Gleichheit. Das falsche Versprechen. Martin van Creveld

Gleichheit. Das falsche Versprechen - Martin van Creveld


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individuelle »Hordenmenschen« gut gebaut, stark und sehr tapfer sein konnten. So bewerteten zum Beispiel viele Europäer die Maori, auf die sie in Neuseeland trafen.29 Der berühmte englische Reisende und Romancier Henry Rider Haggard (1856–1924) beschrieb die kenianischen Massai als »grausam oder ehrfurchtsgebietend«, »unglaublich riesig … und schön, aber doch irgendwie zierlich gebaut; aber mit dem Antlitz eines Teufels«.30 Als Winston Churchill über die Derwische schrieb, gegen die er 1896 in Omdurman kämpfte, konnte er ihren Mut gar nicht hoch genug loben.31 Und doch bewirkte die sozio-ökonomische Gleichheit, welche sich nun einmal in schwache politische Autorität übersetzte, dass sie leicht zu erobern und noch leichter zu unterjochen waren.

      Eine dritte Gruppe, die Sozialisten, schlugen eine Art Mittelweg ein. Die meisten von ihnen waren erbitterte Gegner des europäischen Kolonialismus auf anderen Kontinenten. Stattdessen entschieden sie sich, in der Nachfolge Rousseaus die Nichtexistenz von Privateigentum und den egalitären Charakter der einfachsten ihnen bekannten Gesellschaften zu feiern. Marx persönlich wandte sich in einigen seiner frühen Schriften explizit gegen die »Entfremdung«, die die »Teilung der Arbeit« mit sich brachte.32 Andererseits waren die Realistischeren unter ihnen, darunter auch Marx in späteren Jahren, sich durchaus der Tatsache bewusst, dass ein solcher Egalitarismus mit den Bedürfnissen einer komplexen Industriegesellschaft inkompatibel ist. Wäre er unter Zwang durchgesetzt worden, so wären mit Sicherheit neunzig Prozent der Menschen in dieser Zivilisation innerhalb weniger Jahre schlicht verhungert. Wenn Marx von der Zukunft sprach, ging es ihm nicht einfach nur um die Reproduktion irgendeiner idealisierten Stammesvergangenheit. Das Privateigentum an Produktionsmitteln sollte in der Tat abgeschafft werden. Doch die sich dann entwickelnde Gesellschaft sollte doch auf einem viel höheren Niveau funktionieren als ihre vorsintflutlichen Vorläufer.33

      Im Rückblick ist klar, dass sich alle, die sich in dieser Debatte zu Wort meldeten, getäuscht haben. Eine genauere Prüfung der Fakten hätte ergeben, dass es Horden von vollkommen freien Männern und Frauen mit gleicher Autorität, gleichem Status und gleichem Zugang zu sämtlichen Ressourcen einschließlich einvernehmlicher Sexualität nie gegeben hat und wahrscheinlich nie hätte geben können. Um Hobbes zu paraphrasieren, vollkommene Gleichheit kann wie ihr Pendant, die vollkommene Freiheit, nur existieren, wenn jeder Einzelne allein in der Wüste wohnt – und dort ist sie bedeutungslos. Sogar die einfachsten bekannten Gesellschaften beruhten in erheblichem Ausmaß auf Ungleichheit. Zwar gab es keine festen sozialen Klassen oder Institutionen, doch die unterschiedlichen Menschen steckten fest in häufig extrem komplexen Gefügen aus Rechten und Pflichten, geschuldeter und erwarteter Respektsbezeugung. Der geschuldete Respekt, die jeweiligen Rechte und Pflichten differenzierten nach Alter und Geschlecht. Dass es einige Individuen gab, die häufig wegen ihres Alters und/oder eines angenommenen Zugangs zum Göttlichen gegenüber den anderen privilegiert waren, war ein anerkanntes Faktum. Genauso wichtig war die Fähigkeit, etwa bei Überfällen und im Krieg die Führung übernehmen zu können.

      Selbst wo Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer Gruppe gering blieben, fühlten sich in jeder Gesellschaft die Mitglieder einer Gruppe denen anderer Gruppen stets überlegen. Diese gefühlte Ungleichheit war zwischen unterschiedlichen Gesellschaften sogar noch größer. Und dieses Überlegenheitsgefühl herrschte mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf beiden Seiten. Sowohl das Volk, als auch die Gruppen sprachen übereinander und behandelten einander dementsprechend.

      Natürlich gilt dasselbe auch für Häuptlingstümer. Der Übergang von den Hordengesellschaften zu voll entwickelten, hierarchisch organisierten Häuptlingstümern muss ein extrem komplexer Prozess gewesen sein. Gelegentlich ist er vielleicht auch rückwärts verlaufen, wenn Häuptlingstümer sich auflösten und auseinanderfielen, weil sie durch Krieg und Eroberung ihre Führung verloren. Die Schwierigkeit besteht nicht nur darin, dass es unzählige Zwischenstufen gibt, sondern dass obendrein jeder Anthropologe offenbar seine eigene Hierarchie aufstellen möchte, die mit den Theorien der Kollegen unvereinbar ist. Die einen sprechen von den Ältesten, die anderen von Big Men, andere von Priestern, wieder andere von Kriegsfürsten, noch andere von Häuptlingen. Andere erkennen segmentierte oder akephale (kopflose) Gesellschaften oder Sodalitäten oder Schichtengesellschaften. Andere konstatieren weiterhin ausgedehnte Familien und Erblinien und Clans und Stämme und Nationen; gar nicht zu reden von der Zentralisierung und ihrem Gegenteil, der Dezentralisierung.

