Helden für einen Sommer. Jürgen Thiem
Paket mit einem schicken DFB-Ausgehanzug. Mutter Elfriedes Verwunderung ist echt: „Norbert, wo hast du diesen schönen Anzug her?“ „Mutter, ich fahre jetzt nach Heilbronn, da mache ich ein Länderspiel. Das kannst du dir im Fernsehen anschauen.“ „Junge, das glaube ich nicht!“
Muss sie aber. Am nächsten Tag staunen Elfriede und Ernst Nigbur nicht schlecht, als ihr Sohn katzengewandt den englischen Nachwuchs beinahe zur Verzweiflung bringt. Doch wieder daheim, ergeht es dem jungen Helden nicht anders als seinerzeit Günter Siebert nach dem heimlichen Ausflug nach Gelsenkirchen. Diesmal ist es der Vater, der zuschlägt. Norberts Onkel versteht die Welt nicht mehr. Er, der es in englischer Kriegsgefangenschaft selbst zum passablen Torhüter gebracht hat, fordert die Eltern auf, Norberts außergewöhnliches Talent zu fördern.
Spätestens im Mai 1966 lässt sich die Erfolgsgeschichte nicht mehr aufhalten. Die Steinstraße in Heßler ist an diesem Tag, kurz nach Nigburs 18. Geburtstag, überlaufen. Unten vor der Haustür haben sich Dutzende Autogrammjäger versammelt. Sie alle wissen, dass Fritz Szepan kommen wird, um mit Norbert Nigbur den Vertrag auszuhandeln. Norberts Schwestern konnten das Geheimnis nicht für sich behalten.
Die Verhandlung mit dem Präsidenten führt Ernst Nigbur, ein Bergmann, von Kindheit an Schalker. Lange ist er der Meinung gewesen, sein Sohn müsse etwas „Anständiges“ lernen. Jetzt, wo es anders gekommen ist, setzt er alles daran, Norbert eine sichere Lebensgrundlage zu ermöglichen. Am Ende des Gesprächs ist es ein Grundstück, ein Auto und ein ordentlicher Batzen Geld. Fritz Szepan verlässt die Wohnung in der Steinstraße, wie es sich für einen Schalke-Präsidenten gehört: blau und weiß. Leicht angeschickert von dem einen oder anderen Schnäpschen – fahl im Gesicht, weil der Neuzugang alles andere ist als ein Schnäppchen.
Gleich in seiner ersten Profisaison hütet Nigbur 28-mal das Schalker Tor. Weil Stammkeeper Elting in den ersten Spielen gleich mehrere Fehler macht, darf Nigbur am 3. September 1966 erstmals ran, gegen den Titelfavoriten 1. FC Nürnberg. Die Club-Stürmer Brungs, Wild und Volkert verzweifeln am glänzend aufgelegten Youngster im Schalker Tor. Die Gastgeber gewinnen 1:0. Am königsblauen Himmel ist ein neuer Stern aufgegangen.
Noch ohne wilde Koteletten: Norbert Nigbur zu Beginn seiner Karriere bei Schalke.
Das Training mit „General Fritz“ erweist sich für den hageren Nigbur als harte, aber karrierefördernde Schule. Langner lässt den vom Ehrgeiz Besessenen stundenlang am Pendel Bälle fangen und fausten. Beliebt sind auch des Trainers Sandkastenspiele. Nigbur, ohnehin bereits mit einer begnadeten Sprungkraft beschenkt, entwickelt eine geradezu innige Beziehung zum feinkörnigen Untergrund. Der abgesteckte Sandkasten ist für Langner ein idealer Kriegsschauplatz. Die Fronten sind klar abgesteckt – im Kampf Mann gegen Mann, besser, Mann gegen Männer. Es ist nämlich ein ungleicher Kampf. Unter Beschuss steht allein der 18-jährige Torwart im Sand. „Willensschulung“ nennt Langner seine Übung. Schalke-Fans am Rande des Trainingsgeschehens sprechen von Überlebenstraining. Aus kurzer Distanz zielen Kreuz, Kraus, Pyka und Pliska, Becher und Bechmann auf Kopf und Körper des im Sand Umherfliegenden. Nigbur ist nicht kleinzukriegen. Nach einer Viertelstunde glühen ihm die Hände. Doch während er signalisiert, dass er gerade so richtig Gefallen gefunden hat an der Übung, verlieren die anderen bald die Lust.
Später, im „Stübchen“ unter der Haupttribüne der Glückauf-Kampfbahn, genehmigt sich der Trainer schon mal das eine oder andere Gedeck, ein Pils und ein Korn. Wenn er so richtig in Fahrt ist, sucht er die Erhöhung. Auf dem Tisch stehend, lässt sich wunderbar vorführen, wie er einst an der Wolga die Handgranaten in die russischen Panzer geworfen hat. Beifall und Bewunderung der im dichten Zigarrenqualm gefesselten Zuhörerschaft sind ihm dabei stets sicher.
Als Günter Siebert vier Monate nach dem neuerlichen Klassenerhalt die Vereinsführung übernimmt, ist Langner bereits Geschichte am Schalker Markt. Sieberts Vorgänger Szepan hat ihm unter dem Drängen der jungen Opposition nach dem Saisonende den Laufpass gegeben. Zum Nachfolger macht Szepan den erst 33-jährigen Karl-Heinz Marotzke, der jüngste Fußballlehrer der Liga. Marotzke, zuvor zwei Jahre mehr oder minder erfolglos beim Nord-Regionalligisten VfL Osnabrück, glänzt bei seiner Vorstellung als geschliffener Redner und Theoretiker. In der Praxis aber ändert er wenig – an der unbefriedigenden sportlichen Situation beim Meister früherer Tage.
