Gleichheit. Das falsche Versprechen. Martin van Creveld

Gleichheit. Das falsche Versprechen - Martin van Creveld


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Gesetzen gedeckt war, die beinahe als heilig galten. Die Heloten waren einer so schlimmen Behandlung ausgesetzt, dass Plutarch einmal bezweifelte, ob die betreffenden Gesetze wirklich von Lykurg selbst eingerichtet worden sein konnten; er meinte, sie müssten später hinzugefügt worden sein.

      Ebenfalls nicht gleichgestellt waren die perioikoi oder Periöken, wörtlich »die um das Haus herum wohnen«. Sie waren frei, aber nicht gleichberechtigt; zwar dienten sie im Heer und später auch zu Schiff, aber sie durften weder Vollbürger heiraten noch besaßen sie politische Rechte.20 Doch damit noch nicht genug: In mehreren Kriegen errang Sparta im Lauf des 6. Jahrhunderts schrittweise die Herrschaft über die gesamte Peloponnes. Wahrscheinlich über ein System unterschiedlicher Abkommen, wie es später auch die Römer nutzten, um zunächst Latium und dann Italien insgesamt zu beherrschen, wurde es zum Zentrum des Peloponnesischen Bundes. In unseren Quellen, die überwiegend aus dem mit Sparta verfeindeten Athen stammen, werden die Spartaner gemeinhin als Lakedämonier bezeichnet. Offenbar bezog sich dieser Begriff unterschiedslos auf Vollbürger, Periöken und abhängige Bundesgenossen. Gelegentlich umfasste er sogar einige der Heloten, die als Träger und sonstige Zivilisten im Heer dienten.

      Die Peloponnesische Gesellschaft war also als Pyramide mit sehr steilen Seiten und flacher Spitze organisiert. Von allen Mitgliedern der Hierarchie waren nur die Spartiaten, die diese Spitze stellten, in gewissem Sinne »gleich«. Und selbst bei ihnen implizierte Gleichheit, wie Lykurg selbst betonte, keine wirkliche Demokratie, also das Recht zur gleichen Mitwirkung an der Regierung. Wiederum nach Plutarch gab es ursprünglich 9000 Spartiaten und 30 000 perioikoi. Zählt man noch die abhängigen Bundesgenossen und die Heloten hinzu – ganz abgesehen von Frauen und Kindern –, so zeigt sich, dass die »Gleichen« nur einen sehr kleinen Anteil an der Gesamtzahl stellten, nämlich gerade einmal drei bis vier Prozent. Außerdem war das der Anfang der Geschichte und nicht ihr Ende. Herodot zufolge war zu Beginn der Perserkriege 490 bis 480 vor Christus die Anzahl der Spartiaten auf 8000 gefallen.21 Plutarch berichtet, dass Lykurg vorsah, jedes neugeborene männliche Kind von den »Ältesten der Gemeindegenossen«, zu denen sein Vater gehörte, untersuchen zu lassen. Wurde es für gesund befunden, durfte es weiterleben und bekam eines der 9000 Flurstücke zugewiesen.22 Um die Anzahl der Spartiaten stabil zu halten, hätte durchschnittlich jeder Vater genau einen Sohn hinterlassen müssen. Ob das tatsächlich Lykurgs Absicht war und wie diese gegebenenfalls in die Praxis umgesetzt wurde, wissen wir nicht einmal im Ansatz.

      Um die Mitte des 5. Jahrhunderts vor Christus beschleunigte sich das Tempo, in dem die Zahl der Spartiaten abnahm. Zitieren wir wieder den unverzichtbaren Plutarch: »Aber unter der Regierung des Agis [König Agis, gestorben 401 v. Chr.] strömte zuerst wieder das Geld nach Sparta hinein, und mit dem Gelde kam Habsucht und Streben nach Reichtum ins Land durch die Schuld des Lysandros [des spartanischen Feldherrn, der die Athener besiegte und den Peloponnesischen Krieg beendete], der zwar selbst unbestechlich war, aber das Vaterland mit der Gier nach Reichtum und Üppigkeit versuchte dadurch, dass er Gold und Silber aus dem Kriege heimbrachte.«23 Neben der Kriegsbeute kam zusätzliches Geld aus Persien. Damals subventionierte das persische Reich Sparta, und das machte es möglich, dass Gelder vom Staatshaushalt in private Taschen wanderten. Wer auf diese Weise reich wurde, konnte seinen Mitbürgern deren kleroi (Flurstücke) abkaufen und machten damit die einstigen Besitzer zu einem Proletariat ohne Landbesitz, womit ihnen auch die Bürgerrechte entzogen wurden. Die andauernden Kriege mit ihren vielen Todesopfern machten die Dinge noch schlimmer. Aristoteles zufolge konzentrierte sich in Sparta der Landbesitz zunehmend in der Hand reicher Witwen.

      Zur Zeit von Aristoteles (384–322 v. Chr.) waren weniger als 1000 Spartiaten übrig. Laut Plutarch bestand das Heer der Lakedämonier in der Schlacht bei Leuktra 371 vor Christus aus 11000 Soldaten. Stimmt das, dann bildeten die Spartiaten selbst innerhalb des Heeres nur mehr eine kleine Minderheit. Bei Regierungsantritt von König Agis IV. im Jahr 244 vor Christus war die Zahl auf nur 700 gesunken. Im Verlauf des 3. Jahrhunderts wurden mehrere Versuche unternommen, diesen Niedergang aufzuhalten. Zu diesem Zweck wurden Periöken und Heloten emanzipiert, das Land beschlagnahmt und unter den Vollbürgern neu aufgeteilt. Doch wie unschwer zu erahnen, fanden diese Reformen nicht überall Zustimmung; einer von Agis’ Nachfolgern, Nabis (der von 207 bis 192 v. Chr. regierte), ließ sogar die letzten verbliebenen Mitglieder der beiden traditionellen Königsgeschlechter hinrichten. Zudem zwang er die Frauen in Sparta, die neu emanzipierten Männer zu heiraten.24 Doch das war zu wenig und zu spät.

