Der Irrläufer. Gudmund Vindland
hatten und sich genauso gerne mochten. Aber ganz sicher werden wir das bestimmt nie erfahren. Wir können das ja nicht beweisen. Sicher ist jedenfalls, daß wir zusammen sind und daß das gut und richtig ist. Gott weiß das und segnet uns.»
«Komm», sagte Magnus, «wir gehen rauf und sehen uns den Sonnenaufgang an. Wenn Gott etwas gegen uns hat, kann er uns ja ein Zeichen geben.»
Und Gott gab uns ein eindeutiges Zeichen: Er ließ seine Sonne aufgehen und über Gerechte und Ungerechte scheinen. Das goldene Licht ließ die Welt erglühen, und wir standen mitten in der Welt und glühten mit. Wir entblößten uns vor Gottes Sonne und empfingen das lebensspendende Licht. Ich habe nie etwas so wunderbar Schönes gesehen wie Magnus an jenem Morgen. Und dann empfingen wir einander. Legten uns in das glühende Heidekraut und spielten sanfte Liebesmelodien – Gott ist die Liebe. Dort im Heidekraut bliesen Magnus und Yngve einander zum ersten Mal. Und auch das glühte. Gott lächelte gerührt auf uns herab – und mußte schlucken.
Ein paar Tage danach verlobten wir uns. Nicht mit Ringen – aber mit Halsketten. Ich wollte, daß wir einander ein Herz geben sollten, aber wegen seiner Familie durfte Magnus das nicht. Deshalb hängte ich meinem Jungen ein Kreuz um den Hals.
Er gab mir ein Herz aus Gold.
Magnus als Kreuzritter
Am ersten Clubabend nach den Ferien war unheimlich viel los. Sozusagen als ganz besonderen Aperitif hatte die Leitung ein junges Ehepaar aus Norwegens christlichem Jugendbund eingeladen, das der ganzen Sache zusätzlichen Glanz verleihen sollte. Nach ihrer Hochzeit im Frühling hatten sie den Sommer in Frankreich verbracht. Sie beglückten uns mit einer feierlichen Diaplauderei, in der mindestens sechzig Kathedralen und Kirchen vorkamen, aber kein Tropfen Rotwein und nicht auch nur ein Käsekrümel.
Als endlich unsere Theatergruppe an die Reihe kam, hatten Frode und ich längst erkannt, was hier not tat, damit ein bißchen Witz in die Sache kam: Der Schneider und das Pusterohr auf französische Art. Frode mit Baskenmütze, Schnurrbart und wahnsinnigem gallischen Temperament. Ich mit pomadigem, glattgelecktem Haar, französischer Aussprache und einer Menge Spitzen. Es kam natürlich ganz toll an. Schon kurz nach dem Anfang heulte das Publikum vor Begeisterung. Ich glaube, wir hatten es an diesem Abend so leicht wie richtige Schauspieler im Kabarett, obwohl wir nicht ein einziges Mal «Arsch» sagen durften. Aber das war eigentlich auch gar nicht nötig. Unser Sketch artete zu einer wilden Eierschlacht auf der Bühne aus, bevor es den Verantwortlichen gelang einzuschreiten. Riesenerfolg.
Ich sah, wie die junge Predikantenfrau nach Herzenslust lachte und applaudierte.
Danach sollte sie die Andacht halten – aber irgendwie war sie nicht so ganz bei der Sache. Sie versprach sich ein paarmal, und dann passierte etwas Unerwartetes; sie sollte Christus am Kreuz zitieren: «Da wandte Jesus sich dem Schächer zu und sprach: Wahrlich, ich sage dir, noch heute bist du mit mir in Paris!» Sie fuhr entsetzt zusammen und schlug die Hand vor den Mund, während der Saal in Gelächter ausbrach. Sie verlor die Nerven. Frode und ich waren gerade aus dem Hinterzimmer gekommen und standen in der Tür, zusammen mit dem Pastor Christian und ihrem Mann. Sie kam auf uns zugelaufen, das Gesicht in den Händen versteckt.
«Los, rein hier, schnell!» zischte der liebende Ehemann. Er schubste sie ins Hinterzimmer und knallte die Tür zu. Dann enterte er mit vier Sprüngen die Bühne und brüllte: «Ruhe da unten, ihr Brüllaffen! Hier gibt’s nichts zu lachen. Und eins merkt euch gefälligst: Nur der eine Schächer ... der nicht über Jesus gelacht hatte ... durfte mit ihm ins Paradies. Der andere Schächer, und alle, die gelacht hatten, endeten im heißesten Höllenfeuer!»
Natürlich wurde es sofort still im Saal. Auch im Hinterzimmer hörten wir keinen Laut mehr. Ich wollte nach ihr sehen, aber Christian der Schreckliche versperrte mir den Weg.
