Helden für einen Sommer. Jürgen Thiem

Helden für einen Sommer - Jürgen Thiem


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Der Nationalspieler wirbelt häufig wenige Zentimeter vor mir die Kreidelinie entlang, bereitet den Schalker Führungstreffer durch Klaus Fischer vor. Am Ende steht es 0:3, ohne dass ich auch nur ein einziges Mal aus meiner Deckung gegangen wäre.

      Vielleicht war’s einfach nur anerzogene Höflichkeit. Respekt gegenüber – in jeder Hinsicht – großzügigen Gastgebern. Mit einem Schalke-Wimpel im Anschlag ausgelassen vor Menschen herumzuhüpfen, für die gerade ein nicht unerheblicher Teil ihrer Fußballwelt zusammengebrochen ist – nein, das macht ein anständiger Schalker nicht.

      Das Rückspiel, ein halbes Jahr später, verliert Schalke in der Glückauf-Kampfbahn mit 0:1. Diesmal geht es nicht mit rechten Dingen zu. Man könnte auch sagen, es ist eine linke Sache. Doch ist es noch viel mehr. Der tragische Beginn einer Ära, die nur in Ansätzen eine wurde. Der Anfang vom Ende einer großen Mannschaft, die zerfällt, bevor sie ihre wahre Größe auch nur annähernd erreicht hat. Übrig bleibt ein beinahe läppischer Pokalsieg. Genau 40 Jahre ist das jetzt her. Es ist der einzige Titel einer Mannschaft, die, gespickt mit genialen und technisch brillanten Fußballern, das Zeug hatte, langfristig in die Phalanx der großen zwei, Bayern und Mönchengladbach, einzudringen.

      Warum hat dieser großartigen Mannschaft eigentlich noch keiner ein Buch gewidmet? Dieser wohl besten Schalker Mannschaft aller Zeiten, von der die Fans fünf Spieler allein in die Elf des Jahrhunderts gewählt haben. Dieser Mannschaft, mit der sich noch heute jeder königsblaue Fan meines Jahrgangs und noch reiferer Jahrgänge identifiziert. Eine Frage, die ich mir lange gestellt habe. Eine Antwort habe ich nie erhalten, stattdessen den wachsenden Wunsch in mir gespürt, es selbst zu tun.

      Der Aufhänger für ein solches Werk spukte mir schon seit Jahren im Kopf herum. Es ist die persönliche Geschichte von Herbert „Aki“ Lütkebohmert. Jenes Spielers, der mit eben dieser Saison 1971/72 zu meinem großen, alleinigen Idol wurde und damit Stan Libuda ablöste. Ab diesem Zeitpunkt trug ich nur noch die Nummer 6, krempelte meine Ärmel auf wie er, ließ die Stutzen rutschen. So wie er. Auch seine Spielweise versuchte ich zu kopieren. Laufen ohne Ende, Pässe über 30, 40 Meter, Schüsse aus der Distanz. Alles gebettet auf einer feinen Technik.

      Meine unzulänglichen Kopiervorgänge haben mir gerade mal für ein Jahr in den Kader der A-Jugend von Arminia Bielefeld verholfen. Ausgerechnet Bielefeld. O. k., Jugend-Westfalen-Liga, höchste Spielklasse. Zeigen konnte ich meine unvollendete Fußballkunst selten. Ich war nur verletzt, was den Vorteil hatte, dass ich zum Beispiel auf der Auswärtsfahrt nach Schalke im kleinen Mannschaftsbus ausgeruht königsblaues Liedgut anstimmen konnte. Was die Mannschaftskameraden bereitwillig mitträllerten. Woraufhin unser wenig verständnisvoller Trainer mir mit Rausschmiss drohte. Nicht nur aus dem Bus.

      Dennoch: Die Zeiten, dass ich in Bielefeld meine Schalke-Liebe verheimlichte, waren endgültig vorbei. Meine kurze Zeit bei Arminia bald ebenso. Gegner Schalke gewann am Ende jener Saison die Deutsche A-Jugend-Meisterschaft. Wieder schien eine goldene Generation heranzureifen. Es blieb beim Konjunktiv. Ein Jahr später kratzte die fast noch komplette 72er-Mannschaft ein letztes Mal an der Meisterschale. Es folgte der schleichende Niedergang. Auch der des großartigen Menschen Lütkebohmert.

      Aus den Augen verloren habe ich ihn nie. Auch nicht nach dem Ende seiner Profikarriere. Seine unvollendete Geschichte, seine Schicksalsschläge: Das alles birgt Pathos und Mythos in sich. Zwei große Begriffe, die zu Schalke passen. Und ganz besonders zu dieser einmaligen Mannschaft. Lütkebohmerts Geschichte könnte also stellvertretend sein. Für die einer ganzen „verlorenen“ Generation. So viel war mir klar. Es wurde mir noch viel klarer, als ich Anfang 2010 meinen ganzen Mut zusammennahm, um zu seiner Familie Kontakt aufzunehmen. In vielen, oft stundenlangen Gesprächen verfestigte sich mein Eindruck, vervollständigte sich das Bild.

      Die Recherche für dieses Buch wurde zu einer aufregenden Reise zurück in meine Jugend. Ich habe dabei alle noch lebenden Spieler der Mannschaft getroffen, den Glanz in ihren Augen gesehen, wenn sie von dieser Zeit erzählen. Ihren Stolz, ein Teil davon gewesen zu sein. Aber auch ihren Schmerz, nicht wenigstens ein einziges Mal die Schale in Händen gehalten zu haben. Bei allen hat die Tragik dieser Geschichte eine spürbare Narbe hinterlassen. Und doch wirkten sie alle irgendwie dankbar, darüber erzählen zu können.

