Gleichheit. Das falsche Versprechen. Martin van Creveld

Gleichheit. Das falsche Versprechen - Martin van Creveld


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bekannten Gesellschaften ist die Gleichheit durchaus nicht vollkommen. Kein Volk, nicht einmal die Andamaner, lebte offenbar in einer Gesellschaft, in der der Zugriff auf Ressourcen gleich war, in der alles allen gehörte und in der kein Individuum die Autorität besaß, Befehle zu erteilen, oder die Pflicht hatte, zu gehorchen. Jegliche je existierende Gesellschaft beruhte nicht nur auf Ungleichheit, sondern bestand geradezu daraus.

      Zusammengefasst erkennen alle menschlichen Gesellschaften Unterschiede in Alter und Geschlecht an, die sich in unterschiedliche Fähigkeiten bei der Nahrungsproduktion sowie in unterschiedliche Rechte und Pflichten übersetzen. Abgesehen von diesen Faktoren scheint die Vermutung vernünftig, dass einige der ältesten Rechtfertigungen für Ungleichheit auf Magie, Geisterkult, Religion oder andere Auffassungen vom Übernatürlichen zurückgingen. Diese These vertraten Ende des 19. Jahrhunderts etwa Anthropologen wie James Frazer in Der goldene Zweig (1890). Ihrer Theorie nach konnten als erstes Propheten, Schamanen und vergleichbare Wundertäter ihr Wissen in Einfluss ummünzen. Indem dieser Einfluss stufenweise zu Autorität wurde, Autorität zu Macht und Macht zu Eigentum und Privilegien, bildeten sich Häuptlingstümer heraus. Freilich ist der Geschichte zu entnehmen, dass das nicht immer so einfach und geradlinig ablief. Ausgrabungen in Russland zeigen etwa, dass bereits vor 30 000 Jahren, also lange bevor die sogenannte Neolithische Revolution Sesshaftigkeit ermöglichte, einigen Menschen relativ großer Reichtum ins Grab gelegt wurde; andere dagegen wurden mit kaum irgendeiner Beigabe bestattet. Erstere waren wahrscheinlich Häuptlinge, Letztere aus dem gemeinen Volk.44 Wie es dazu kam, wissen wir nicht. Außerdem war sowohl bei Menschen, als auch bei vielen Tieren Ungleichheit in Begleitung von Unterwürfigkeit – das heißt also anerkannte Ungleichheit – genau der Faktor, der die Gemeinschaft oder Gruppe zusammenhielt. Anderenfalls hätten Individuen, die um materielle und sexuelle Ressourcen konkurrierten, einander wohl in Stücke gerissen. Und das nicht nur gelegentlich, sondern ständig.

KAPITEL 2

      Das erste Volk, das sich an die Gestaltung einer Gesellschaft machte, die in gewisser Hinsicht auf Gleichheit basierte, waren die Einwohner im archaischen Griechenland. Leider haben wir über diese Zeit insgesamt nur sehr spärliche Informationen; überwiegend beschränken sie sich auf archäologische Funde und auf die Dichtungen von Homer und Hesiod. Dazu kommen viele Mythen über Götter, Ungeheuer und übernatürliche Heldentaten. Wegen ihres mythologischen Charakters sowie der Tatsache, dass sie erst Jahrhunderte nach den angeblich beschriebenen Ereignissen niedergeschrieben wurden, sind sie freilich in ihrem dokumentarischen Wert problematisch. Schließlich gibt es noch einige zufällige Bruchstücke in den Schriften griechischer Historiker der klassischen Ära. Und dass im so genannten dunklen Frühmittelalter nicht geschrieben wurde, macht die Sache auch nicht gerade einfacher.

      Diesen wenigen Quellen zufolge wohnten zwischen etwa 1100 und 700 v. Chr. in Griechenland Gruppen in einem Zwischenstadium zwischen Hordengesellschaften und Häuptlingstümern. In der Ilias heißt der oberste Anführer Agamemnon. Um noch einmal Thersites zu zitieren: »Reich mit Erz sind [Agamemnons] Zelte gefüllt, und Weiber in Menge Sitzen in deinen Gezelten«. Wann immer eine Stadt erobert wurde, beanspruchte er die beste Beute für sich selbst, wie es ihm kraft seines Ranges auch zustand. Er war umgeben von rangniederen Anführern, von denen Odysseus, gemessen an der Anzahl von Kriegern, die er mobilisieren konnte, zu den eher unbedeutenden gehörte. Sie werden als »großzügig« beschrieben; er erhielt »Geschenke« von ihnen, und er besaß eine gewisse Autorität über sie; so viel jedenfalls, dass die anderen Anführer um seinetwillen ihre Heimat verließen, sich ihm an einem vereinbarten Treffpunkt anschlossen und zehn Jahre lang mit ihm Krieg führten, obwohl keiner von ihnen persönlich von den Trojanern behelligt worden war – wirklich keine geringe Leistung.

