Helden für einen Sommer. Jürgen Thiem
ein Ziel vor Augen, so wie einst bei seinen unzähligen Läufen zuhause in Borken, den Lünsberg rauf und runter, nach dem Training, wenn die anderen längst schon auf der weichen Couch lagen.
Aki will noch einmal nach Hause. Und wer weiß, wenn er dann schon mal raus ist, vielleicht kriegt er die Geschichte ja doch noch in den Griff. So leicht jedenfalls wird er sich auch diesmal nicht besiegen lassen. Es ist ein irrationaler Kampf. Ein Kampf wider besseres Wissen. Ein Kampf, den er nicht gewinnen kann. Er weiß es. Er hat Bücher gewälzt, er hat mit Ärzten gesprochen. Das Urteil war immer das gleiche: ein Todesurteil.
Als es ihm eine Woche nach seiner Einlieferung in Essen erstmals verkündet wird, reagiert er wie immer, wenn es eine schlechte Nachricht zu verarbeiten gilt. Äußerlich gefasst. Mit schwacher, aber ruhiger Stimme schildert er seiner Frau, deren Schwester Marlene und ihrem Mann Jürgen den Befund: Knochenkrebs, Teufelszeug. Als Marlene und Jürgen das Zimmer verlassen haben, zieht er Christa zu sich auf die Bettkante. Sie zittert, schüttelt unentwegt den Kopf. Ihre schönen Augen ertrinken in einem salzigen Meer. Sie hört kaum, was er sagt, vor sich hin stammelt. Es ist mehr ein Selbstgespräch. Allein die Worte sind immer die gleichen: „Das ist die Strafe Gottes für den Mist, den ich gemacht habe!“
Die tragische Geschichte der Mannschaft, die auszog, die Fußballwelt zu erobern, am Ende aber nahezu ungekrönt in ihre Einzelteile zerfällt, beginnt früher. Viel früher. Um genau zu sein, 25 Jahre früher.
Oskar, der Baumeister
Es ist schwül an diesem Abend des 28. Juli 1967. Im Erler Schützenhaus Holz steht die Luft. Draußen sorgt Petrus für die passende Choreografie. Es blitzt und donnert. Auch drinnen rumort es kräftig, bis Oberbürgermeister Scharley zu vorgerückter Stunde ans Mikrofon tritt und einen Kompromissvorschlag unterbreitet. Einstimmig wird die Wahl des neuen Vorstands vertagt. Zuvor hat die große Mehrheit der knapp 400 Mitglieder Präsident Fritz Szepan ihr Misstrauen bekundet. Unter Tränen hatte sich die Schalker Vereinsikone gegen die Vorwürfe gewehrt. Dies ist der Moment, auf den Günter Siebert so sehnsüchtig gewartet hat. Er springt auf die Bühne, legt seinen Arm um Szepan und ruft der aufgebrachten Menge entgegen: „Pfui, so lasse ich diesen Mann hier nicht behandeln!“
Was kaum einer weiß: Siebert selbst war drei Tage vor der Mitgliederversammlung in der Sportredaktion des Düsseldorfer Mittag erschienen, um die Vorwürfe gegen Szepan zu lancieren. Dieser lasse eine Ladenhilfe und die Sekretärin seines Textilwarengeschäfts am Schalker Markt vom Verein bezahlen. Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung wird nie mehr überprüft. Für Siebert aber, seit einem Jahr Vizepräsident und zuvor Schriftführer, ist der Boden bereitet. Für die von ihm geleitete Opposition der jüngeren Generation ist der Weg frei.
Zwei Monate später, am 27. September 1967, steigt die Neuauflage der Mitgliederversammlung im Hans-Sachs-Haus. Schnell wird Siebert von nunmehr 600 Mitgliedern zum Versammlungsleiter bestellt. Als er um Vorschläge zur Wahl des Präsidenten bittet, fällt immer wieder sein Name: „Oskar!“ Sein Spitzname, den er seinem früheren Mannschaftskameraden Berni Klodt verdankt. Der taufte ihn nach dem Hauptdarsteller einer Cartoon-Serie in der Zeitschrift HörZu. Es handelt sich um den Igel Oskar mit sieben Kindern. Siebert hat zu dem Zeitpunkt gerade mal drei. Es werden später tatsächlich sieben. Der Name also passt. So oder so. Er hat schließlich auch etwas Volkstümliches, Hemdsärmliges. Genau das, was Schalke jetzt braucht.
Siebert lässt die Mitglieder noch ein bisschen zappeln, spielt mit der Stimmung im Saal, weidet sich an der breiten Zuneigung. Mehrfach versichert er den Schalkern, er könne sich nicht wählen lassen, er habe es seiner Frau versprochen. Als die „Oskar“-Rufe immer lauter werden, übernimmt der Vorsitzende des Verwaltungsrats Hermann Kerl die Versammlungsleitung. Minuten später ist Günter Siebert mit einer überwältigenden Mehrheit von 98 Prozent zum neuen Präsidenten gewählt. Mit 36 Jahren ist er der jüngste Vereinsboss in der Bundesliga. An der Spitze einer jungen Vorstandsmannschaft. Schatzmeister Heinz Aldenhoven ist sogar noch drei Jahre jünger.