      Es sind ihre zahlreichen kleinen Geschichten, Anekdoten und Randnotizen, die mir die an Leid und Liebe reiche Vergangenheit nahegebracht haben. Auf ihnen beruht dieses Buch. Auf persönlichen Erinnerungen und subjektiven Erzählungen. Möglich also, dass nicht jedes wiedergegebene Erlebnis hundertprozentig der tatsächlichen Begebenheit entspricht. Eine ausführliche Auflistung der Geschichten und ihrer „Urheber“ finden Sie in der Danksagung am Ende des Buchs. Dennoch gab es für mich beim Schreiben keine Alternative zur Gegenwartsform, weil sie die Geschehnisse dieser Zeit einfach lebendiger erscheinen lässt. So habe ich beim Hören und Notieren manches wieder und vieles völlig neu erlebt. Ich hoffe und wünsche mir, dass es Ihnen beim Lesen ähnlich ergeht.

       Jürgen Thiem, im Winter 2012

       Die Diagnose

      Da ist er wieder, dieser stechende Schmerz. Aki rappelt sich auf. Der Versuch eines Lächelns. Bloß keine Müdigkeit zeigen. Auch jetzt, mit 44, hat er noch einen Ruf zu verteidigen. Er, den sie Zeit seines Fußballerlebens „Pferdelunge“ genannt haben. Noch immer rennt er allen davon. Hier auf dem Trainingsplatz am Lohrheidestadion, in der Altherrenmannschaft des Wattenscheider Textil-Moguls Klaus Steilmann.

      Doch jetzt ist etwas anders als sonst. Das spürt er. Klar, es ist ein harter Zweikampf um den Ball gewesen. Er war wieder mal einen Schritt schneller, der Gegenspieler hat ihn zu Fall gebracht. Alles kein Problem. Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert. Und die Schmerzen in der Hüfte, nichts Neues. Die hat er ja schon über ein Jahr. Ein Hämatom, keine Frage. So etwas kommt selbst bei besten Fußballrentnern vor. Nicht der Rede wert. Und erst recht keinen Arztbesuch. Da hat er schon ganz andere Probleme gelöst. Oder besser, verdrängt.

      Diesmal aber fällt es ihm schwer, das Verdrängen. Mit zusammengepressten Lippen quält er sich über die letzten Minuten. Vorzeitig vom Platz gehen, das war noch nie sein Ding. Unter der Dusche vermissen die Mitspieler seine lockeren Sprüche. Erst in der Vereinsgaststätte, beim zweiten Bier, findet er seine Sprache wieder. Die Schmerzen aber bleiben. In der Leiste, in der Hüfte, im Rücken, im Gesäß.

      Seine Schwester Luzie, gelernte Krankenschwester, bedrängt ihn, endlich zum Arzt zu gehen. Aki winkt ab: „Das wird schon wieder!“ Drei Monate später, im Urlaub auf Ameland, zwingen ihn die Schmerzen buchstäblich in die Knie. Sein Kreislauf spielt nicht mehr mit. Auch eine Folge der starken Schmerztabletten, die er sich inzwischen wie Halsbonbons einwirft. Es geht nicht mehr anders. Aki muss den Platz, in dem Fall sein geliebtes Eiland, vorzeitig verlassen.

      Daheim in Borken veranlasst sein Hausarzt eine Blutuntersuchung. Das Ergebnis ist alarmierend. Noch am selben Tag wird er ins örtliche Marienhospital eingewiesen. Sein Zustand verschlechtert sich stündlich. Eine schwere Lungenentzündung gesellt sich hinzu. In Borken fühlen sich die Ärzte überfordert. Mit Blaulicht wird Aki nach Essen gefahren, in die Uniklinik. Seine Frau Christa hält ihm die Hand, als er, schweißnass im Bett liegend, ins Röntgenzentrum geschoben wird.

      Zwei Monate lang hängt er am Tropf, kann keine feste Nahrung zu sich nehmen. Vom einstigen Helden der Nordkurve, dem durchtrainierten Laufwunder und Frauenschwarm, bleibt nur ein schwindender Rest. Dreimal rufen die Ärzte Christa Lütkebohmert in Borken an. Dreimal versuchen sie ihr schonend beizubringen, dass das Ende naht. Sie will es nicht wahrhaben. Nächtelang wacht sie an seinem Bett im Zimmer 205 auf der Station M4. Auf jedes noch so kleine Hoffnungszeichen wartend. Sie redet leise und behutsam auf ihn ein, fordert ihn immer wieder auf, durchzuhalten.

      Als sich keine Besserung einstellt, sitzt sie apathisch neben ihm, schaut an ihm vorbei, über ihn hinweg. Sie will bei ihm sein und kann sein Leiden doch nicht mehr mit ansehen. Er habe bisher nur dank seines starken Herzens überlebt, versichern ihr die Fachleute in weißen Kitteln.

      Es ist Weihnachten 1992. Und noch keine Zeit zum Sterben. Noch einmal trägt Aki den Sieg davon, noch einmal entscheidet er den Zweikampf für sich. Wenn es auch ein ungleicher ist und der Gegner


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