Der Irrläufer. Gudmund Vindland
im Gemeindehaus. Außerdem muß ich für das Weihnachtsexamen sehr viel wiederholen, deshalb kann ich dich eine Weile nicht treffen. Hoffentlich geht’s dir gut. Gruß, Magnus
In meinem Kopf ging der Alarm los. Im ganzen Körper. Wieso schrieb er mir einen Brief, anstatt es mir selbst zu sagen? Es war doch so wichtig! Als ich ihn fragen wollte, war er fort. Am nächsten Tag war Samstag und keine Schule, und ich bekam ihn vor Montag nicht zu sehen. Samstag abend ging ich zu ihm nach Hause, aber seine Schwester sagte mir, er sei nicht da. Alarm! Ich machte allein eine Wanderung. Das half nichts. Als ich dann endlich in der großen Pause mit ihm allein war, bekam ich wirklich Angst. Er sagte, sein Klassenlehrer und sein Vater hätten ihm beide streng befohlen, sich einstweilen nur um die Schule zu kümmern.
«Das ist es nicht! Ich seh’s dir doch an, Magnus, du kannst mich nicht belügen, das weißt du!»
«Yngve! Frag mich nicht mehr. Bitte. Quäl mich nicht! Es ist schon schlimm genug, ohne daß du mir auch noch Vorwürfe machst!»
«Ja, aber, was ist mit mir? Du kannst doch nicht einfach so verschwinden ...»
«Gib mir Zeit! Zeit zum Überlegen. Ich möchte nicht darüber reden, bevor ich ... darüber reden kann.»
«Also, hör mal ...»
«Nein, hör du! Wenn du mich noch magst, dann tust du, was ich sage. Wenn nicht, machst du alles kaputt. Jetzt muß ich weg. Und laß mich in Ruhe!»
«Ja, aber wann können wir denn miteinander reden?»
«Ich seh dich zu Silvester im Jugendclub», sprach mein Liebster und verschwand. Magnus, der Angsthase.
Meine schlimmste Erinnerung an dieses Weihnachtsfest ist, daß ich Kindheit eines Chefs von Sartre las. Es war ein grausames Erlebnis. Er schildert darin einen Jungen, der von einem älteren homosexuellen Mann verführt wird. Es ist eine realistische und ziemlich brutale Erzählung. Und ratet mal, wen ich dabei vor mir sah! Meinen Magnus und Christian Priestermann. Außerdem erlebte ich zum ersten Mal Homosexualität in der Literatur, das waren ganz schön drastische Sachen. Unerträglich aufgeilend! Ich las und wichste abwechselnd, und zwischendurch ging ich vor Verzweiflung und Eifersucht die Wände hoch. O selige Weihnachtszeit!
Gott, wie ich mich nach Magnus sehnte. Ein paarmal erwischte ich mich auf dem Weg zu ihm, fest entschlossen, irgendwie zu ihm zu kommen. Aber immer, wenn ich das große Haus sah, verließ mich der Mut. Ich lief stundenlang draußen herum – und kotzte fast das ganze schöne Weihnachtsessen wieder aus.
Im Grunde traute ich mich vor allem deshalb nicht, ihn aufzusuchen, weil er selbst gesagt hatte, ich solle ihn in Ruhe lassen. Aber, meinte er das denn wirklich? Wollte er das, oder hatte ihm das jemand eingeredet? Im tiefsten Herzen wußte ich ja die Antwort, aber ich dachte, ich würde alles nur noch schlimmer machen, wenn ich mich aufdrängte.
Der Silvesterabend war der reine Alptraum. Es sollte ein festlicher Abend im Jugendclub werden, und natürlich sollte ich mir all das Festliche aus den Fingern saugen. Aber ich ging doch überhaupt nur wegen Magnus, wegen meiner Erwartung und meiner Hoffnungen auf ihn dorthin. Der ganze Club mit seinen ewigen Verantwortlichen kotzte mich restlos an.
Magnus sah krank aus. Blaß und angespannt und blaue Ringe um die Augen. Wie ich befürchtet hatte, wich er mir und meinen Blicken aus.
Als Frode und ich an die Reihe kamen, hatte ich das Gefühl, wahnsinnig zu werden, und wir gaben die hysterischste Darstellung aller Zeiten von Der Schneider und das Pusterohr zum besten. Mit Kleidern und Hüten, Konfetti und Luftschlangen. Ich hatte heimlich die Rotfuchsboa meiner Mutter «ausgeliehen». Die ging während einer Balgerei auf der Bühne in Stücke, daß die Pelzflocken nur so flogen. Ich bombardierte Frode mit Knallfröschen. Als er auch ein paar Feuerwerkskörper hervorzog, griffen die Verantwortlichen ein. Der Sketch war zu Ende. Um elf sollte es einen Fackelzug zur Kirche geben, danach den Mitternachtsgottesdienst. Ich stand vor der Tür und wartete auf Magnus. Die anderen hatten sich schon in Reih und Glied aufgestellt. Endlich kam er – und mit ihm Christian, natürlich. Der Pastor warf einen Blick auf mich, und aus irgendeinem Grund verkannte er die Situation – zum letzten Mal: «Okay, ihr macht die Nachhut, Magnus. Ich geh nach vorne!»
