Helden für einen Sommer. Jürgen Thiem

Helden für einen Sommer - Jürgen Thiem


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Trainer, Mannschaft und Vorstand. Seine Zuverlässigkeit wird allseits geschätzt. Da ist man auch bereit, über seine mitunter archaischen Manieren hinwegzusehen.

      In der DDR hat Lichterfeld die Aufgabe, etwaige Kontaktaufnahmen der drei Spieler mit anderen Klubs zu beobachten und gegebenenfalls zu unterbinden. Der Wachhund spurt. Dabei ist alle Aufregung umsonst. Die drei stehen zu ihrem Wort, bieten obendrein in den drei Spielen in Plauen, Zeitz und Altenburg allesamt gute Leistungen. Trainer der DFB-Auswahl ist ein gewisser Udo Lattek. Zu seinen Schützlingen zählen neben den Neu-Schalkern auch zwei Nachwuchsspieler von Bayern München: Uli Hoeneß und Paul Breitner.

      Wenige Tage nach dem Turnier stellt Günter Siebert gemeinsam mit Trainer Gutendorf seine neuen Errungenschaften bei einer Podiumsdiskussion im Hans-Sachs-Haus vor. Sein Anspruch, die Nachwuchsarbeit unter kaufmännischen Gesichtspunkten zu professionalisieren, wird spätestens jetzt ernst genommen. Nicht nur im eigenen Lager. Sein Coup mit Rüssmann, Scheer und Sobieray verlangt auch der Bundesligakonkurrenz Respekt ab.

      Dieser wäre wahrscheinlich deutlich geringer ausgefallen, hätten die anderen mitbekommen, wie es im Sommer 1969 um die Infrastruktur des vermeintlichen Talentschuppens bestellt ist. Zwar hat Siebert den Aufnahmestopp für Jugendliche abgeschafft, was die Nachwuchsabteilung binnen zwei Monaten von 300 auf 600 Spieler anwachsen lässt. Allein, es fehlen Instrumente und Personal, um den Andrang zu bewältigen. Weder gibt es genügend qualifizierte Jugendtrainer, noch verfügt der Verein über die angedachten Unterbringungs- und Verpflegungsmöglichkeiten für besondere Talente.

      Wie sehr das Nachwuchsmodell noch in den Kinderschuhen steckt, bekommt Rolf Rüssmann am eigenen Leib zu spüren. Anfang Juli, am Tag seines Dienstantritts, soll er, so ist ihm von der Schalker Geschäftsstelle mitgeteilt worden, in Schwelm abgeholt werden. Der lange Rolf sitzt sprichwörtlich auf gepackten Koffern und wartet doch vergeblich. Er bittet den Wirt der Schwelmer Vereinsgaststätte, ihn zu fahren, was der auch bereitwillig tut. Doch an der Glückauf-Kampfbahn angekommen, das gleiche Bild: Keiner fühlt sich für den mit so viel Mühe nach Schalke geholten Jugendnationalspieler zuständig. Nach einer Stunde des – mit ersten Selbstzweifeln angefüllten – Wartens erbarmt sich Platzwart Ernst Kalwitzki, einst Mittelstürmer der großen Kreisel-Elf der dreißiger und vierziger Jahre. Er sieht den blonden Jungen auf seinem Gepäck sitzen und lässt über die Geschäftsstelle den Präsidenten höchstpersönlich rufen. Günter Siebert ist die ganze Sache peinlich. Was ihn freilich nicht daran hindert, den Neuzugang für die ersten zwei Nächte in einem seiner Getränkelager einzuquartieren. Ein Feldbett dient als Schlafstätte.

      Klaus Scheer geht es zur gleichen Zeit nicht viel besser. Allerdings steht sein Feldbett in einer Essener Bundeswehrkaserne. Was den jungen Mann aus Siegen jedoch mehr beunruhigt, ist das Ergebnis seiner Sporttauglichkeitsprüfung. Dabei wird ein Herzfehler diagnostiziert. Der DFB verweigert ihm daraufhin die Lizenz.

      Rudi Gutendorf nimmt sich des Mittelfeldspielers persönlich an, begleitet ihn von Arzt zu Arzt. Doch keiner traut sich, die Spielberechtigung zu erteilen, zumal auch Scheers EKG nicht in Ordnung ist. Erst als man ihm bei der Musterung zum Wehrdienst die Tauglichkeit für alle Waffengattungen bescheinigt, gibt auch Schalkes Vereinsarzt Dr. Braukmann grünes Licht. Scheer muss allerdings unterschreiben, dass er auf eigene Verantwortung spielt. Er debütiert am 4. Oktober 1969 als Einwechselspieler beim 0:0 gegen Duisburg, bringt es immerhin auf insgesamt 19 Einsätze in Bundesliga und Europacup. Die Sorgen um seine Gesundheit lassen ihn aber bis zum Saisonende nicht los.

      Bei der Bundeswehr ist man aufgrund des ganzen Theaters um seine Lizenzerteilung misstrauisch geworden. Nach nur vier Monaten wird er offiziell wegen Rheumas vorzeitig entlassen. Kurz darauf klagt er über Herzrhythmusstörungen. Gutendorf und Siebert wollen Klarheit. Im Dezember 1969 wird in der Düsseldorfer Uniklinik eine Vernarbung am Herzmuskel entdeckt – die Folge häufiger Mandelentzündungen. Eine akute Gefährdung bestehe nicht mehr, bescheinigt ihm der behandelnde Professor. Scheer besteht alle Belastungstests und erhält die uneingeschränkte Spielgenehmigung.

