Gleichheit. Das falsche Versprechen. Martin van Creveld

Gleichheit. Das falsche Versprechen - Martin van Creveld


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seltener als beim Menschen – sind beide Signale eindeutig verständlich. Sowohl Dominanz als auch Unterwerfung werden schnell und, was ausgerissene Haare und Verletzungen angeht, billig hergestellt. Nur ganz selten kommt es überhaupt zum offenen Kampf.

      Zahllose ähnliche Primatenstudien weisen nach, dass auch bei ihnen Dominanz und Unterwerfung sehr weit verbreitet sind.11 Die Stellung jedes Individuums relativ zu allen anderen wird sehr präzise durch seine physischen und mentalen Merkmale festgelegt. In diesem Sinn kann man sogar von einer »Gerechtigkeit« oder einem gewissen Ausmaß von Fairness sprechen. Einige Affen verstehen offenbar, dass Gerechtigkeit darin besteht, dass jedes Individuum erhält, was ihm seinen Merkmalen entsprechend zusteht. Auf Störungen dieser Gerechtigkeit reagieren sie mit Empörung.12 Die Entscheidung, ob die 1,5 Prozent Genmaterial, die uns sowohl von Schimpansen als auch von Bonobos trennen, ein »Riesensprung« oder ein »kleiner Schritt« sind, überlasse ich den Philosophen. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass sie uns näher stehen als jedes andere Lebewesen auf dieser Erde.

      In diesem Licht betrachtet ist es nicht erstaunlich, dass Gleichheit in Gesellschaften, die in Deutschland in weniger politisch korrekten Zeiten als »Naturvölker« bezeichnet wurden, nicht gerade verbreitet war. Nehmen wir die so genannten Hordengesellschaften, die einfachsten bekannten menschlichen Gesellschaften. Bis etwa 1860 war eine solche, nämlich die Ureinwohner der Andamaneninseln in Südindien, eine der isoliertesten Populationen der Erde. Wahrscheinlich glich keine Gruppe zeitgenössischer Menschen so stark unseren Vorfahren aus der Steinzeit. Die Andamaner stammen wohl aus dem heutigen Myanmar und erreichten die Inseln vor etwa 60 000 Jahren über eine längst nicht mehr existierende Landbrücke. Marco Polo besuchte sie wohl nicht selbst, hörte aber aus zweiter Hand von ihnen und notierte, sie hätten keinen König. Er beschrieb sie als »seltsame Rasse«: »Die Menschen haben Köpfe wie Hunde und Zähne und Augen ebenfalls wie Hunde. (…) Die Eingeborenen sind äußerst grausam. Sie sind Menschenfresser; jeden, der nicht ihres Stammes ist, verzehren sie.«13

      Bevor die Briten die Inseln besetzten, hatten die Andamaner praktisch keinen Kontakt mit der Außenwelt.14 Die Bevölkerungszahl betrug vielleicht 5000 bis 6000; inzwischen ist sie auf kaum ein paar Hundert zusammengeschrumpft. Die Andamaner unterteilten sich in etwa zehn Stämme, die alle eine andere Sprache besaßen, obwohl sie sich meist untereinander verständigen konnten. Ihre materielle Kultur war in der Tat rudimentär. Vielleicht als einzige Menschen der Welt beherrschten sie nicht die Technik des Feuermachens, konnten es allerdings unterhalten und gebrauchen. Ihr Eigentum bestand aus relativ knappen Kleidungsstücken und Schmuck, Werkzeugen wie Netzen, Schalen, Bogen, Pfeilen und ähnlichen Geräten zum Fischen, Jagen und Kochen. Es gab auch einfache Behausungen aus leicht zugänglichen Materialien, in oder unter denen sie lebten, doch nichts, was nicht von praktisch jedem Einzelnen innerhalb weniger Stunden errichtet werden konnte. Dementsprechend waren Arbeitsteilung und Spezialisierung weitestgehend auf das Ausmaß beschränkt, das sich natürlicherweise aus Alters- und Geschlechtsunterschieden ergibt.

      Land und Meer, aus dem das Volk sich ernährte, galt als gemeinsamer Besitz aller Stammesmitglieder. Gegen Übergriffe durch Fremde wurden die Flächen allerdings verteidigt. Auch konnte ein Stamm auf Kosten seiner Nachbarn expandieren. Es gab Hungerzeiten, die entweder durch Bevölkerungswachstum oder durch Naturkatastrophen verursacht sein konnten; normalerweise aber lieferte die Umwelt genügend Ressourcen für alle. Nahrung und andere Gegenstände gehörten dem, der sie gesammelt, erjagt oder hergestellt hatte. Einerseits mangels Notwendigkeit, andererseits weil sich so viele organische Produkte nur schwer über längere Zeit hin konservieren lassen, gab es keine Neigung, materielle Gegenstände zu monopolisieren, zu horten oder damit zu handeln. Tauschgeschäfte beschränkten sich auf gegenseitige Geschenke. Dazu kam es vor allem zu bestimmten Zeiten, etwa bei Festen, doch es war so allgemein verbreitet, dass man darin eine gewisse rudimentäre Form des Handels sehen kann. Aber was gab es auch zu besitzen? Es gab keine Regierung im Sinne von klar benannten Personen oder Einzelne, die über mehr Macht und/oder Privilegien verfügten als andere.

