Helden für einen Sommer. Jürgen Thiem
bittet, zögert dieser zur Überraschung aller. Er habe Sepp Herberger versprochen, bis zu den Olympischen Spielen in Helsinki im nächsten Jahr keinen Profivertrag zu unterschreiben. Szepan legt seinen Arm um Siebert und entgegnet: „Junge, was ist eine Olympiade, wenn du das königsblaue Trikot tragen darfst?“
Siebert willigt ein. Stunden später erfährt er wegen seines eigenmächtigen Handelns schmerzhafte Sanktionen. Seine Mutter begrüßt ihn daheim mit einer Ohrfeige. Anschließend bricht sie in Tränen aus, wohl wissend, dass ihr Günter nicht mehr zu halten ist.
Mit 50 Mark in der Tasche trifft Siebert sechs Wochen später in Gelsenkirchen ein. Vereinspräsident Albert Wildfang verschafft ihm eine zweite Lehre zum Großhandelskaufmann. Als er zwei Jahre später Schalke wieder den Rücken kehrt, ist die Ausbildung nicht das Einzige, was er mit nach Kassel zurücknimmt. Im zweiten Jahr gelingen ihm stattliche 15 Tore. Schalke hätte ihn gern behalten. Ihm bleibt aber keine Wahl.
In der Sommerpause 1952 heiratet er in Kassel seine Freundin Hanna, Tochter eines Lebensmittelhändlers. Der Schwiegervater, Fan und Funktionär von Hessen Kassel, bietet die Tochter unter der Voraussetzung feil, dass Siebert nach Ablauf seines Vertrages auf Schalke 1953 zu Hessen Kassel wechselt. Was tut man nicht alles für die Liebe!
Immerhin schließt der Umworbene in den folgenden beiden Jahren seine dritte Lehre ab. Jetzt darf er sich auch Lebensmittelkaufmann nennen. Siebert, nach seinen ersten Jahren auf Schalke mit der Ungewissheit des Profigeschäfts vertraut, setzt zunehmend auf die Karriere außerhalb des Platzes. Mit 400 Mark Startkapital und einem Gebrauchtwagen eröffnet er in Kassel einen mobilen Getränkevertrieb.
1955 klopft sein Leib- und Seelenklub wieder an. Trainer Edi Frühwirth sucht einen Mittelstürmer seines Zuschnitts. Schalke zahlt stolze 35.000 Mark für den Rückkehrer. Ein zweites Mal packt Siebert seine Sachen, gereift und festen Willens, diesmal auf Schalke Großes zu erreichen. In jeder Hinsicht. Gleich nach seiner Ankunft gründet er einen Bierverlag, beliefert unter anderem 20 Trinkhallen, die er bald sein Eigen nennt. Weil er sich durch Fußball und Geschäft noch nicht ausgelastet fühlt, fährt er morgens um vier auch noch Zeitungen aus. Frisch aus der Druckerei in seine Trinkhallen und in den Bahnhof, wo er sie eigenhändig verkauft.
Gelsenkirchen – Wirtschaftswunderland. Und Günter Siebert ist mittendrin. Keine Frage, der Mann ist geschäftstüchtig, ja geradezu geschäftssüchtig. Mit seinem ersten 60 m² großen Discountladen an der Grenzstraße lässt er einen weiteren Versuchsballon steigen. Mit Dumpingpreisen sichert er sich seine Kundschaft. Eine Tafel Schokolade kostet im Großmarkt in Münster 1,30 Mark? Kein Problem, Siebert verkauft sie für 92 Pfennige. So werden aus einem Laden schnell zehn. Nach Heimspielen versammelt er die halbe Mannschaft in seiner Wohnung. Es wird gegessen, getrunken und gefeiert. Nicht selten bis Montag früh. Der Einzige, der bald wieder raus muss, ist Siebert.
Die gute Kameradschaft spiegelt sich auch auf dem Platz wider. 1958 gelingt der große Coup. Im Finale um die Deutsche Meisterschaft wird in Hannover der Hamburger SV 3:0 bezwungen. Auf der triumphalen Rückfahrt hält der Meisterzug auch kurz in Dortmund. Eine Abordnung des BVB steht am Bahngleis und gratuliert. Ein Bild, das sich bei Siebert tief einbrennt und ihn Jahre später zu einer spektakulären geheimen Hilfsaktion veranlasst. Als die Schwarz-Gelben 1973 kurz vorm wirtschaftlichen Aus stehen, springt Schalkes Präsident mal so nebenbei für vier Monate als Aushilfsmanager ein, organisiert unter anderem ein Benefizspiel zugunsten der Borussia. Außer BVB-Präsident Günther und S04-Schatzmeister Aldenhoven ist niemand eingeweiht.
Es sind aber noch andere Bilder, die sich ihm einprägen und die fortan zu Motiven seines präsidialen Tuns werden. Die 250.000 in der Gelsenkirchener Innenstadt, die die Meister 1958 immer wieder hochleben lassen. Und Wochen später die ersten Europapokalspiele der Schalker Vereinsgeschichte. Siebert selbst hat durch seine Tore entscheidenden Anteil am Einzug ins Viertelfinale. Hier allerdings ist Schluss gegen Atlético Madrid.
