Gleichheit. Das falsche Versprechen. Martin van Creveld

Gleichheit. Das falsche Versprechen - Martin van Creveld


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zu verurteilen. Seine eigene Person dagegen galt als sakrosankt. Auch Haare, Nägel oder gar Vorhäute nahmen teil an dieser Heiligkeit, selbst nachdem sie vom Körper abgeschnitten, abgetrennt waren. Ebenso waren Ehefrauen und Verwandten beiderlei Geschlechts, ja sogar viele seiner belebten oder unbelebten Besitztümer unantastbar. Besonders bedeutend in dieser Hinsicht waren die Insignien wie etwa Diademe, Zepter, Federn, Armbänder und bestimmte Typen von Kleidung und Mobiliar. Sie wurden sorgfältig bewacht und üblicherweise zu bestimmten Festlichkeiten getragen oder ausgestellt.

      Die Häuptlinge verdankten ihre Position entweder ihrer eigenen – realen oder angeblichen – politisch-militärischen Leistung oder der Vererbung. In beiden Fällen fanden ihre Privilegien eine zusätzliche Stütze in der Religion. Häufig reichte ihre Abstammung zurück zum Stammesgott oder den Stammesgöttern. Entweder ihre Vorfahren oder sie selbst waren zu irdischen Vertretern der Gottheit(en) bestimmt worden. Im Alten Testament lautet der Begriff dafür »Erwählter Gottes«. Um die Rolle der Vererbung zu unterstreichen, werden etwa die Masken oder Mumien der Häuptlingsvorfahren oder irgendwelche symbolischen Gegenstände, die mit ihnen assoziiert werden, sorgsam verwahrt. Einige der mit der Anführerschaft verbundenen Objekte, zum Beispiel der berühmte Goldene Stuhl Asantes, waren angeblich direkt vom Himmel gefallen. Um die Verbindung zum Göttlichen noch weiter zu stärken, wurden die Hauptereignisse im Leben des Häuptlings, etwa Geburt und Tod, sowohl ausgiebig gefeiert, als auch mit Tabus belegt. So konnte etwa bei seiner Ernennung für die Untergebenen jeden Rangs ein Sexverbot gelten; bei seinem Tod konnte es verboten sein, metallene Gegenstände zu berühren oder bestimmte Trommeln zu schlagen und so weiter.

      Für die Feierlichkeiten rund um den Häuptlingskult und zugleich als Schutz vor Störungen waren Palast und Tempel in der Regel so gebaut, dass sie einen gemeinsamen Komplex bildeten, der von einer Palisade oder einer Mauer umringt war. Innerhalb des Komplexes waren Palast und Tempel durch einen »heiligen Pfad« verbunden, auf dem ritualisierte Prozessionen abgehalten wurden. Alles das verschaffte dem Häuptling eine Stellung, in der er selbst sein eigener Hohepriester war. In dieser Funktion war es zugleich sein Recht und seine Pflicht, bestimmte Riten und Zeremonien zu vollziehen, von denen angeblich das Wohlergehen der Gemeinschaft abhing. Wenn dagegen aus dem einen oder anderen Grund kein Häuptling vorhanden war und die Zeremonien unterbleiben mussten, konnten daraus Naturkatastrophen wie Heuschreckenplagen, Waldbrände und Dürren oder aber Überschwemmungen folgen. Die Heimskringla oder Sagen der nordischen Könige berichtet wiederholt, dass zu Zeiten dieses oder jenes frühmittelalterlichen Häuptlings die Zeremonien vollführt wurden und das Land fruchtbar war (oder eben nicht). Der Kontinuitätszwang war ein starker Anreiz, dafür zu sorgen, dass es nicht zu herrscherlosen Übergangszeiten kam. Um dies doppelt abzusichern, fielen die Daten, an denen die verschiedenen Zeremonien abgehalten wurden, tendenziell mit Ereignissen des Bauernjahres zusammen.38

      Unter der Aristokratie – von griechisch aristoi, »die Besten« – kam das gemeine Volk. Im archaischen Griechenland hießen diese Menschen Theten (thetes, »Lohnarbeiter«) und Kakoi (kakoi, »die Schlechten«). In Thessalien kannte man sie als Penesten (penestai), also »die Armen« oder »Dienstmänner«. Die Natchez in Oklahoma sprachen von »Stinkern«. Viele Häuptlingstümer hatten auch getrennte Populationen von Leibeigenen und/oder Sklaven, die in der Hierarchie ganz unten standen. Insgesamt konnte es also bis zu vier Klassen geben, etwa im angelsächsischen England oder im vorchristlichen Skandinavien; in Tahiti und Hawaii waren es sogar fünf. Um es noch komplizierter zu machen, unterschieden sich in einigen Häuptlingstümern – vor allem, wenn ihre Entstehung und Geschichte stark von Krieg und Eroberungen geprägt war – die Mitglieder der Oberklasse(n) auch ethnisch von denen der unteren Klassen. In diesem Fall achteten sie wahrscheinlich darauf, die Trennung beizubehalten, etwa durch Heiratsverbote sowie durch verschiedene Tätowierungen, Kleidung, persönlichen Schmuck und so weiter. »Tatsächliche« Ungleichheit wurde so noch künstlich hervorgehoben und verstärkt.

