Das Apfelsinenmädchen. Lena Kallenberg
was er meinte. Aber jetzt weiß sie es. „Apfelsinenmädchen“ ist eine andere Bezeichnung für „so eine“. Sie schaudert. Die Mädchen halten sich oft an der Stora Glasbruksgatan auf. Tragen breitrandige Hüte mit Krimskrams drauf und lachen den Männern frech ins Gesicht. Sind häufig betrunken. Nein, so eine will sie nie werden. Was für eine Schande, seinen Körper für einige Kronen oder ein paar Schnäpse zu verkaufen.
„Jetzt sind wir auf Värmdölandet“, sagt der Bauer gähnend und wird wieder munter.
Signe lässt ihre Blicke über die schneebedeckten Felder und Waldränder gleiten. Auf einem Hügel thront ein prächtiges gelbes Haus mit einer großen Glasveranda, umgeben von Pferdekoppeln und Äckern. Die Sonne ist hervorgekommen und lässt das gelb gestrichene Haus in ihrem Licht glänzen.
„Oh, was für ein schöner Hof“, ruft sie aus.
„Das ist Tuna. Auf ganz Värmdö gibt es keinen prächtigeren Hof. Von seinem Besitzer hab ich Fredriksberg gepachtet. Vor ihm müssen sich neue Mägde in Acht nehmen. Du verstehst doch, was ich meine?“
Macht der Bauer wieder Scherze mit ihr? Unsicher sieht sie ihn von der Seite an. Seine hellblauen Augen haben einen strengen Ausdruck angenommen.
„Der Gutsbesitzer von Tuna hält es mit den alten Sitten, wenn neue Frauen kommen. Ist schon in den Jahren, aber immer noch ein strammer Kerl.“
Signe starrt ihn an. Hat sie den Bauern richtig verstanden?
„Wenn nötig, nimmt er sie mit Gewalt“, fährt der fort. Sieht ihre Angst und fügt hinzu: „Nu, nu, mach dir keine Sorgen. Du wohnst ja nicht unterm selben Dach mit ihm, sondern eine Viertelmeile entfernt. Und ich verspreche dir, ich werde auf dich aufpassen.“
Der Weg macht eine starke Biegung und sie wirft einen letzten Blick auf das gelbe Haus. Eine Sonnenspiegelung in den großen Fenstern blendet sie, dann schließt sie der Wald ein. In der Dämmerung sieht sie den mächtigen Gutsbesitzer von Tuna vor sich. Er reitet einen dunklen wilden Hengst und vor ihm her läuft eine Gruppe fliehender Frauen. Sie selbst ist eine von ihnen. Die Frauen versuchen schneller zu laufen, aber ihre langen Röcke wickeln sich um ihre Beine und der Gutsbesitzer holt sie bald ein. Er schwingt sich vom Pferd und knallt mit der Peitsche gegen seine schwarzen Lederstiefel. Die Frauen stehen still, wagen sich nicht vom Fleck zu rühren. Der Gutsbesitzer nähert sich ihnen mit einem unheimlichen Lächeln. Leckt sich gierig die Lippen und wirft seinen Zylinder weg. Die Frauen schreien schrill und Signe schreit am lautesten von allen.
Der Schlitten schlingert. Signe atmet auf, sie darf ihrer Fantasie keinen freien Lauf lassen. Der Bauer hat versprochen auf sie aufzupassen. Mit breitem Rücken sitzt er neben ihr auf dem Kutschbock. Zeigt auf einen kleinen eisbedeckten See mit Schilfröhricht.
„Hier kannst du im Sommer baden, wenn du ordentlich sauber sein willst. Denn sauber soll ein junges Mädchen sein.“
„Ja, ich bade sehr gern“, antwortet sie rasch.
Sauber sein, das hat sie im Kinderheim gelernt. Ist mit Bürste und grüner Seife im Bottich geschrubbt worden, bis die Haut brannte.
Arm, aber sauber. Und: „Die Haut muss brennen, das vertreibt das Ungeziefer“, pflegte Fräulein Qvennerstedt zu sagen.
Und was Ungeziefer ist, Kopfläuse und Wanzen, das weiß Signe. Sie war voller roter Flecken, als man sie das erste Mal in den Waschzuber steckte. Aber damals kannte sie nichts anderes, so sahen die meisten Kinder von Vitabergen aus.
Der Bauer biegt in einen kleineren Weg ab. Sie nähern sich einem ungestrichenen Holzhaus. Ein struppiger Hund hat ihre Witterung aufgenommen, er bellt ungestüm und reißt an der Leine. Der Bauer brüllt ihn an und der Hund krümmt sich winselnd.
„Du brauchst keine Angst vor Ludde zu haben“, sagt er.
Sie hofft, dass Ludde immer angebunden ist und niemals ins Haus kommt. Findet, er sieht einem Wolf ähnlich. Aber sie wird sich verhalten, wie der Bauer es ihr empfohlen hat. Niemals Angst vorm Hund zeigen. Sie überqueren einen ausgetretenen Pfad, der in den Wald führt, und fahren auf den Hof, der von Wacholder- und Birkenhainen umgeben ist.