1959 zwingt ihn eine Knieverletzung, die Profilaufbahn zu beenden. Gedanklich ist er schon längst über seine aktive Fußballerzeit hinaus. Mit 32 erwirbt er die Edeka-Zentrale in Gelsenkirchen, für 900.000 Mark. Die dazugehörigen Filialen werden blau und weiß gestrichen. Siebert zögert nicht, mit großen Summen zu hantieren. Zumindest nimmt er sie in die Hand, wenn auch keines seiner Geschäfte von großer Dauer ist. Seine Beständigkeit liegt im Wechsel.
Günter Siebert 1956 in einem Spiel für Schalke 04.
Und doch verschafft er sich gerade damit, mit seinem medienwirksamen Aktivismus, Respekt auf Schalke und im Umfeld. Motto: Guck mal, was der Oskar da schon wieder alles auf die Beine stellt. Der Mann ist ein Macher, hat obendrein auch noch Ahnung von Fußball. Mehr noch: Er hat ein königsblaues Herz. Einer, der die Sachen anpackt und sie endlich zum Besseren wendet. Auf so einen haben sie hier gewartet. Jahrelang.
Aufbau West
Als Siebert 1966 das Amt des Vizepräsidenten bekleidet, hat sich Schalke mal wieder soeben gerettet. Am drittletzten Spieltag, in sengender Hitze, mit einem 2:0-Heimsieg im Abstiegsendspiel gegen Borussia Neunkirchen. Nach dem Schlusspfiff stürmen 38.000 in der überfüllten Glückauf-Kampfbahn den Rasen, reißen den Spielern die Trikots vom Leib, feiern den Klassenerhalt wie die achte Deutsche Meisterschaft. In allen Gelsenkirchener Kneipen wird die Polizeistunde aufgehoben.
Einer der besten Spieler auf dem Platz und in dieser, seiner ersten Bundesligasaison ist Klaus Fichtel. Ein Jahr zuvor hat ihn Schalkes Trainer Fritz Langner von Arminia Ickern geholt. Fichtel kommt aus einer Fußballerfamilie. Sein Vater spielte noch mit 37 in der Gauliga. Sein Bruder ist Vertragsspieler bei Westfalia Herne. Wie sein Vater hat Klaus Fichtel Bergmann gelernt, auf Zeche Viktoria III/IV seine Knappen-Prüfung bestanden, auf Ickern I/II seine Kohlen gebrochen. Ein ganzes Jahr lang arbeitete er unter Tage. Er verkörpert damit eine aussterbende Spezies beim Kohle- und Knappen-Klub. Schon bald wird er der letzte S04-Profi mit Flöz-Erfahrung sein.
In seiner ersten Saison überzeugt der 21-Jährige als Manndecker neben Alfred Pyka. Er brilliert technisch und strahlt mit jungen Jahren eine dermaßen große Ruhe aus, dass Helmut Schön ernsthaft erwägt, ihn für die anstehende WM in England zu nominieren. Langner, wegen seines knochenharten Trainings und seiner leidenschaftlich vorgetragenen Kriegserlebnisse auch „General Fritz“ genannt, interveniert. Fichtel muss bis Februar 1967 auf sein erstes Länderspiel warten. Das Spiel gegen Neunkirchen wird er später als das emotionalste seiner ganzen Karriere bezeichnen. Und in der hat er am Ende immerhin 552 Bundesligaspiele bestritten.
Im Überschwang der Rettungsgefühle lässt sich Präsident Szepan an diesem 14. Mai 1966 zu einer Aussage verleiten, die ein Jahr später ebenfalls dazu beitragen wird, dass das königsblaue Volk Günter Siebert wie einen Messias empfängt. „In der vierten Bundesligasaison werden wir nicht mehr zu zittern brauchen, sondern andere Mannschaften zum Zittern bringen, die heute noch nicht daran denken!“
Die Wahrheit liegt im Fußball allerdings schon seit jeher auf dem Platz. Und so ist es dumm für Szepan und alle gutgläubigen Schalke-Fans, dass sich Geschichte wiederholt. Fast auf den Tag genau ein Jahr später, am 20. Mai 1967, bedarf es wieder am 32. Spieltag eines glücklichen Heimsiegs, um die Rettungsparty zu starten. Manni Kreuz und Willi Kraus drehen einen 0:1-Pausenrückstand gegen Fortuna Düsseldorf in einen 2:1-Erfolg. Wieder feiern die Fans den Klassenerhalt euphorisch.
Obwohl an diesem Tag Josef Elting noch mal den Schalker Kasten hüten darf, hat ihn ein 18-jähriger „Überflieger“ längst verdrängt. Norbert Nigbur, in der frühen Jugend bei Heßler 06 noch Mittelstürmer, gilt längst als herausragendes deutsches Torwarttalent. Viele wissen es, nur seine Eltern nicht.
Der junge Norbert spielt sonntagmorgens erst Hallenhandball, beim DJK Heßler, anschließend schnürt er beim SV 06 die Fußballschuhe. Weil die Eltern glauben sollen, der Sohnemann wohne dem katholischen Gottesdienst bei, wird stets ein Kumpel aus der Siedlung abgestellt, der die Kirche besucht und den Inhalt der Predigt rezitiert. Für den Fall, dass die Eltern mal misstrauisch werden und fragen.
Sie fragen selten. Nur so ist es