      Setzen wir den Zeitpunkt der wichtigsten Reformen etwa um 650 vor Christus an, so währte die Gleichheit in Sparta, soweit davon eben die Rede sein kann, bis gegen Ende des Peloponnesischen Krieges, also etwa 250 Jahre. Von da an begann ihr Niedergang. Einerseits kam neue Ungleichheit auf; andererseits hatte die Beibehaltung der Gleichheit, ohne die Zahl der homoioi zu erhöhen, fatale Auswirkungen auf die Macht des Staates. Am Ende war von der berühmten spartanischen Tapferkeit nichts übrig als eine Handvoll Jugendlicher. In einer eigenen, von Touristen besuchten Zeremonie ließen sie sich zu Tode peitschen.

      Blicken wir jetzt von Sparta nach Athen. Hier stellen wir fest, dass die Gleichheit, die so genannte isonomia (wörtlich »Gleichheit vor dem Gesetz«), erst gegen Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus zu greifen begann. Wir assoziieren sie vor allem mit den Namen zweier berühmter Reformer, Solon (etwa 638 bis 558 v. Chr.) und Kleisthenes, der kurz vor Ende des 6. Jahrhunderts aktiv gewesen sein muss. Wie bei Lykurg betrafen Solons Reformen sowohl die Wirtschaft als auch die Politik – in unserem Kontext beides hochinteressant.

      Die Reform, die damals wie später am meisten von sich reden machte, war die seisachtheia, wörtlich die »Lastenabschüttelung«.25 Was die Phrase bedeutet, ist nicht zur Gänze geklärt, doch scheint sie sich auf Landbesitz zu beziehen. Zuvor war Grund und Boden dem Athener Gesetz zufolge unveräußerlich, musste also im Besitz der Männer jedes Stammes bleiben. Ein ähnliches Arrangement wird im alttestamentarischen Buch Numeri beschrieben.26 Das Ergebnis war, dass Schuldner, die ihre Ländereien weder verkaufen noch verpfänden konnten, mit ihren Gläubigern eine Art proto-feudales Verhältnis eingehen oder gar sich und ihre Familien als Sklaven verkaufen mussten. Genau diese Praxis wurde wahrscheinlich durch die seisachtheia verboten. Ausstehende Schulden wurden erlassen, und wer bereits eine der genannten Beziehungen eingegangen war, wurde rückwirkend davon entbunden. Freilich wurde damit nicht etwa die Sklaverei abgeschafft. Sowohl die Athener als Einzelne als auch der Staat konnten weiterhin Sklaven besitzen und taten das auch. Neu war lediglich, dass diese Sklaven keine Athener Bürger mehr sein konnten. Von diesem Zeitpunkt an waren also alle Athener per Definition frei.

      Damit extreme wirtschaftliche Ungleichheit gar nicht wieder aufkommen konnte, erließ Solon eine Reihe von Luxusgesetzen, nach denen die Reichen ihr Vermögen nicht offen zur Schau stellen konnten. Noch bedeutender war die Maßnahme, die Landfläche zu begrenzen, die ein Einzelner besitzen durfte. Dennoch bestand weiterhin die Gefahr einer urbanen »Lumpenproletarisierung« derer, die zwar jetzt frei waren, aber doch ihr Land verloren hatten. Offenbar aus diesem Gedanken heraus bemühte sich Solon, die Wirtschaft neu aufzustellen, und förderte Industrie, Handel, Schiffsverkehr und den Umlauf von Geld. Einige Althistoriker schreiben ihm auch die erste Einführung von Münzgeld zu. Das ist so wahrscheinlich falsch; doch um mit Aristoteles zu sprechen, es besteht kein Zweifel, dass ohne ungefähre wirtschaftliche Gleichheit und ohne eine starke Mittelklasse weder die griechische Demokratie noch die Polis selbst möglich gewesen wären.27

      Die genauen Details sind umstritten, für uns aber nicht sonderlich relevant. Vor Solon war die wichtigste Institution der Areopag, ein Adelsrat, der wie der römische Senat alle ehemaligen Beamten vereinte. Die tägliche Regierungsarbeit oblag neun Archonten oder Herrschern. Sie dienten ein Jahr lang und wurden nach dem Stand ihrer Geburt und/oder ihres Reichtums ausgewählt. Wer freilich die Auswahl vornahm und die Prüfung durchführte, der die Archonten sich bei Beendigung ihrer Amtszeit zu stellen hatten, ist unklar. Offenbar war aber alles darauf ausgelegt, dass die wahre Macht beim Areopag und den »wohlgeborenen« Adligen blieb. Solon aber entzog dem Areopag die Kontrolle über die Archonten und übertrug sie der Volksversammlung. Möglicherweise verlieh er sogar den untersten Klassen das Stimmrecht, ganz gesichert ist das aber nicht. Außerdem richtete er ein neues Organ ein, den so genannten Rat der 400, der die Debatten und Abstimmungen der Volksversammlung


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