Der Irrläufer. Gudmund Vindland

Der Irrläufer - Gudmund Vindland


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und ich werde mich immer daran erinnern, wie schwer es war zu glauben. Sehr lange spürte ich in mir einen nagenden Zweifel. Gibt es Gott wirklich? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Am Ende wurde der Zweifel in mir zur Besessenheit. Ich mußte eine Antwort haben. Ich wollte Gott auf die Probe stellen. Zu Ostern war ich mit anderen christlichen Jugendlichen auf einer Berghütte, und da geschah es. Wir machten eine lange Skiwanderung, und plötzlich war ich allein. Ohne es zu merken, war ich vor lauter Grübelei zurückgeblieben. Da fiel ich in meiner Verzweiflung auf die Knie und rief zum Herrn: Allmächtiger Gott, nimm diesen schrecklichen Zweifel von mir. Gib mir ein Zeichen deiner Existenz! Nur ein winzig kleines Zeichen! Und da geschah es. Ich hörte ein fernes Getöse und spürte, wie die Erde unter mir bebte. Ich sah auf, und da, ein Stück entfernt am Berghang, ging eine Lawine ab. Nur meinetwegen hatte Gott eine Schneelawine ausgelöst! Und dieser gewaltige und großartige Anblick erfüllte mich mit Glauben und Gottesfurcht. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete ich, es könnten Menschen darunter gewesen sein, aber sofort wußte ich die Antwort: Gott hätte das nicht zugelassen!

      Als die anderen mich endlich fanden, lag ich noch immer auf den Knien und betete. Sie hatten nichts gehört oder gesehen. Sie freuten und wunderten sich, als ich erzählte, was geschehen war: daß ich nun bekehrt sei und daß ich mein Leben dem Herrn weihen und Priester in seiner Kirche werden wolle.

      Euch Jugendlichen, die ihr heute abend hier versammelt seid, will ich sagen: Lernt aus meinem Erlebnis! Werft allen Zweifel über Bord und wendet euch dem Herrn zu. Ohne ihn geht alles verloren. Mit ihm gewinnt ihr alles ... das ewige Leben. Lasset uns beten!»

      Die Konfirmation ist ein ekelhaftes Ritual. Ich glaube, so fühlen die meisten, die diese demütigende Vorstellung mitmachen. Die sich stillschweigend dazu zwingen lassen, öffentlich zu lügen. Die Prüfung war eine glatte Farce. Die Jungen und Mädchen standen in alphabetischer Reihenfolge zu beiden Seiten des Mittelgangs. Mit jugendlicher Würde schritt der Pastor einher und stellte rein zufällig Ausgewählten leichte Fragen – immer denen, die die Antwort sicher wußten.

      Er war schon an mir vorbeigegangen, als er sich plötzlich umdrehte und mit einem glatten, demütigen Lächeln um den Mund fragte: «Kannst du, Yngve, uns bitte den ersten Teil des Glaubensbekenntnisses aufsagen?»

      «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!» antwortete ich, ohne zu zögern.

      «Nein, das stimmt nicht ... das ist nicht das Glaubensbekenntnis. Weißt du, was du aufgesagt hast, Yngve?»

      «Jesus sagt, das ist das wichtigste Gebot.»

      «Nein, das sagt er nicht. Er sagt, es ist genauso wichtig wie das wichtigste Gebot ... und wie lautet das?»

      «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!» Ich sah eine nervöse Röte auf seinen Wangen.

      «Vera!» kommandierte er mild.

      Sie konnte alles auswendig und verstand kein Wort, die Arme. Auch jetzt nicht: «Ich glaube angottdenvaterdenallmächtigendenschöpferdeshimmelsunddererde ... einatmen ... ich glaube anjesuschristusseineneingeborenen ... und so weiter ... Auferstehung dertotenunddasewigelebenamen!»

      «Ja, das war das Glaubensbekenntnis, Yngve. Kannst du das in Zukunft auseinanderhalten?»

      «Ist das Gebot der Nächstenliebe genauso wichtig wie das Glaubensbekenntnis?»

      «Ja, das ist es, genauso wichtig, ja!»

      In dem Moment war ich richtig zufrieden mit Luther. Hätte der Pastor einen katholischen Weihwasserwedel in der Hand gehabt, er hätte mich wohl auf der Stelle totgeschlagen! Statt dessen bekam er ein paar merkwürdig weiße Flecken zwischen all dem Roten.

      Jedenfalls wurden wir konfirmiert, und das war wirklich ein schöner Moment. Diesmal ging es nicht alphabetisch, und niemand konnte verhindern, daß Magnus und ich zusammen am Altar knieten. Wir hielten uns dicht nebeneinander und drückten uns mit den Ellbogen. Magnus hatte die Augen geschlossen – und er betete. Er versuchte trotz allem, seiner Konfirmation eine Bedeutung zu geben.

