Gleichheit. Das falsche Versprechen. Martin van Creveld

Gleichheit. Das falsche Versprechen - Martin van Creveld


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einmal als Ideal, geschweige denn in der Realität. Wo immer sie sich auch nur andeutungsweise bemerkbar machte, galt sie als Gefahr, gar als lebensbedrohend für die Grundlagen der sozialen Ordnung. Jeder Versuch, sie zu verwirklichen, musste mit den brutalst möglichen Mitteln unterbunden werden, was auch nicht selten geschah; und dies sowohl in zentralisierten Systemen wie den imperialen Reichen in all ihren Spielarten, als auch in dezentralisierten Feudalsystemen. Man könnte sogar behaupten, dass ungeachtet aller Unterschiede zwischen diesen beiden Organisationsformen gerade die Ungleichheit die große Gemeinsamkeit darstellte.

      Wo immer und solange also diese Staatsformen existierten, konnte Gleichheit stets nur isoliert, vorübergehend und/oder als Ideal existieren. Besonders in Europa kam es durchaus zu einzelnen Erhebungen, Aufständen und Kriegen mit dem erklärten Ziel, eine Art von Gleichheit herzustellen oder zumindest die Ungleichheit zu mildern. Praktisch all diese Experimente wurden jedoch binnen Tagen, Wochen oder Monaten niedergeschlagen. Wie in George Orwells Farm der Tiere waren am Ende selbst die, die eine Zeitlang durchhielten, tendenziell zum Scheitern verurteilt. Häufig hatten die Anführer, einmal an die Macht gelangt, nichts Eiligeres zu tun, als sich auch zum Nachteil ihrer Anhänger erhebliche Privilegien zu sichern. Und selbst wenn das nicht der Fall war, sahen sie sich meist gezwungen, zur Repression zu greifen, also zu ungleich ausgeübter Gewalt, um die Gleichheit zu erhalten, die sie selbst eingerichtet hatten. Ein Zustand, der der Gleichheit nahekommt, ließ sich lediglich in den Klöstern finden – und das nicht nur in Europa –, oder aber in Utopien. Beides werden wir hier, wenn auch recht kurz, untersuchen.

      Die nicht geringe Ehre, als erster eine politische Ordnung entworfen zu haben, die sich auf die Annahme gründet, dass jeder gleich geboren ist und niemand über mehr Rechte verfügt als jeder andere, kommt Thomas Hobbes mit seinem Leviathan (1651) zu. Ausgehend davon breitete sich der Gedanke bei verschiedenen Denkern der Aufklärung aus, die innig hofften, sie könnten in ihren eigenen Staaten Gleichheit erreichen. Allerdings mit einem Unterschied: Hobbes’ Bürger waren gleich in dem Sinn, dass keiner von ihnen über irgendwelche Rechte verfügte; das erachtete er als wesentlichen Aspekt, um sein Hauptziel zu erreichen, nämlich den Erhalt von Gesetz und Ordnung. Für seine Nachfolger hingegen war die Gleichheit eine Vorbedingung für Freiheit und Gerechtigkeit. Sie wollten die Privilegien der Oberklassen aufheben, damit Angehörige der Mittelklasse wie sie selbst so schnell und so weit vorpreschen konnten wie möglich. Aus diesem Grund wird ihre Version der Gleichheit häufig als liberale Gleichheit bezeichnet. Allesamt hätten sie unterschrieben, was der bekannte Historiker Lord Acton im Cambridge des späten 19. Jahrhunderts sagte: »Macht [das heißt eine Situation, in der einige Menschen ungleiche Macht über andere ausüben] verdirbt, und absolute Macht verdirbt absolut.«4

      Manch einer könnte hier vielleicht einwenden, dieses Buch sei zu eurozentrisch angelegt. Es stimmt, dass gelegentlich auch in anderen Teilen der Welt Gleichheitsträume geträumt wurden; mit einigen davon werden wir uns auch kurz befassen. Doch noch einmal: Abgesehen von Klöstern und Aufständen war vor 1776 der einzige Ort, an dem diese je in reale Systeme umgesetzt wurde – und auch das nur in relativ kleinem Maßstab und nur für etwa dreihundert Jahre –, das antike Griechenland. Hobbes selbst war Europäer (auch wenn die Briten das weiterhin nur ungern eingestehen), ebenso die übrigen Propheten der liberalen Gleichheit. Obwohl der Kolonialismus sehr große Ungerechtigkeit schuf, ist es gerade ihm zu verdanken, dass sich diese liberale Gleichheit von Europa und dem europäisch besiedelten Nordamerika in weitere Weltteile ausbreiten konnte. Wie sagte einer meiner Lehrer gerne: Jahrhundertelang wussten die Menschen in den so genannten »Entwicklungsländern« nur nicht, dass auch sie gleich sind. Doch in den 1960er Jahren, und vor allem dank der Erfindung des kleinen Transistorradios, hatte die Botschaft auch sie erreicht – und sie schlug zurück.