      Das alttestamentarische Buch Josua nennt ein gutes Beispiel für eine solche auf Ethnien gegründete Gesellschaft. Nach der Eroberung Palästinas im 15. Jahrhundert v. Chr. machten zunächst die Israeliten die Gibeoniter zu »Holzhauern und Wasserschöpfern«.39 Später dann, in der herrschaftslosen Zeit der Richter, wurden sie selbst wiederholt von fremden Invasoren unterworfen und versklavt. Und 1990 bis 1994 führte in Ruanda und Burundi der Kontrast von Tutsi und Hutu zu einem furchtbaren Bürgerkrieg und Völkermord; und das, obwohl beide Völker dieselbe Sprache sprechen und von außen praktisch nicht zu unterscheiden sind.

      Wichtig ist für uns zuvörderst, dass bei alledem nicht einmal ein Anspruch auf Gleichheit bestand. Während die Höhergestellten selbst ein endloses Postenkarussell vollführten, dessen Währung die Macht war, gerierten sie sich vom Häuptling abwärts als Herrscher und Ausbeuter. Angehörige des gemeinen Volks nahmen ihr Schicksal entweder hin oder wurden ausgemerzt. Häufig hatten sie zu ökonomischen Mitteln nur dann Zugang, wenn sie in irgendeiner Form Tribut an den Ranghöheren zahlten; entweder einen Pachtzins oder Zwangsarbeit oder die Pflicht, hochwertige Güter abzuliefern – womöglich sogar ihre Töchter. In diesem Brauch liegt der Ursprung der berühmten »Amazonen« von Dahomey (Benin). Sie waren keineswegs unabhängige Soldatinnen, sondern offiziell Konkubinen des Königs, die über eine jährliche Abgabepflicht rekrutiert wurden.40 Zwar ging er nicht unbedingt mit allen von ihnen ins Bett – dazu waren sie zu viele –, aber ein Recht darauf hatte er ganz sicher. Eine weitere Abhängigkeit von den Ranghöheren bestand für das gemeine Volk darin, dass es für seine Kommunikation mit den Gottheiten von ihnen abhängig war. Politische Rechte hingegen hatte es nicht.

      In der Ilias erleben wir, wie Odysseus den Thersites schlägt, einen Mann, der sich keiner edlen Abstammung oder militärischer Leistungen brüsten konnte – nur weil er es gewagt hat, vor der Versammlung das Wort zu ergreifen. Die Versammlung selbst pflichtet Odysseus lautstark bei, ganz ungeachtet dessen, dass in den Worten des Thersites, eines eloquenten, wenn auch außerordentlich hässlichen Mannes, viel Wahres lag.41 In Ermangelung jeglicher formaler Institutionen, die der Gesellschaft als Korsett hätten dienen können, war die Ungleichheit vor dem Gesetz (oder vielleicht besser vor dem Brauch) genau das, was die Gemeinschaft zusammenhielt. Ein geordnetes Leben wurde nur dadurch möglich, dass einige Vorrang vor anderen hatten und mehr Rechte besaßen. Über das gesamte sozio-politische Spektrum hinweg hatte jedes Individuum seinen eigenen Platz sowie seine klar definierten Rechte und Pflichten. Solange diese Rechte und Pflichten beachtet wurden, herrschten vielleicht nicht unbedingt Freiheit und Gerechtigkeit, aber jedenfalls Frieden.

      Natürlich funktionierte das alles in der Theorie besser als in der Praxis. Sowohl in den griechischen Epen als auch in der weiten Welt waren Gewalt und Konflikte bis hin zu Bürgerkriegen häufig und ihr Verlauf brutal. Beteiligt sein konnten daran Menschen ein und derselben Klasse oder auch Angehörige unterschiedlicher Klassen. Allein schon wegen der Polygamie des Häuptlings und seiner Angehörigen war dessen Verwandtschaft sehr umfangreich, so dass Streit und Kampf um den Thron eher die Regel als die Ausnahme waren. Besonders der Tod eines Häuptlings löste mit großer Wahrscheinlichkeit einen Konflikt aus, und Dynastien hielten sich selten länger als über zwei oder drei Generationen. Zeitweise fühlten sich die Angehörigen der unteren Klassen derart geknechtet, dass sie sich mehr oder weniger spontan – und mehr oder weniger erfolgreich – gegen die Obrigkeit erhoben. Auch benachbarte Häuptlingstümer gerieten in Konflikt miteinander; Streitpunkte waren Wasser, Ackerland, Weiden, jede Form von Besitz und Frauen. Sofern nicht eine Seite die andere ganz auslöschte, führte ein siegreicher Krieg üblicherweise zu noch größerer Ungleichheit als zuvor.

      Die Regel in der Tierwelt ist ganz eindeutig nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit. Bei in Verbänden lebenden Säugetieren und insbesondere bei Primaten hatten nie zwei Individuen exakt denselben Status. Falls es doch dazu kam, blieb es nicht lange dabei. Das Leben an sich, so erklären Zoologen, ist ein einziger langer Kampf, um so bald wie möglich die höchste Position zu erlangen, sie so lange wie möglich zu besetzen und sich die Privilegien in Ernährung und Sexualität zunutze zu machen, die damit einhergehen.42 Ausgetragen wird dieser Kampf mit allen Mitteln, häufig auch mit Gewalt. Abgesehen von der angenehmen Seite dieser Privilegien werden die Sieger durch Reproduktionserfolg belohnt.43 Was den Menschen angeht, zeigt sich, dass sowohl die Philosophen des 18. Jahrhunderts mit ihrer


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