Aber nur mit jungen Leuten in diesem vor Tradition triefenden Verein, da würde ihnen alles gleich um die Ohren fliegen, wenn es nicht so läuft. Siebert weiß das nur allzu gut und zieht sein nächstes Register. Als Vertreter der Szepan-und-Kuzorra-Generation will er den beliebten Heinrich Orzewalla, von den Schalkern liebevoll „Onkel Heini“ gerufen“, zum Vizepräsidenten machen. Der aber ziert sich, ist kein Mann großer Worte.
Siebert versucht ihn zu überzeugen. Am Ende der kurzen Unterredung lenkt Orzewalla ein: „O. k., ich mach’s, wenn du mir versprichst, dass ich nie eine Rede halten muss …“ Orzewallas „Erpressungsversuch“ ist im ganzen Saal zu hören, weil Siebert kurz zuvor das Mikrofon eingeschaltet hat, und wird mit freudvollen „Heini, Heini“-Sprechchören quittiert. Orzewalla wird gewählt, die Rede aber hält Siebert.
Es ist die Geburtsstunde eines glänzenden Rhetorikers und Volkstribuns. In 30 Minuten verzaubert er die blau-weiße Glaubensgemeinschaft. Mit Vorstellungen, Illusionen und Träumen, die so ganz nach dem Geschmack der nach Erfolgen dürstenden Schalker Seele sind. Es könne nicht länger sein, dass die A-Jugend des STV Horst-Emscher in der Tabelle vorm Schalker Nachwuchs stehe. Siebert spricht von notwendigen Investitionen in die Zukunft und nennt als Beispiele die Freikarten für Schulkinder und die Rückholaktion von Reinhard Libuda.
Als die bierselige Stimmung ihrem Höhepunkt entgegenschwappt, inszeniert der neue Vereinsführer einen gekonnten verbalen Doppelpass mit dem Stadtoberhaupt. Die Stadt plane doch ein Großstadion für die WM 74? In vier Monaten werde der Stadtrat darüber beschließen, entgegnet Hubert Scharley. Wie groß es denn werde, suggeriert Siebert den Zuhörern völlige Unkenntnis. 70.000 Zuschauer solle es fassen, so der OB.
Das Stichwort für Siebert. Er setzt an zum großen Finale. „Wir haben sieben Jahre Zeit. In diesen sieben Jahren baue ich eine Mannschaft auf, die das Stadion füllt und wieder um den Meistertitel spielt!“ Seine letzten Worte gehen beinahe unter im aufbrausenden Jubel der Wir-werden-wieder-wer-Gesalbten. Als kurz vor Mitternacht die Vereinshymne „Blau und Weiß“ intoniert wird, steht nicht wenigen altgedienten Königsblauen das Weihwasser in den Augen.
1951 ist Günter Siebert zum ersten Mal in Schalke aufgetaucht. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion. In der Walpurgisnacht, ein symbolträchtiger Zeitpunkt angesichts der Hexentänze, die er Jahrzehnte später auf Schalke veranstalten sollte. Vor seinem Fenster im Kasseler Elternhaus hat er eine Leiter aufgestellt. Als gelernter Zimmermann und Treppenbauer bewegt er sich traumwandlerisch auf den schmalen Sprossen. Als das verabredete Zeichen vom Straßenrand kommt, ist er Sekunden später unten, im Auto des wartenden Spielervermittlers. Im Morgengrauen führt die Fahrt an Dortmund vorbei. Hier könne er auch rausfahren, bekundet der Vermittler. Der 20-jährige Günter schüttelt den Kopf. Er hat sich für Schalke entschieden.
Neun Jahre zuvor, im Frühjahr 1942, hatte er erstmals Bekanntschaft mit dem Verein gemacht. Sein Vater, im Kriegsurlaub aus Frankreich nach Hause gekommen, fragte: „Willst du mal die beiden besten Fußballspieler Deutschlands sehen, Fritz Szepan und Ernst Kuzorra?“
Natürlich wollte er. Das Freundschaftsspiel gewann der Gaumeister Westfalens gegen den hessischen Gaumeister Kassel 03 3:1. Die Liebe des kleinen Günter zu den Königsblauen war entflammt. Fortan war er beim Straßenkick nur noch Fritz Szepan. Wo dieses geliebte Schalke lag, das allerdings entzog sich weiter seiner Kenntnis.
Das Vorbild gereichte ihm zum Vorteil. In der Jugend des CSC Kassel 03 reifte der flinke Günter zum veritablen Sturmtalent heran. Als er auch in der 1. Mannschaft reüssierte, wurde Schalke auf ihn aufmerksam.
Für zehn Uhr ist an diesem Maifeiertag das Probetraining in der Glückauf-Kampfbahn angesetzt. Der Spielervermittler hantiert mit einer Schuhbürste, will Sieberts Blut zum Zirkulieren bringen. „Ötte“ Tibulsky, Vereinswirt und Mitglied der legendären Kreisel-Mannschaft, schaltet sich ein: „Lass ma, der Junge macht auch so nen starken Eindruck.“
Womit er Recht behalten soll. Siebert haut sich vor den Augen seines Idols und Trainers Fritz Szepan mächtig ins Zeug, rasselt dabei auch mal mit Kapitän Hermann Eppenhoff zusammen. Statt böser Worte erntet er nur Anerkennung. Obmann Ernst Kuzorra nickt zustimmend vom