      Ungleichheit kann entweder permanent sein oder periodisch (die Fachtermini dafür lauten simultane beziehungsweise sequentielle Hierarchie). Für letztere gibt das bereits erwähnte Buch der Richter ein gutes Beispiel. In einer Zeit, in der »kein König in Israel« war und »jeder tat, was ihn recht dünkte«, tauchte jedes Mal, wenn die Menschen von einem fremden Volk unterdrückt wurden, ein Richter auf.34 Er – einmal auch sie – beanspruchte für sich, ein Gesandter des Herrn zu sein, und wurde von den anderen als solcher akzeptiert; in der Folge sprach er ihnen Mut zu und führte sie aus ihren Sorgen heraus. Noch bis zu seinem Tod richtete er über sie, und danach kehrte wieder der Normalzustand ein. Einige Richter versuchten ihre Autorität an ihre Söhne weiterzureichen, doch in der Regel blieb das auf Dauer erfolglos.

      Die wichtigsten Faktoren für die Verschiebung hin zu Häuptlingstümern waren wahrscheinlich folgende: eine wachsende Bevölkerung, die zu mehr Kontakt zwischen den Menschen führte und irgendeine Form der Regierung notwendig machte; die Herausbildung einer materiellen Kultur, in vielen Fällen etwa die Erfindung der Metallnutzung, was zu Spezialisierung, Tauschhandel und der Anlage von Vorräten führte;35 und der Krieg. Der letztgenannte Faktor, Krieg, lässt sich selbst zum Teil als Folge, zum Teil als Ursache der beiden anderen verstehen. Alle drei Faktoren traten in unendlich verschiedenen Kombinationen auf. So konnte zum Beispiel eine Überbevölkerung zu Krieg, Eroberung und der Einrichtung einer neuen sozialen Hierarchie führen, in der die Sieger die Verlierer unterdrückten und ausnutzten. Dazu muss es überall auf der Welt oftmals gekommen sein. Als dagegen James Cook als Erster auf Hawaii landete, erkannte er in der Situation vor Ort genau das Gegenteil. Die Inseln schienen weniger Menschen zu beherbergen, als die zur Verfügung stehenden Ressourcen hätten ernähren können; und diesen Umstand führte er auf andauernde gegenseitige Vernichtungskriege zurück.36

      An der Spitze jedes Häuptlingstums stand ein oberster Anführer oder Häuptling – fast immer ein Mann, selten eine Frau. Seine Bedürfnisse, Forderungen und Befehle hatten Vorrang vor denen aller anderen. Umgeben war er von rangniedrigeren Anführern, von denen viele seine Verwandten waren, also Onkel, Brüder, Söhne und Neffen. Andere verbanden sich mit ihm durch Heirat mit seinen weiblichen Verwandten, wodurch sie ihre politischen Bündnisse mit ihm zementierten. Gemeinsam bildeten sie eine erheblich privilegierte Oberklasse, die vor allem auf Verwandtschaft beruhte. Der Häuptling hatte überproportional viele Frauen (häufig von sehr viel niedrigerem Status); das wiederum verschaffte ihm eine überproportional große Nachkommenschaft. Selbst in den wenigen offiziell monogamen Gesellschaften wie etwa im homerischen Griechenland bildeten die Anführer in der Regel große Harems aus versklavten Frauen.37 Die Polygynie war eine Ungleichheit in dem Sinn, dass einige so viele Frauen hatten, wie sie wollten oder sogar mehr, andere dagegen leer ausgingen. Viele Häuptlinge hatten auch Handlanger, also eine gewisse Anzahl von Männern, die von ihnen abhängig waren und direkt für sie oder unter ihnen arbeiteten; diese konnten sie unter anderem dafür nutzen, ihren Willen bei widerspenstigen Untergebenen auch unter Zwang durchzusetzen.

      Der Häuptling verfügte zudem über einen größeren Anteil an den jeweils als am wertvollsten geltenden Gütern, etwa Rinder, Tierhäute, Federn, Kaurischnecken, Edelmetalle oder Einrichtungen, in denen diese Güter sowie Nahrungsvorräte aufbewahrt wurden. Noch bedeutender war, dass sein Zugriff auf diese Güter nicht von der Zustimmung anderer abhing. In seinem Einflussbereich beschränkte ihn im Wesentlichen nur der Zwang, exzessiver Unzufriedenheit und möglichen Revolten vorzubeugen. Der Häuptling schmückte seinen Körper mit allen möglichen wertvollen Objekten, die der Allgemeinheit nicht zur Verfügung standen. Viele Häuptlingstümer hatten auch Aufwandgesetze, die solche Gegenstände ausschließlich dem Häuptling und seinen unmittelbaren Untergebenen vorbehielten.

      Die Wohngemächer des obersten Häuptlings waren viel besser als die aller anderen beschaffen und ausgestattet. Einige lebten in riesigen Festungen oder Palästen, die Tausenden Handlangern beiderlei


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