      Dennoch dürfen folgende Fakten nicht unerwähnt bleiben: Zunächst unterschied man in der Anrede klar zwischen Ehemännern und Ehefrauen, Eltern und Kindern, Älteren und Jüngeren. Da praktisch die einzige Beziehung, die verschiedene Menschen aneinander band, die Verwandtschaft war, führte das zu zahlreichen Abstufungen sowie scharf voneinander abgegrenzten Rechten und Pflichten.15 Zweitens lautete eines der Grundprinzipien, aufgrund dessen die Horden sich zusammenfanden, dass jeder, der Nahrung besaß, sie mit denen teilen musste, die keine besaßen. Allerdings bewirkte das, in den Worten des großen Anthropologen, der die Inseln erforschte, Folgendes: »Sollte ein junger, unverheirateter Mann ein Schwein erlegen, so muss er sich damit zufrieden geben zuzusehen, wie es von einem der älteren Männer verteilt wird, wobei die besten Stücke an die Älteren gehen, während er und seine Gefährten sich mit den niederen Stücken begnügen müssen. Diese Sitte führt im Ergebnis dazu (…), dass die jüngeren Männer sich nicht gleichermaßen anstrengen wie ihre älteren Gefährten.«16 Ältere Männer konnten also aufgrund ihrer Stellung über Nahrung verfügen, die sie nicht lieferten. Dasselbe galt auch in einzelnen anderen Hordengesellschaften weltweit, etwa bei den Aeta auf der Insel Luzon und den Yanomami in Paraguay. Umgekehrt beklagen Feminismus-Forscherinnen, dass Frauen weniger bekamen, als ihnen zustand. Wenn das der Fall war, dann wahrscheinlich deshalb, weil die Männer, die die Hauptarbeit bei der Jagd und der Meeresfischerei leisteten, die proteinreichere Nahrung lieferten. Diesen Umstand nutzten sie zur Aufbesserung ihres Status.17

      Und drittens – vielleicht am wichtigsten – nahm man an, dass einige Individuen größere übernatürliche Kräfte besaßen als andere. Immer noch Radcliffe-Brown zufolge »entsprachen diese besonders bevorzugten Personen in gewissem Ausmaß den Medizinmännern, Zauberern oder Schamanen anderer primitiver Gesellschaften.«18 Je nachdem, von welcher Insel sie stammten, hießen sie Oko-jumu oder Oko-paiad. Sie beherrschten angeblich das Wetter; ein Gedanke, der ganz sicher weder einem Bonobo noch einem Schimpansen je gekommen ist. Jeder achtete folglich peinlichst darauf, sich mit ihnen gut zu stellen. Zwar besaßen sie nicht unbedingt Autorität oder gar Macht über andere, aber bestimmt größeren Einfluss als der Durchschnitt. Kurz, selbst in der einfachsten aller bekannten humanen Gesellschaften, primitiver noch als die Stämme im Hochland von Papua-Neuguinea, hoben sich einzelne Personen von den anderen ab. Man könnte sogar sagen, sobald innerhalb oder außerhalb der Familie irgendeine Form der Organisation existierte, beruhte sie auf Ungleichheit und verstetigte diese noch. Zudem zeigt etwa die Tatsache, dass die Jungen die Alten ernähren mussten, sowie die Existenz von Schamanen, dass Beziehungen nicht wie bei den Tieren ausschließlich über persönliche Leistung definiert wurden, sondern dass auch andere Faktoren eine Rolle spielten.

      Anders als die Andamaner beherrschten die australischen Aborigines auch die Technik des Feuermachens.19 Ihr Lebensraum war genauso isoliert, aber arm an Ressourcen und ungleich größer, was zu einer eher nomadischen Lebensweise führte. In anderer Hinsicht waren die beiden Populationen jedoch vergleichbar: Einige Andamaner sind so genannte Negritos, sind also kleinwüchsig, dunkelhäutig und haben krauses »Pfefferkornhaar«. Das brachte einige Anthropologen zu der Annahme, dass die beiden Gruppen irgendwie in Bezug zueinander stehen. Die Menschen lebten in Horden auf der Grundlage von Verwandtschaftsbeziehungen, wobei in beiden Kulturen eine genauere Untersuchung erweisen sollte, dass es sich häufig nicht um Blutsverwandtschaft handelte, sondern um fiktive, durch Adoption entstandene Bindungen. Zwar gab es keine Herrscher, doch innerhalb jeder Gruppe besaßen die Eltern eine gewisse Autorität über die Kinder und die Älteren über die Jüngeren. Vor allem die Ältesten genossen Respekt aufgrund ihrer angenommenen Nähe zur Geisterwelt und ihrer Fähigkeit, auf sie Einfluss zu nehmen. Häufig konnten sie Ressourcen von den Jüngeren übernehmen und ihre Ansichten durchsetzen.20 Ein Autor ist der Ansicht, dass sie die jungen Männer so manipulierten, dass sie gegeneinander zum Kampf antraten. Auf der Grundlage dieser Faktoren und seines Geschlechts kannte jedes Individuum seinen Platz und besaß seine genau definierten Rechte und Pflichten. Von Gleichheit konnte also keine Rede sein. Innerhalb der Stämme waren zudem einige Familiengruppen anderen überlegen.

      Ein drittes Volk, das wir in diesem Zusammenhang nennen sollten, sind oder waren die Nuer im Südsudan. Wie die Andamaner und die Aborigines kannten auch die Nuer keine Herrscher, keine


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