Die Haustür wird von einer alten Frau mit Kopftuch und einer riesigen Schürze geöffnet. Sie schlägt die Hände zusammen und kommt auf die Vortreppe gehumpelt.
„Oh, oh, oh“, jammert sie.
Signe spürt, wie ihr das Blut in die steif gefrorenen Wangen steigt. Weswegen jammert die Alte? Taugt sie, Signe, nicht? Ist die Alte etwa die Hausfrau?
Signe bleibt wie festgewachsen sitzen und wirft dem Bauern, der Grålle von den Schlittendeichseln losbindet, einen erschrockenen Blick zu. Er lacht so sehr, dass man die Schuppen vom Kautabak zwischen seinen Zähnen sieht.
„Kümmre dich nicht um die alte Kata. Sie ist nicht an Fremde gewöhnt.“ Rasch packt er sie um die Taille und hebt sie vom Schlitten. Seine Hände sind klebrig. Zwei kleine Mädchen spähen hinter der jammernden Kata hervor. Das Kleinste kann sich nicht beherrschen und stürmt in Strümpfen auf den Bauern zu.
„Vaters kleiner Wildfang!“, sagt er lachend und schwenkt sie durch die Luft. „Das ist Signe, die schöne Signe.“
Die „schöne Signe“ hat sie noch nie jemand genannt. Sie versucht zu lächeln, aber ihre Mundwinkel widerstreben und das Lächeln wird zu einer Grimasse. Die Kleine tippt gegen die Westentasche des Bauern. Signe versetzt es einen Stich, als sie das Kind so selbstverständlich auf dem Arm des Vatrs sieht. Sie – Signe – ist jetzt erwachsen. Hier, beim Kleinbauern Einar Karlsson, wird sie wohnen und arbeiten. Unterm selben Dach schlafen mit Menschen, die sie noch nie gesehen hat. Niemand weiß etwas über sie. Sie ist das Mädchen aus dem Kinderheim, das hier als Magd dienen soll.
Wie wird es auf Fredriksberg? Bei Fräulein Qvennerstedt hatte das Leben seinen gewohnten Ablauf. Dort hatte jeder seine Aufgabe. Alles spielte sich nach dem Datum ab, an dem sie ins Heim gekommen waren. Sie saßen nach der Datumordnung am Esstisch, sie stellten sich nach der Datumordnung in Reihen auf. Sein Datum konnte man nie vergessen. Nie konnte man vergessen, dass man ein Kinderheim-Kind war. Manchmal hatte sie sich eingesperrt gefühlt. Aber das Heim bedeutete Geborgenheit und die Sicherheit, Kleidung und Essen zu bekommen. Eine Lehrerin hatte sie im Katechismus, in Rechnèn, Schreiben und Nähen unterrichtet.
Jetzt beginnt ein neues Leben, und die Sehnsucht nach der gewohnten Geborgenheit brennt in ihrer Magengrube.
Signe drückt das Bündel an ihren Körper. Spürt die Hand des Bauern in ihrem Rücken. Wie eine Schlafwandlerin bewegt sie sich auf ihr neues Zuhause zu.
Schon am ersten Abend hat Signe ein Stück Speck von ihrem Abendbrot versteckt. Sie schleicht sich hinaus in den hellen Märzabend. Der Wind raschelt in Espen und Birken. Ludde knurrt, als er ihre Schritte hört, doch der Duft nach dem Speck bringt ihn zum Schweigen. Er ist an seiner Hütte festgebunden. Wittert mit gespitzten Ohren in der Luft.
Signe hat noch nie einen Hund gekannt. Die Bibelfrauen hielten sich nur ein Küchenschwein. Mit dem konnte man sich einfach nicht anfreunden, wie viele Kartoffelschalen und Reste es auch bekam. Es grunzte bösartig und konnte beißen. Signe hat begriffen, dass es am besten ist, sich von Anfang an gut mit Ludde zu stellen. Sonst wird sie immer Angst haben, wenn sie an ihm vorbei muss.
Sie hält das Stück Speck gut sichtbar in der Hand. Versucht sanft zu sprechen:
„Luuudde!“
Er frisst ihr aus der Hand. Leckt ihr die Fettreste von den Fingern. Schnuppert an ihren Kleidern. Dann darf sie ihn im Nacken kraulen. Und als sie sich aufrichtet, winselt er ein bisschen.
„Gute Nacht, Ludde, kleiner Ludde“, flüstert sie.
Bückt sich und bohrt ihre Nase in sein dichtes Fell. Sie spürt, dass sie ihren ersten Freund auf Fredriksberg gefunden hat.
Ihr wart doch Freundinnen
Das ältere Mädchen, Kristina, stiehlt Zucker aus dem Zuckerschrank und leugnet es hinterher ab. Das macht sie, damit Signe die Schuld bekommt.