      Jürgen Sobieray muss noch etwas länger auf seinen Einstand warten. Am 25. Oktober wird er beim 0:3 in Berlin für Heinz van Haaren eingewechselt. Auch für ihn ist es eine Saison mit Anlaufschwierigkeiten. Gutendorf setzt ihn 17-mal ein.

      Als Letzter des jungen Trios darf Rolf Rüssmann ran. Am 29. November kommt er im Spiel beim HSV 20 Minuten vor Schluss für Hansi Pirkner zum ersten Einsatz. Sein Gegenspieler ist kein Geringerer als Nationalmannschaftskapitän Uwe Seeler. Rüssmann weicht „Uns Uwe“ nicht von den Socken und hilft, aus einem 0:1-Rückstand noch ein 1:1 zu machen. Von da an ist er Stammspieler bei Gutendorf. Der hat anfänglich ob der überschaubaren Technik des Abwehrspielers häufig geschmunzelt. „Ich habe 20 Lizenzspieler und den Rüssmann“, diktiert er den Reportern nach ersten Trainingseindrücken in die Blöcke.

      Doch dieser Rüssmann lässt nicht locker. Sein Ehrgeiz treibt ihn zu immer neuen Anstrengungen. Auf dem Trainingsplatz und daneben. Während die anderen bereits auf dem Weg unter die Dusche sind, schnappt sich Rüssmann mit hochrotem Kopf noch einmal den Ball, um ihn eine Viertelstunde lang wie besessen gegen die Schusswand zu treten. Gutendorf registriert den Eifer seines Schützlings – und dessen PR-Feldzug in eigener Sache. Betreuer Lichterfeld, Co-Trainer Cendic oder Präsident Siebert, ja selbst der eine oder andere Mitspieler wird „Rollis“ klagender Worte gewahr. Jeder solle bitte beim Trainer ein gutes Wort für ihn einlegen, damit er endlich spielen könne.

      Selbst die erste Begegnung mit Uwe Seeler, dem Idol seiner Kindheit, nutzt Rüssmann. Nach dem Spiel erwischt er Seeler vorm Kabinengang, nicht nur, um ihn seiner Wertschätzung zu versichern. Es sei immer schon sein großer Traum gewesen, einmal in der Nationalmannschaft zu spielen, offenbart er dem staunenden Uwe. Ein Vortrag, den er bei jedem folgenden Treffen mit Seeler wiederholt. Zum Ziel führt es ihn – vorerst – nicht. Rüssmann muss noch sehr lange auf die Erfüllung seines Traums warten. Was allerdings andere Gründe hat.

      Nach der sensationellen Rückrunde der Vorsaison sind die Erwartungen auf Schalke vor der Spielzeit 1969/70 enorm gestiegen. Günter Siebert schürt das Feuer, spricht offen von einem angestrebten Spitzenplatz. Auch Experten wie WDR-Hörfunk-Sportchef Kurt Brumme sehen Schalke unter den Titelaspiranten.

      Zu Beginn sieht es so aus, als könne die Mannschaft dem Druck standhalten. Gleich zum Auftakt gelingt im Beisein von Bundespräsident Gustav Heinemann ein glanzvoller 2:0-Heimsieg gegen den späteren Meister Mönchengladbach. Nach neun Spieltagen ist die Mannschaft Dritter, hat nur einmal verloren. Am zweiten Spieltag in Frankfurt, wo sonst. Ein echtes Kuriosum. In den vorausgegangenen 33 Pflichtspielen unter Rudi Gutendorf gab es ganze drei Niederlagen, allesamt in Frankfurt, darunter auch das verlorene Pokalfinale gegen Bayern.

      Doch die Mannschaft kann das hohe Anfangsniveau nicht halten. Die Qualität des Kaders entpuppt sich als unzureichend. Hinzu kommt die ungewohnte Doppelbelastung durch die Auftritte auf europäischer Bühne. Am 8. November setzt es eine 0:8-Klatsche beim 1. FC Köln, die dritte Niederlage in Folge. Trainer Gutendorf spricht nach dem Debakel gegenüber Pressevertretern von einem „Kindergarten“. Wobei er offen lässt, ob er das Alter seiner Mannschaft oder einfach nur ihr reichlich naives Auftreten meint. Wie dem auch sei, Günter Siebert nimmt die Äußerungen zum Anlass, erstmals die Arbeit des Trainers öffentlich in Frage zu stellen. Gutendorf bevorzuge fertige Spieler, Talente müssten sich bei ihm hinten anstellen. Starker Tobak, haben doch Sobieray und Scheer den Sprung ins Team bereits geschafft und steht das Debüt von Rüssmann unmittelbar bevor.

      In Siebert brodelt es. Die unberechtigte Kritik hat aber andere Gründe. Siebert, der Platzhirsch, hat einen Nebenbuhler bekommen. War der Präsident bisher alleiniger Ansprechpartner für Reporter, ist jetzt plötzlich ein zweiter da. Einer, der die Klaviatur der Medien im Schlaf beherrscht. Der Präsident sieht seine Pfründe schwinden. Erfolge hat er bisher allzu gerne als Früchte seiner konzeptionellen Arbeit verkauft. Im Misserfolg muss jetzt der andere herhalten. Der aufkommende Konflikt – ein Krieg der Eitelkeiten.

      Wobei auch Weltenbummler Gutendorf keinesfalls unter mangelndem Hang zur Selbstdarstellung leidet. Positiv ausgedrückt: Der Mann bringt Farbe ins triste Grau des Gelsenkirchener Alltags. Seine aus den USA importierte Corvette „Sting Ray“ sorgt genauso für Aufsehen wie seine junge und attraktive Frau Ute. Findet im Übrigen auch so


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