      Dabei war Agamemnon kein Despot. Besonders interessant ist seine Beziehung zu Achilles. Als individueller Krieger war Achilles dem Agamemnon haushoch überlegen, das wussten sie beide. Und doch konnte Agamemnon ihm drohen, er werde notfalls in Achilles Lager einfallen und sein Ehrengeschenk rauben, das Mädchen Briseis. Damit würde er Achilles beibringen, »wie viel höher ich sei als du, und ein anderer zage, gleich sich mir zu dünken und offen zu trotzen ins Antlitz!«1 Schließlich befehligte er mehr Krieger und besaß, um sie zu bezahlen, wahrscheinlich größere Schätze als jeder andere; doch als Achilles sich aus dem Krieg zurückzog, konnte Agamemnon ihn nicht daran hindern. Um ihn zurückzulocken, musste er ihm schmeicheln, Versprechungen machen und wertvolles Eigentum übertragen. Ihre Beziehung beruhte also weder auf Autorität noch auf Gleichheit, sondern auf einem gewissen Interessensausgleich. Zudem ging nach Ende des Krieges jeder Unter-Anführer zurück in seine asty, was sich am treffendsten mit »Zitadelle« übersetzen lässt. Nichts weist darauf hin, dass irgendeiner von ihnen weiterhin Agamemnons Autorität unterstand oder ihm gar Tribut zahlte. Da diese Heimatstädte von Pylos im Westen der Peloponnes und im Osten bis nach Kreta verteilt waren und zudem manche von ihnen nicht nur durch Land, sondern auch durch das Meer voneinander getrennt waren, wäre das auch höchst unwahrscheinlich gewesen.

      Die Anführer werden bald als anax, bald als basileus bezeichnet. Über die gesamten Dichtungen hinweg werden die beiden Termini wahlweise verwendet, häufig für dieselbe Person. Allerdings fällt der Titel anax vor allem den mächtigeren Anführern wie Zeus und Agamemnon zu. Sie verdankten ihre Stellung drei Faktoren, nämlich ihrer politisch-militärischen Leistung, ihrem Reichtum und ihrer Abstammung. Dass man sich der Abstammung erinnern muss, erklärt, warum das 2. Buch der Ilias sie in einem so detaillierten Katalog vorführt. Aus diesem Grund werden auch all die Völker genannt, die von ihnen beherrscht wurden, sowie die vielen Schiffe, die jeder von ihnen für seine Kriegszüge aufbringen konnte. Und jedes Mal, wenn ein griechischer Anführer auf dem Schlachtfeld einem Trojaner gegenübersteht, brüsten sich als erstes beide ihrer Vorfahren. Manche von ihnen beanspruchen göttliche Abstammung, obwohl ihnen diese Tatsache an sich offenbar keinen besonderen Vorrang vor den anderen verleiht: Dass etwa Sarpedon Zeus’ eigener Sohn ist, schützt ihn nicht davor, von Patroklos getötet zu werden. Andere, die zwar nicht von Göttern abstammen, werden gleichwohl als »göttergleich« bezeichnet.2

      Von Gleichheit, egal ob sozial, ökonomisch, politisch oder vor dem Gesetz, konnte ohnehin nicht die Rede sein. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass sowohl in der Ilias, als auch in der Odyssee abgesehen von Unterhaltungen mit göttlichen Wesen praktisch alle Begegnungen, seien sie friedlicher oder feindlicher Natur, zwischen Aristokraten stattfinden. Das gemeine Volk, das sie so zahlreich anführten, kommt äußerst selten ins Bild. Zwar spielt es eine größere Rolle in der Odyssee als in der Ilias. Das liegt jedoch nur daran, dass der Held, der über Jahre fern der Heimat und fern von anderen Anführern umherreist, stärker von ihm abhängt als das normalerweise der Fall wäre. Wir begegnen so Bauern, Hirten, Handwerkern, Ärzten und Wahrsagern, die das Epos allerdings nur selten beim Namen nennt. Das geschieht nur dann, wenn sie wie im Fall des unseligen Thersites gegen einen Anführer aufbegehren oder ihm helfen wie einige von Odysseus’ Bediensteten nach der Heimkehr von seiner Irrfahrt.

      Will man die homerischen Epen als historische Quellen nutzen, so stößt man sich daran, dass sie wie die Sagen und Mythen ihre endgültige Form erst Jahrhunderte nach den beschriebenen Ereignissen erhielten. In diesen Jahrhunderten verschwand mit der Mykenischen Kultur eine ganze Zivilisation von der Erde. Das Land wurde wiederholt besetzt, und die sozio-politischen Organisationssysteme erfuhren radikale Veränderungen. Von Hesiod, der wahrscheinlich kurz nach Homer lebte, hören wir, dass einige Menschen reich und mächtig waren, andere arm und demütig. Häufig unterdrückten die Reichen die Armen, und in der Tat kann man sein Lehrgedicht Werke und Tage als Protestschrift gegen diese Unterdrückung lesen. Freilich fordert der Dichter nicht, Gleichheit durch- und die Anführer abzusetzen, allerdings verlangt er von letzteren Gerechtigkeit.3 Abgesehen davon liefert er wenige Details über das Funktionieren der Gesellschaft.

      Dass es diese Häuptlingstümer einst wirklich gegeben hat, beweist am besten die Tatsache, dass selbst in der klassischen Ära viele Balkanstämme sich noch nicht per synoikismos zusammengeschlossen hatten, der »Zusammenlegung von Haushalten« zu einer einzigen Polis. Völker wie die Illyrer, die Thraker und die Ätolier lebten weiterhin in so genannten ethne, was sich als Volksstamm, Haufen oder Schar übersetzen lässt. Jedem »Volk«


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