Damit war der Fackelzug für uns beendet. Als er sich in Bewegung setzte, brach ich in hilfloses Schluchzen aus. Ich sah Magnus’ gequältes Gesicht. Dann zog er mich in den Schatten hinter der Hausecke. Ich weiß nicht, wie lange wir dort standen und wieder zusammen waren, schließlich gingen wir nach Hause. Wir waren beide völlig außer uns. Verängstigt und zitternd – nach so langer Zeit würden wir endlich wieder alleine sein. Wir warfen unsere Mäntel in den Flur und stürzten in das nächstbeste Zimmer, das Schlafzimmer meiner Eltern. Wir ließen die Kleider fallen – doch plötzlich sprang Magnus (noch in der Unterhose!) ins Bett und sagte mit brechender Stimme: «Mach das Licht aus, Yngve!»
Und ich sah ihn und fiel über ihm ins Bett und weinte und weinte ...
Erst nach langer Zeit wurden wir zusammen ruhig und warm. Aber trotzdem war es nicht wie früher. Magnus war ganz seltsam. Er veränderte sich dauernd: Erst war er weich und nah, dann krümmte er sich in Embryostellung und wimmerte, dann warf er sich über mich, wild und aggressiv. Wir redeten nicht. Immer, wenn ich etwas fragte, legte er mir seine Hand auf den Mund oder küßte mich. Und ich dachte, ich könnte bis nachher warten. Magnus kam zuerst. Quer durchs Zimmer und voll in die Gardinen meiner Mutter. Ich küßte ihn sanft im ganzen Gesicht. Er flüsterte: «Ach, Yngve. Zum ersten Mal seit damals. Ich hab aufgehört zu wichsen ...»
«Ach, Junge! Warum warst du denn nur die ganze Zeit weg? Frohes neues Jahr, übrigens!»
Er wurde steif unter mir. Ich sah in ein Gesicht, das sich vor Entsetzen verzerrte. «Nein!» jammerte er. «Herrgott! Wie spät ist es?»
«Nun beruhig dich doch. Mach nicht so ein Gesicht!»
Er riß sich von mir los und sprang aus dem Bett. «Es ist Viertel vor eins! Ich sollte doch in der Kirche das Eingangsgebet vorlesen!» Er zog sich in Windeseile an.
Ich sprang auch auf. «Jetzt hör doch auf, Magnus! Es ist sowieso schon zu spät, und außerdem können auch noch andere lesen. Beruhig dich doch! Wir stehen jetzt beide auf, und ich mach uns Tee. Und dann reden wir in Ruhe über alles. Wir haben uns doch so lange nicht ...»
Aber er war schon im Flur und sprang in seine Stiefel. «Ich muß los. Muß losrennen! Zu Hause sind sie sicher stinksauer auf mich. Ach, was soll ich denn bloß sagen?»
«Magnus, du darfst nicht! Du bleibst jetzt hier. Heute kommt hier keiner nach Hause, wir müssen doch reden. Du darfst jetzt nicht weglaufen!»
Er versuchte, sich den Mantel anzuziehen, aber da warf ich mich auf ihn und hielt ihn von hinten fest. «Du kommst hier nicht weg!»
«Laß mich los, Yngve! Laß mich los, dann sag ich dir auch, was los ist ...»
Seine Stimme war heiser und scharf. Ich drehte ihn herum, und er drückte mich auf einen Stuhl. Und dann kam’s: «Du bist schuld, daß ich meinen einzigen Neujahrsvorsatz gebrochen habe. Ich hatte Gott versprochen, dich nie mehr zu treffen. Weil es eine Sünde ist, Yngve! Was wir tun, ist eine Widerwärtigkeit vor Gott!»
«Nein, nein, nein! Hast du denn den Verstand verloren? Es ist keine Sünde! Weißt du nicht mehr, in der Mittsommernacht ...»
«Ja, genau, und weißt du was? Gott gab uns ein Zeichen! Aber wir haben es nicht verstanden! Konnten es nicht deuten. Wir sahen ein rotes Licht! Yngve, die Sonne war rot! Und das bedeutet stopp!»
«So was Bescheuertes hab ich noch nie gehört!»
«Na gut. Leb du nur weiter in Sünde und spotte Gott! Aber nicht mit mir. Nie mehr mit mir!»
«Magnus!»
«Laß, Yngve. Es nützt nichts. Es ist aus. Ich werde um Verzeihung bitten, bis Gott mich erhört ... und es beten ja noch viele andere für mich. Komm mit zu den Kreuzrittern, Yngve, dann kommst du auch drüber weg.»
«Magnus, sie haben dich kaputtgemacht! Sie lügen, sie lügen! Das stimmt doch alles nicht. Glaub das