereinsboss, er halte dies für keine gute Idee. Gutendorf erfährt aus der Zeitung von den neuen Vorhaltungen. Es ist Dienstagvormittag, der 8. September 1970. Drei Stunden später, nach dem Training, erfährt er von seiner fristlosen Kündigung. Zwei Tage danach einigen sich Anwälte beider Seiten auf eine Abfindung. Das Kapitel Gutendorf ist auf Schalke endgültig beendet.
Die Nachfolge tritt mit sofortiger Wirkung Gutendorfs bisheriger Assistent Slobodan Cendic an. Offiziell fungiert Ernst Kuzorra als Trainer. Cendic hat zwar in Köln das Fußballlehrerexamen gemacht, ihm fehlt aber der für die Lizenz nötige A-Schein. Kuzorra ist ein reiner Strohmann. Auf dem Trainingsplatz taucht er nie auf.
Cendic gelingt zunächst der Stimmungsumschwung. Und auch der Blick auf die Tabelle verursacht in der Winterpause keineswegs Bauchschmerzen. Nach acht Siegen, zwei Unentschieden und drei Niederlagen ist Schalke aussichtsreicher Dritter, hinter Bayern und Mönchengladbach. Zwischenzeitlich, am 10. Oktober nach dem 3:0-Sieg auf der Bielefelder Alm, beträgt der Rückstand auf die Spitze sogar nur noch einen Punkt.
Zu den Heimspielen kommen im Schnitt 23.000 Zuschauer, so viel wie noch nie in der Bundesliga. Die Mannschaft spielt teilweise schönen, technisch anspruchsvollen Fußball. Und doch scheint ihr noch das Zeug für höhere Aufgaben zu fehlen. Libuda kann die tolle Form der WM in Mexiko nicht bestätigen, hat viel mit seinen privaten Problemen zu tun. Fischer ist bisher die größte Enttäuschung. „Wenn jemand derartige Möglichkeiten auslässt, dann bezeichne ich es nicht nur als Pech, sondern als Unvermögen“, hadert Cendic vor allem mit der Abschlussschwäche seines Mittelstürmers. Sechs Treffer hat er in der Hinrunde erzielt, am Ende werden es ordentliche 15 sein.
Wie sehr die Mannschaft in ihren Leistungen schwankt, wird kurz vor Weihnachten deutlich. Im Erstrundenspiel des DFB-Pokals führen Cendics Spieler beim Nord-Regionalligisten VfL Wolfsburg durch zwei Tore van Haarens nach 14 Minuten bereits 2:0. Kurz vorm Abpfiff gelingt Wolfsburg noch der Ausgleich. In der Kabine gibt es Zoff. Stan Libuda ist kaum zu beruhigen. Statt frühzeitig in Urlaub zu gehen, muss weiter trainiert werden. Am Tag vor Heiligabend steht das Wiederholungsspiel an. Wieder blamiert sich der Favorit. Nach 120 Minuten steht es 1:1. Erst im Elfmeterschießen werden Cendic und die 7.500 im Stadion erlöst.
In der Rückrunde verliert der Jugoslawe zunehmend die Kontrolle über seine Mannschaft. Zwar steht sie nach 26 Spieltagen immer noch ordentlich da, auf Rang vier, fünf Punkte hinter dem Tabellenführer, der Trend aber ist negativ. Cendic, als Co-Trainer Kumpeltyp und allseits beliebt, versucht sich in einem Rollentausch. Seine Ansprache wird mit den ausbleibenden Erfolgen immer rauer, seine Distanz zur Mannschaft immer größer, seine taktische Vorgabe immer weniger nachvollziehbar.
Eine besondere Hassliebe verbindet ihn mit Norbert Nigbur. Cendic, einst selbst Torwart bei Novi Sad, hat Nigbur in seiner Zeit als Co-Trainer weiterentwickelt. Die beiden pflegen einen beinahe freundschaftlichen Umgang. Nigbur glaubt deshalb, ihm näher zu stehen als andere. Vor dem Pokalhalbfinale gegen Köln erdreistet sich der Schlussmann, dem Trainer Vorschläge zu unterbreiten, wie er am besten die Abwehr stellen könne. Cendic empfindet das als Affront, stellt den jungen Burdenski ins Tor. Die zarten Bande mit Nigbur sind endgültig gerissen.
Am Osterwochenende ist spielfrei. Und doch ist es für den Trainer kein gutes Wochenende. Der DFB teilt dem Verein mit, dass er Cendic zum Saisonende kündigen müsse. Es sei inakzeptabel, einen Trainer zu beschäftigen, der keinen A-Schein habe. Jeder Rest Autorität, den Cendic noch bei der Mannschaft genossen haben mag, ist damit endgültig zerstört.