      Ebenfalls diskutieren müssen wir den Gleichheitsbegriff verschiedener Schulen von Sozialisten und Kommunisten. Diese gepaarten Bewegungen, aufgekommen im 19. Jahrhundert, spielten im 20. eine ganz entscheidende Rolle. Während der Kommunismus praktisch verschwunden ist, ist der Einfluss einiger Formen des Sozialismus in vielen Ländern weiterhin zu spüren und könnte sogar im Aufstieg begriffen sein. Auch die Frage der Rasse können wir nicht unbeachtet lassen. Wie eine der ersten wichtigen Arbeiten zum Thema, Arthur de Gobineaus Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (1853-1855), schon im Titel zeigt, sollte der Rassismus insbesondere die Überlegenheit einiger Menschen über andere nachweisen. Dass dieser Versuch in wissenschaftlicher Hinsicht gescheitert ist, muss kaum erwähnt werden. Doch paradoxerweise hatte auch die Bewegung, die die Rassendoktrin übernahm und als theoretische Grundlage für einige der furchtbarsten Verbrechen der Geschichte nutzte, zum Thema Gleichheit einiges zu sagen. Wer diese Tatsache ignoriert, verkennt sowohl die Natur des Nationalsozialismus als auch einige der Gründe, weshalb er eine Zeitlang so erfolgreich war. Und zugleich übersähe man damit einige der bedeutendsten Entwicklungen in der Welt nach 1945.

      Ein eigenes Kapitel untersucht die Gleichheit der Frau sowie die von Minderheiten wie sexuell andersorientierten oder behinderten Menschen. Hier lässt sich nicht bestreiten, dass es einigen Fortschritt gegeben hat. Problematisch ist freilich, dass diese »Minderheiten« inzwischen zu einer Mehrheit angewachsen sind. Zunehmend begegnet die Gesellschaft der Minderheit, die in den entwickelten Ländern des Westens aus gesunden heterosexuellen weißen Männern besteht, mit Benachteiligungen. Und wie so oft in der Geschichte lässt sich Gleichheit für manche nur herstellen, indem alle anderen diskriminiert werden. Zu untersuchen ist auch, wie der Fortschritt von Wissenschaft und Technik die Gleichheit womöglich in Zukunft beeinflusst. Und schließlich braucht es ein Kapitel über die Gleichheit im Angesicht des größten aller Gleichmacher: nämlich des Todes und seiner Folgen.

      Der oben erwähnte Lord Acton musste sein Vorhaben, eine Geschichte der Freiheit zu schreiben, aufgeben, weil das Sujet, so ausführlich er es zu behandeln gedachte, ganz einfach zu umfangreich war. Auf die Gleichheit trifft das bestimmt nicht weniger zu. Alles zu lesen, was je zum Thema geschrieben wurde, übersteigt die Möglichkeiten eines Einzelnen bei weitem, wie fleißig und langlebig er auch wäre. Doch als ich erst auf den Gedanken gekommen war, wollte ich dieses Buch ganz einfach schreiben. Eigentlich fing es fast von selbst an, sich zu schreiben. So wie Thukydides in seiner Geschichte des Peloponnesischen Kriegs und die meisten Historiker vor Mitte des 19. Jahrhunderts einschließlich Lord Actons, hätte ich mich dafür entscheiden können, auf extensive Literaturangaben zu verzichten. Genauso gut hätte ich das Gegenteil tun können, was wahrscheinlich zu 25 Seiten Fußnoten zu jedem Satz geführt hätte. Am Ende habe ich mich für einen Kompromiss entschieden. Ich habe versucht, so viel zu lesen, wie ich für nötig hielt, um die Materie so gut zu verstehen, wie mein Vorhaben es verlangte, und meine Hauptquellen nach bewährter akademischer Manier zu nennen. Ich kann nur hoffen, dass mir das gelungen ist.

KAPITEL 1

      So ungern es manche Menschen anerkennen, aber in der Natur scheint Ungleichheit die Regel zu sein, nicht Gleichheit. Bleiben wir bei den Säugetieren, so sind zwei Hauptgruppen zu unterscheiden. Die einen leben in Rudeln von einigen Weibchen, ihren Jungtieren und einem oder mehreren Männchen; das ist zum Beispiel bei Löwen der Fall. Rudel leben getrennt voneinander und kommen untereinander nicht häufig in Kontakt. Innerhalb jedes Rudels dominieren die Männchen. Doch da Männchen in jedem Rudel sich gegen Außenstehende behaupten müssen, die ihnen ihren Platz streitig machen möchten, kommt es innerhalb des Rudels zu einer beträchtlichen Fluktuation. Im Ergebnis sind feste Hierarchien und Dominanzstrukturen bei ihnen nicht ausgebildet. Noch weniger bedeutsam ist Dominanz bei Tierarten, deren Männchen die meiste Zeit als Einzelgänger verbringen wie etwa Orang-Utans.1

      Viele andere Tierarten leben in Gruppen oder Herden mit mehreren Individuen beiden Geschlechts. Sie sind, um den Begriff des Aristoteles zu missbrauchen, »soziale Lebewesen«. Die Situation verhält sich hier ganz anders. Dominanz und ihr Gegenpart, die Unterwerfung, sind allgegenwärtig. Auf Ungleichheit beruht das Leben von Arten wie Meerkatzen, Wölfen, Rothirschen, Pavianen, Marmosetten, Makaken, Südlichen Grünmeerkatzen, Bisons und Ratten. Zu dieser Liste gehören sechs Tonnen schwere Elefanten genauso wie winzige Mäuse. Soweit die vom Menschen für sie geschaffenen Lebensbedingungen es zulassen, gehören auch Haustiere wie Rinder auf diese Liste. Zudem dominieren tendenziell horntragende Rinder über enthornte Angehörige derselben Art.2 Damit liefern sie einen


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