Die Revoluzzer. Werner Ryser
an der schartigen Kante des Gefässes wund. Ein Schwall Hüsligülle schwappte über ihren Arm. «Kannst du nicht aufpassen, du ungeschickter Trampel?», schimpfte sie und gab dem Mädchen eine Ohrfeige.
Hanna stellte den Eimer ab und lief davon.
Barbara schaute ihr nach und wischte sich mit der Hand die Bescherung vom Arm. Sie war es gewohnt, beim Düngen mit Scheisse in Berührung zu kommen. Die Wunde, die nur wenig blutete, war kaum der Rede wert.
«Hast du dich verletzt?», wollte Mathis wissen, der die Szene beobachtet hatte.
«Was kümmert dich das?», fragte sie unfreundlich. «Sorg dafür, dass deine Tochter weiterarbeitet!»
Deine Tochter! Er runzelte die Stirn, schwieg aber und ging zum Stall, wo Hanna weinend hinter der Tür stand. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. «Sie hat es nicht so gemeint», sagte er tröstend.
«Natürlich hat sie es so gemeint», schniefte Hanna. «Nichts kann man ihr recht machen. Seit Monaten hat sie für keinen mehr ein gutes Wort.» Und dann, kaum hörbar: «Ich hasse sie.»
Mathis fuhr ihr ungeschickt durchs Haar, das sie zu einem dicken Zopf geflochten hatte. «Nun geh schon wieder an deine Arbeit, Kind. An einer Ohrfeige ist noch niemand gestorben.»
Am Abend mochte Barbara nichts essen. Obwohl das Haus die Wärme dieses schönen Frühlingstags gespeichert hatte, zitterte sie am ganzen Leib und fror erbärmlich. Sie legte sich ins Bett und schlotterte unter den Decken, die ihr Martha gebracht hatte.
Am Morgen des Karfreitags hatte sie hohes Fieber. «Es wird schon wieder werden», sagte sie, als Mathis wissen wollte, ob man Doktor Alioth holen solle. «Mach dir keine Sorgen. Ich brauche jetzt einfach etwas Ruhe. Ihr müsst ohne mich zur Kirche.»
Mathis sah seine Frau verwundert an. Ihre Stimme klang anders als in den letzten Monaten: schwach, ängstlich. Ihre Augen flehten um Hilfe. Er legte seine Hand auf ihre Stirn. Sie war mit kaltem Schweiss bedeckt.
Als er und die Kinder gegen Mittag vom Gottesdienst zurückkamen, lag sie blass und kraftlos im Bett. Ihre Brust hob und senkte sich in raschem Rhythmus. Ihr rechter Unterarm war dort, wo sie sich am Kesselrand geschnitten hatte, gerötet. Als Mathis mit dem Zeigefinger darüberfuhr, schrie sie leise auf. «Nicht!» Sie biss sich auf die Unterlippe. «Das tut weh.» Aber noch immer verweigerte sie starrsinnig den Arzt: «Ich brauche ihn nicht. Morgen werde ich wieder arbeiten. Heute müsst ihr ohne mich auskommen. Lasst mich jetzt in Ruhe.»
Die fünf Kinder, die ums Bett der Mutter standen, schauten sich ratlos an. Dann zuckte Paul mit den Schultern und verliess den Raum. Bis auf Samuel folgten ihm alle, auch Mathis. Der Jüngste kniete sich an den Bettrand und legte seinen Kopf auf die Decke. Die Mutter streichelte seinen Haarschopf. Sie hatte die Augen geschlossen. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln spielte um ihre Lippen. Nach einer Weile fiel sie in einen fiebrigen Schlummer. Ihre Hand blieb auf dem Kopf des Kindes. Es wagte nicht, sich zu rühren.
Im Lauf des Karsamstags sah Mathis zwischen der entzündeten Stelle und dem Oberarm der Kranken rote Striche auf der blassen Haut. Barbara schien verwirrt. Sie stammelte Worte, die für ihn keinen Sinn ergaben. Er befahl Hanna, nach Langenbruck zu gehen und den Arzt zu bitten, nach Sankt Wendelin zu kommen. Nach zwei Stunden kehrte das Mädchen zurück. Die Alioths seien über die Ostertage zu Verwandten nach Basel gefahren. Ihre Magd erwarte die Herrschaft nicht vor Dienstag zurück.
Der Zustand Barbaras verschlechterte sich zusehends. Ihr Atem ging keuchend. Sie hatte die Augen jetzt meist geschlossen. Mathis, der vergeblich versuchte, ihr etwas von der Brühe einzuflössen, die Martha zubereitet hatte, wusste nicht, ob sie wach war oder schlief.
Einmal, mitten in der Osternacht, umklammerte sie seinen Arm. «Ich höre den Tod hier drinnen trommeln», flüsterte sie und in ihrer Stimme war Panik. «Hier drinnen.» Sie klopfte sich auf die Brust. Dann sank sie zurück ins Kissen und murmelte unverständliche Worte. Ihm schien, sie sei für ihn nicht mehr erreichbar.
Am Ostersonntag war sie leichenblass, und wenn sie die Augen öffnete, so schienen sie tiefer zu liegen als sonst. Die Nase ragte spitz aus ihrem Gesicht.