Cendics Spieler bekommen angenehmere Post. Die WM-Teilnehmer Fichtel und Libuda sowie Norbert Nigbur erhalten von Bundestrainer Schön eine Einladung zum EM-Qualifikationsspiel gegen die Türkei. Für Nigbur ein lang ersehntes Signal. Der „Lange“, wie ihn die Mitspieler rufen, spielt die ganze Saison über auf hohem Niveau. Weil Helmut Schön aber eine Nibelungentreue zu Sepp Maier zeigt, wird Nigbur zwischendurch ungeduldig. Das Dumme: Er bekundet seine Ungeduld in aller Öffentlichkeit. Nachdem er für das Hinspiel gegen die Türkei im Oktober in Köln gar nicht nominiert worden ist, hat er in einem Interview lauthals verkündet, er wolle künftig „auf die Nationalmannschaft pfeifen“. Helmut Schön reagierte darauf beleidigt: „Es haben schon größere Talente als Nigbur auf ihre Chance warten müssen.“
Jetzt also soll sie kommen, die ultimative Chance. Vielleicht. Mit Scheer, Rüssmann, Fischer, Sobieray und Lütkebohmert werden gleichzeitig fünf weitere Schalker zum Junioren-Länderspiel gegen die Türkei in Augsburg berufen. Für Günter Siebert sind all die Nominierungen der Beweis, dass er richtig liegt mit seinem Kurs. Die Mannschaft wächst zusammen. Es braucht nur noch den richtigen Trainer, um sie zur vollen Reife zu führen.
Überschattet wird das Osterwochenende durch über 100 Verkehrstote auf deutschen Straßen. Ein trauriger Rekord, eine Katastrophe. Wer will da noch über Fußball reden? Auf Schalke ahnen sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass die größte – sportliche – Katastrophe der Vereinsgeschichte unmittelbar bevorsteht.
Drohendes Ungemach
Irgendetwas ist anders an diesem Abend. Es ist Ostermontag und doch ein Montag wie jeder andere. Gott sei Dank. Liebgewonnene Gewohnheiten lässt man sich schließlich nicht so einfach nehmen. Der Saunaabend in Borken mit Don und Heini ist Aki heilig. Wie das Pilzesammeln, das Kartenspielen und der Talisman. Don, das ist sein Freund Alfred Ebber, mit dem er schon in der Jugend bei Viktoria Heiden zusammen gekickt hat. Heini ist einfach Heini, sein jüngster Bruder. O. k., offiziell heißt der natürlich Heinrich. Aber so nennt ihn keiner. Und dann sind da noch Futzi, Manfred Krause, mit dem er zwischenzeitlich in Marl-Hüls zusammengespielt hat, und Luki, Ludger Jägers. Futzi und Luki gehören zur Clique, der Saunagang ist ihre Sache aber nicht. Stundenlang sitzen und schwitzen muss nicht sein.
Aki braucht das. Inmitten von Fußballern aus allen Ligen und Klassen, aus Gemen, Borken oder Klein-Reken. Sie alle wissen, wer Aki ist, wissen es zu schätzen, dass er nicht den Star raushängen lässt. Doch fragt ihn mal einer zur vergebenen Chance im letzten Spiel, fällt die Antwort zumeist kurz aus. Er mag es nicht, über sich und seinen besonderen Status zu reden. Er will aber auch nicht unhöflich sein oder gar arrogant wirken. Also stellt er lieber die Gegenfrage: warum es in der 1. Kreisklasse gerade nicht so läuft, was mit dem Trainer ist und so weiter. Aki kennt sich aus in der regionalen Fußballszene. Sein Interesse ist nicht gespielt. Er gibt ihnen das Gefühl, einer von ihnen zu sein. Aki braucht diese festen Gewohnheiten, seine Riten.
„Du kannst in der Woche machen, was du willst. Du musst nur am Samstag um halb vier topfit sein“, ist eine seiner frühen Lebensweisheiten. Und so ist das Profileben für ihn ein ständiges Geben und Nehmen. Eine immerwährende Abfolge von Arbeit und Belohnung. Er braucht dieses Gefühl, sich völlig verausgabt zu haben, um anschließend in Ruhe mit Freunden das eine oder andere Bier trinken zu können. Das eine bedingt das andere. Das eine wäre ohne das andere nichts, und umgekehrt.
Auch an diesem Tag ist er vorher laufen gewesen. Mit Anka, seiner Boxerhündin, die ihm Klaus Fichtel geschenkt hat. Aufgrund des spielfreien Wochenendes war Cendics Training dosiert, zu dosiert, wie er findet. Jetzt also könnte es ihm eigentlich gut gehen, nach Laufen und Sauna, beim Skatspielen im Ruheraum. Doch irgendetwas ist anders an diesem Abend. Auch später, als sie sich im „Spangemacher“ über die geliebten Reitersteaks und die serbische Bohnensuppe hermachen, rückt Aki nicht mit der Sprache raus. Erst seinem Schwager in spe, Jürgen Beßeling, verrät er am nächsten Abend, was ihn so nachdenklich stimmt: „Nächsten Samstag, gegen Bielefeld, da soll was laufen …“
Es ist ein Gerücht, das sich hartnäckig hält und das die Zeitungen im Vorfeld des Spiels bereitwillig aufgreifen. Die WA Z berichtet am 16. April 1971 von „Spekulationen um eine westfälische Nachbarschaftshilfe“. Günter Siebert weist derartige Anspielungen weit von sich. Schließlich wollten sich die Spieler doch für schwache Leistungen in den vergangenen Heimspielen rehabilitieren. Außerdem gehe es um den Einzug in den neu geschaffenen UEFA-Cup-Wettbewerb und für die vom DFB Nominierten auch um eine Empfehlung für die anstehenden Länderspiele.
„Das ist doch alles dummes Zeug“, meint Siebert. „Die Profis kämpfen doch um ihr Geld. Unsere Mannschaft wird voll aufspielen.