      Und das respektierte ich, denn im Grunde betete ich ja auch: «Lieber Gott, wenn es dich gibt. Ich danke dir für Magnus und dafür, daß wir zusammen sind. Danke für alles, was du für uns getan hast. Bitte, laß es so bleiben ... immer. Amen.»

      Der Pastor Christian stellte sich vor Magnus, legte ihm die Hand auf den Kopf und las einen Bibelvers vor. Magnus drückte fester gegen meinen Arm, und ich erwiderte seinen Druck. Der Pastor zögerte und sagte ein paar unpersönliche, wohlgesetzte Worte. Magnus hatte ja seine ganze fromme Familie in der Kirche.

      Für mich hatte der Pastor einen richtig düsteren Vers hervorgefischt, und schon lange, bevor er damit fertig war, versuchte ich gar nicht mehr, ihn zu verstehen. So ein gutgemeinter Rat auf dem Weg ins Leben! Ich konzentrierte mich auf den Körperkontakt mit meinem Liebsten. Der Pastor kratzte mich ein wenig auf der Kopfhaut, als er seine Hand wegnahm. Boshaft wie König Christian der Siebte!

      Unser Familienfest war eigentlich schön. Unter normalen Arbeitern macht man nicht soviel Gedöns. Niemand behauptete, ich wäre nun in die Reihen der Erwachsenen eingetreten, und darüber war ich froh. Die Verwandtschaft aß und trank und machte sich einen schönen Tag. Ich dachte viel an Magnus, der jetzt bei seiner Familie sitzen mußte, der Familie mit sauren Betmündern und strammen Haarknoten.

      Mein armer, schöner Junge!

      Ich bekam tausendvierhundert Kronen, und das war klasse. Dafür kaufte ich mir unter anderem meine erste Schreibmaschine.

      Unser Frühling

      Gleichzeitig brach der Frühling los. Der Schnee schmolz, die Birken schlugen aus – und auch wir sprangen auf wie die Knospen. Wir waren fast jeden Tag im Wald. Nahmen unsere Schulsachen mit und taten, als wollten wir Aufgaben machen. Die meisten machten wir übrigens auch – aber zuallererst waren wir zusammen, zusammen, zusammen.

      Wir waren zwei schmusige, heiße Kälber. Wir kletterten und sprangen und hüpften und liebten. Oft konnten wir stundenlang zusammen in einer Höhle aus Fichtenzweigen liegen, oder oben auf dem Stein, nackt in der Hitze der Sonne, und unser liebes Spiel spielen. Wir beobachteten neugierig, wie das Leben sich in der Natur rings um uns Bahn brach – und nicht zuletzt auch in uns selbst. An einem Sonntagmorgen sahen wir eine Schar Graugänse in Formation nach Norden fliegen. Als wir zusammenlagen, sagte Magnus: «Du bekommst ein paar schöne Haare am Arsch.»

      «Hast du schon lange», antwortete ich.

      Das heißt jetzt nicht, daß wir, rein sexuell, technisch besonders avanciert waren. Danach hatten wir noch kein Bedürfnis. Vorläufig war es für uns mehr als genug, daß wir uns nah waren, zusammen, nackt. Der Orgasmus kam ganz von selbst.

      In jeder Hinsicht wuchsen wir zusammen. Es gab keine verbotenen Themen mehr. Wir diskutierten über alles mögliche. Durch die ganze Pubertät hindurch waren wir gleich groß gewesen und näherten uns jetzt beide den eins achtzig. Magnus hatte ein bißchen breitere Schultern als ich, aber sonst waren wir ziemlich gleich. Nicht nur körperlich übrigens – und das ist wichtig: Wir waren gleichgestellt und gleichwertig. Und verliebt. Es war ein Jubelfrühling!

      Magnus schlug ein lockeres Trainingsprogramm vor, um unsere neue Muskulatur richtig zu entwickeln. Ich wies darauf hin, daß wir bei unserer Samenproduktion darauf achten mußten, genügend Proteine abzubekommen. Wir fraßen unheimliche Mengen Eier – und wurden geiler und geiler aufeinander. Seitdem habe ich nie mehr so intensiv gelebt. Magnus auch nicht. Das geht einfach nicht.

      Ich habe mich oft darüber gewundert, wieso in dieser Zeit niemand etwas gemerkt hat. Fast niemand jedenfalls. Wir gingen uns in der Schule nämlich nicht mehr aus dem Weg. Die Antwort ist sicher, daß unser Verhältnis uns so viel Lebensmut und Kraft gab, daß niemand auf die Idee kam, wir könnten etwas «Häßliches oder Falsches» tun. Wir erlebten das, was wir zusammen taten, als das genaue Gegenteil – als schön und richtig –, und deshalb hatten wir im Grunde nichts zu verbergen. Wir hatten keine Angst mehr, entdeckt zu werden, und darum wurden wir auch nicht entdeckt. Außerdem waren wir wegen unseres Theaterspielens ziemlich beliebt und konnten uns allerlei erlauben, ohne ernst genommen zu werden. Einmal trug Magnus mich quer über


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