Mathis, der jetzt wusste, dass sie sterben würde, wich nicht mehr von ihrem Bett. Er dachte daran, wie er um sie geworben und wie der Landvogt ihnen die Heiratserlaubnis verweigert hatte. Die vielen Jahre, die sie zusammen verbracht hatten, zogen an ihm vorbei, die Geburten der Kinder, die guten und die schlechten Tage. Er dachte an die vergangenen Monate, wie sie mit ihm gehadert hatte, und daran, dass es jetzt für eine Versöhnung zu spät war. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und verbarg sein Gesicht in den Händen. Weinte er? Seine Kinder, die eines ums andere die Kammer betreten hatten, sahen es mit Verwunderung.
Am Abend zündete Martha zwei Kerzen an. Samuel presste sich an Hanna, die ihre Hände auf seine schmalen Schultern legte. Der Atem der Sterbenden ging rasselnd. Kurz nach Mitternacht verschied Barbara Jacob.
11
Am Donnerstag, dem 31. März 1796 stand Dorothea Staehelin unter dem Seitenportal der Kirche von Oberdorf und schaute hinüber zum offenen Grab, in das Mathis Jacob und seine beiden älteren Söhne gemeinsam mit dem verwitweten Emil Strub den Sarg der Ehefrau, Mutter und Tochter an zwei Seilen vorsichtig in die Tiefe hatten gleiten lassen. Es lag nahe an der Mauer, die den Gottesacker umfriedete. Sie standen um die offene Grube: die Jacobs und der Vater der Toten, nur die nächsten Angehörigen, wie es der Brauch war. Alle waren schwarz gekleidet. Mathis hielt sich ein wenig abseits von den anderen. Eine grosse, einsame, barhäuptige Gestalt. Der Talwind bewegte sein dunkles Haar. Das Gesicht hatte er abgewandt, als wolle er sich den Worten, die Pfarrer Grynäus aus der Bibel las, verweigern.
Dorothea fragte sich, was in ihm vorgehen mochte. Als sie die Nachricht vom Tod Barbara Jacobs erhalten hatte, war sie, diesmal ohne Salome, nach Waldenburg gefahren. Am Vorabend war sie angekommen. Mit Mathis hatte sie nur wenige Worte gewechselt. Ob er trauerte? Er zeigte es nicht, liess niemanden an sich heran, auch nicht seine Kinder. Sie mussten selber schauen, wie sie mit dem Tod fertig wurden, der auf dem Hof Einzug gehalten hatte. Er schien keines Trostes zu bedürfen. Sie mochte sich täuschen. Seit ihrer gemeinsamen Jugendzeit wusste sie, dass Kummer für ihn stets etwas Unteilbares war, etwas das ihm allein gehörte.
Als sie und ihre Tochter sich in den Tagen über den Jahreswechsel auf Sankt Wendelin aufgehalten hatten, war die Bäuerin schlecht gelaunt gewesen. Sie war ihr ausgewichen, hatte, anders als sonst, kaum mit ihr geredet, und ein oder zwei Mal hatte sie Barbara dabei ertappt, wie sie ihr einen bösen Blick zuwarf, als sei sie, Dorothea, schuld an ihrer Verstimmung. Sie hatte verzichtet, die Frau darauf anzusprechen. Sie war sich zu schade gewesen, sich mit Barbara auf eine Auseinandersetzung einzulassen, und hatte deren Unhöflichkeit ignoriert.
Weshalb hatte sie ihr gezürnt? Hatte sie gewusst oder geahnt, dass sich seit jener Sommernacht auf der Waldweide etwas zwischen Mathis und ihr verändert hatte? Hatte sich überhaupt etwas verändert? War nicht einfach aufgebrochen, was schon immer da gewesen war?
Dorotheas Blick wanderte hinüber zum kleinen Samuel. Anders als die Geschwister, die mit versteinerten Gesichtern dastanden, weinte er. Er hielt sich eng an Hanna. Mehr als alle anderen würde er seine Mutter vermissen. Jedes Kind braucht eine Mutter, dachte Dorothea. Was sollte aus ihm werden? Als sie vor dem Trauergottesdienst Theophil Grynäus im Pfarrhaus von Waldenburg besuchte, hatte sie erfahren, dass Sebastian Hoffmann im Sommer nach Basel zurückkehren würde. Der Kandidat habe sich entschlossen, das Studium der Theologie aufzugeben und stattdessen eine Privatschule zu eröffnen. Ausserdem ziehe es ihn wohl in die Stadt, wo er seinen Beitrag zum revolutionären Umschwung leisten könne. Das Lachen des Pfarrers hatte eher unsicher als spöttisch getönt.
Was das für Samuel, der an Hoffmann hänge, bedeute, hatte Dorothea wissen wollen.
Theophil war zuversichtlich, dass sich eine Lösung finden werde. Er müsse einen neuen Lehrer für seine Kinder suchen, und wenn die Base weiterhin für den kleinen Jacob bezahle, spreche nichts dagegen, dass der Sohn ihres Pächters auch in Zukunft im Pfarrhaus unterrichtet werde.
Die Bestattung neigte