«Du bleibst hier!» stieß er zwischen den Zähnen hervor. Danach übernahm der Gatte die Wache. Der Schweinepriester mußte etwas kundtun: «Nun beginnen wir also ein neues Schuljahr und damit eine neue Saison in unserem Jugendclub. Das ist eine gute Gelegenheit, ein paar ernsthaftere Aktivitäten in Angriff zu nehmen. Wir wollen Bibelgruppen gründen, aber andere als die, die wir sonst kennen. Wir gründen einen Bibelgruppenring, und ich möchte ihn ‹Kreuzritterbruderschaft› taufen. Alle Kreuzritter bekommen eine Liste mit den Namen aller Mitglieder, die müssen sie immer und überall bei sich tragen. Wir legen ein Kreuzrittergelübde ab. Wir versprechen, jeden Tag für mindestens zehn andere Kreuzritter zu beten. Und eins sage ich euch: Alle, die mitmachen, werden die Macht des Gebetes kennenlernen!»
«Nein, Magnus! Das ist einfach zuviel! Bei der Konfirmation irgend etwas versprechen, ohne den Mund aufzumachen, na gut! Aber jeden Abend zehn Namen von einer Liste aufsagen, und das auch noch schwören? Und wofür sollen wir denn überhaupt beten? Daß alle gute Noten kriegen und keiner von einem Bus überfahren wird? Himmelarsch, wenn es irgendwo Heuchelei gibt, dann doch wohl hier! Niemals mach ich da mit.»
«Dann laß es bleiben! Du hast verdammtes Glück, daß du nein sagen kannst. Ich kann’s nicht. Ich muß da mitmachen, bei dieser ... Bruderschaft. Mein Vater zwingt mich bestimmt dazu, ich hab gar keine Wahl ...»
«Aber, er kann dich doch nicht zwingen, wenn du nicht willst. Weiger dich doch einfach!»
«Doch, er kann. Du weißt, wie’s bei uns zu Hause zugeht. Wahrscheinlich hat er uns schon angemeldet, alle sechs. Ach, Yngve, ich würde so gerne ...» Er fiel mir um den Hals und schluchzte heftig.
«Magnus, Magnus, ich liebe dich doch. Junge, was ist denn bloß los mit dir?»
«Ich habe solche Angst, Yngve. Ich hab Angst vor Vater, und vor allen anderen auch. Die sind nicht ... so wie wir. Sie wollen mich festbinden!»
«Magnus! Hör zu! Du darfst keine Angst haben. Du hast doch mich. Ganz und gar und für immer. Niemand kann uns etwas tun, solange wir zusammen sind. Ich komm auch mit zu den Kreuzrittern!»
«Nein, Yngve. Das brauchst du nicht. Ich schaff das schon ... wenn wir nur zusammenhalten. Du darfst mich nicht verlassen, Yngve!»
«Nie, Magnus. Nie!» Dieses Versprechen hielt ich. Lange.
Der Herbst wurde ganz schön hektisch. Zusätzlich zur Schule hatten wir beide eine Menge zu tun, und alles erforderte viel Zeit. Jeden Dienstag und jeden Donnerstag trafen sich die Kreuzritter bei Christian Priestermann, um ihre Gebete aufzusagen und ihre Moral zu stärken. Wir sahen uns in der Schule und im Jugendclub, aber nur an den Wochenenden hatten wir die Möglichkeit, miteinander zu schlafen. Das wurde dadurch nur noch schöner.
Ich war in der Zeit sehr aktiv. Lernte unheimlich fleißig und war dem Pensum weit voraus. In dem Herbst entdeckte ich auch die Literatur. Alles, was die Mühlen des Norwegischunterrichts vorher zu Müll gemahlen hatten, bekam plötzlich einen Sinn! Jawohl: Jens Björneboe mit seinem Jonas öffnete mir die Augen! Ich bekam das Buch von Harald zum Geburtstag und las es in einem Rutsch. Und damit war das Eis gebrochen: mehr von Björneboe, Agnar Mykle (zwei Bücher von ihm hatten seit Jahren bei uns im Regal gestanden, und ich hatte nichts davon gewußt!), Arnulf Överland und Sigurd Hoel. Jede Nacht las ich, bis das Buch mir aus der Hand fiel. Und ich merkte, wie ich von Buch zu Buch wuchs.
Aber ich konnte das nicht mit Magnus teilen. Natürlich sprach ich viel über meine Bücher und lieh ihm einige davon, aber ich glaube nicht, daß er auch nur ein einziges aufgeschlagen hat. Wenn ich so richtig davon loslegen wollte, brachte er mich mit Küssen zum Verstummen. Auch von sich selber mochte er nicht mehr sprechen. Und wenn ich nach der Bruderschaft fragte und wie er damit fertig werde, antwortete er ausweichend, daß «es so gehe».
Jetzt im nachhinein sehe ich, daß sich alles, was später kommen sollte, damals schon abzeichnete. Einzelheiten, die mir im Moment nicht wichtig vorkamen: ab und zu ein weher, hoffnungsloser Blick. Seine ungeheure Heftigkeit, wenn wir miteinander schliefen. Seine Art, sich nachher an mich zu klammern, ohne daß ich sein Gesicht sehen durfte. Alles war da. Er wußte schon, daß sich unsere Beziehung ihrem Ende näherte. Ich merkte das nicht. Ich war gerade fünfzehn geworden.
Beim ersten Clubabend im Advent gab Magnus mir einen Zettel, auf dem stand:
Yngve.
Mein