Trotz hoffnungsvoller Talente wie Fichtel und Nigbur dümpelt die Mannschaft bei Sieberts Amtsantritt am Tabellenende herum. Nach sieben Spielen hat sie 1:13 Punkte auf dem Konto. Hinzu kommen Schulden in Höhe von eineinhalb Millionen Mark. Wieder mal steht Schalke sportlich und wirtschaftlich am Abgrund.
Siebert will Besserung, sofort. Am Abend nach seiner Wahl fährt er mit Mannschaft und Trainer zur Vorbereitung auf das anstehende Bundesligaspiel in die Sportschule Kaiserau. Hier spricht der jüngste Präsident dem jüngsten Trainer das Vertrauen aus, knüpft es aber – typisch Siebert – an Bedingungen. Marotzke muss fortan zweimal täglich trainieren lassen.
Zwei Tage später erreicht der Tabellenletzte gegen den Tabellenführer 1. FC Nürnberg mit einem torlosen Unentschieden einen Achtungserfolg. Seit 631 Minuten ist die Mannschaft inzwischen ohne eigenes Tor. Es kommen noch 74 Minuten hinzu. In Duisburg gelingt Manfred Pohlschmidt der Ausgleich zum 1:1-Endstand. Auf den ersten Sieg müssen die Fans noch länger warten. Am zehnten Spieltag reicht es durch Tore von Willi Kraus und Hans-Jürgen Wittkamp gegen Aufsteiger Aachen zu einem dünnen 2:1.
Die Wende zum Guten ist das aber noch nicht. Nach drei weiteren Niederlagen in Folge wird es Siebert zu bunt. Längst hat er Kontakt aufgenommen zu Günther Brocker. Sein Kumpel und einstiger Spieler der 58er-Meistermannschaft steht nach seiner Entlassung bei Werder Bremen sofort zur Verfügung. Und, ebenso wichtig: Er kostet den klammen Klub keine zusätzliche Mark. Bisher hatte Schalke dem nach Bremen gewechselten Langner noch einen monatlichen Differenzbetrag seines Gehalts überweisen müssen. Auch Brocker war von Werder noch weiterbezahlt worden. Von nun an fallen die beiderseitigen Fortzahlungen weg.
Offiziell verkauft Siebert seinen Spezi Brocker als neuen Technischen Leiter. Schließlich muss auch Marotzke zunächst weiterbeschäftigt werden. Was eine kuriose Frühform des Jobsharing zur Folge hat. Brocker trainiert vormittags, Marotzke nachmittags. Womit Letzterer seiner Nebenbeschäftigung als Dozent an der Kölner Sporthochschule weiter nachgehen kann. Einfluss und Autorität Marotzkes schwinden erwartungsgemäß rapide. Brocker ist der neue starke Mann, zumal ihm der Erfolg bald Recht gibt. Zum Ende der Hinrunde verlässt die Mannschaft mit einer kleinen Serie von 7:1 Punkten erstmals die Abstiegsränge.
Zum Rückrundenauftakt in Mönchengladbach sitzt Brocker allein auf der Bank. Marotzke wird als Co-Trainer für gewisse Trainingseinheiten und -formen nur noch auf dem Übungsplatz gesichtet. Beim Tabellenzweiten auf dem Bökelberg setzen Brockers Jungs endlich mal ein richtiges Ausrufezeichen. Am Ende steht es nach je zwei Treffern von Hans-Jürgen Wittkamp und Manfred Pohlschmidt sowie einem von Hermann Erlhoff und Willi Kraus bei einem Gegentor von Günter Netzer 1:6.
Siebert eilt nach dem Abpfiff ob dieser an beste Schalker Tage erinnernden Darbietung mächtig euphorisiert von der Tribüne in die Kabine. Hier umarmt er jeden, den er greifen kann, und verkündet unter lautem Gejohle die Erhöhung der Siegprämie – von 1.000 auf 1.200 Mark. Kein gewöhnlicher Akt in diesen Tagen. Schließlich sind die Kassen nach wie vor beängstigend leer. Dass in der Winterpause die Eintrittspreise um zehn Prozent erhöht werden, darf der Verein offiziell aber zu Recht mit der Einführung der ebenso hohen Mehrwertsteuer begründen.
Unter Brocker stabilisiert sich die Mannschaft in der Rückrunde. Mit dem Abstieg hat sie bald nichts mehr zu tun. Sportliche Höchstleistungen – wie der 3:2-Sieg beim späteren Meister Nürnberg – gelingen aber nur noch selten. In der Abschlusstabelle 1967/68 taucht der Vereinsname erst an 15. Stelle auf.
Für den ehrgeizigen Präsidenten ist dies ein unhaltbarer Zustand. Inzwischen haben die Stadtoberen in Gelsenkirchen den Bau des Großstadions beschlossen. Jetzt wird und will Siebert sich an den beim Amtsantritt gemachten Versprechungen messen lassen. Hinter den Kulissen laufen die Vorbereitungen für eine bessere Zukunft bereits auf Hochtouren. Zugute kommt ihm dabei, dass Schalke-Intimus Dr. Hans-Georg König zum