Die Revoluzzer. Werner Ryser
ob der junge Mann fähig sei, Samuel jenes Wissen zu vermitteln, das ihm den Zugang zu einer höheren Bildung öffne. In einem Postscriptum teilte sie Theophil schliesslich mit, sie lebe nicht mehr im Haus ihres Bruders. Sie bat darum, seine Korrespondenz künftig an ihre neue Adresse, dem Haus zem Crüz in der Basler Sankt-Johanns-Vorstadt zu schicken. Eine im vergangenen Winter verstorbene Tante habe ihr dort eine Liegenschaft vermacht, in die sie mit ihrer Tochter Salome eingezogen sei.
Der Pfarrer las den Brief mehrmals. Er fand es schön, dass seine Base bereit war, den Unterricht von Samuel zu finanzieren. Dass sie aber den Hauslehrer seiner Kinder examinieren wollte, ging etwas weit. Eigentlich sollte es ihr genügen, dass er für den Mann bürgte. Er seufzte. Sie war schon immer ein resolutes Frauenzimmer gewesen. Sie hatte stets gewusst, was sie wollte.
Auch Barbara Jacob hatte geahnt, dass es Madame Staehelin sein würde, die Sämi eine Ausbildung ermöglichte, wie sie sonst keinem Kind im ganzen Tal zuteilwurde. Ihr Bub würde der reichen Frau wohl ein Leben lang zu Dank verpflichtet sein. Dunkel ahnte die Mutter, dass sie ihren Jüngsten auch in Zukunft mit der Besitzerin von Sankt Wendelin würde teilen müssen.
8
Im Mai 1795 begann für Samuel ein neues Leben. Wie schon in den vergangenen zwei Jahren ging er täglich eine halbe Stunde zu Fuss hinunter nach Waldenburg. Mit einem Gefühl der Erleichterung liess er am ersten Tag die in den Sommermonaten geschlossene Gemeindeschule links liegen und klopfte ans Portal des Schönthaler Hofs. Die Pfarrmagd liess ihn ein.
Der Unterricht fand in einem eigens dafür bestimmten Raum statt. Der Kandidat Hoffmann verlangte von den drei Grynäus-Kindern (der Älteste war bei Verwandten in Basel untergebracht und besuchte bereits das Pädagogium), einen Aufsatz über die Anfangsworte des Gedichts Das Göttliche des deutschen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe zu schreiben. An der Wandtafel stand: «Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!» Und während die Federn von Johanna, Amalie und August Grynäus leise über das Papier kratzten, prüfte er Samuel, um sich einen Überblick über dessen Wissensstand zu verschaffen.
Sebastian Hoffmann war ein ernsthafter, hagerer Mensch mit dünnem, aus der Stirn gekämmtem Haar. Er war einundzwanzig Jahre alt und stammte aus einer nicht unvermögenden Basler Familie. Auf Wunsch des Vaters hatte er Theologie studiert. Nach fünf Semestern hatte er sein Studium aber unterbrochen und eine Stelle als Hauslehrer angenommen. Wohl aufgrund der Lektüre aufklärerischer Literatur zweifelte er an der Existenz eines Gottes, wie ihn sich die christliche Lehre vorstellte. Darüber sprach er freilich mit niemandem.
Seinem Stand entsprechend war er schwarz gekleidet. Selbst das sorgfältig geknüpfte Halstuch zwischen dem bis zu den Ohren reichenden Kragen seines Rocks war schwarz. Anders als sein Dienstherr, der altfränkische Kniebundhosen und Seidenstrümpfe trug, zog er lange enge Beinkleider vor, die der revolutionären Mode entsprachen. Er sei eben ein Sansculotte, pflegte er zu sagen, wenn man ihn darauf ansprach.
Als Hoffmann die Befragung Samuels abgeschlossen hatte, erklärte er ihm, dass er noch viel zu lernen habe, wenn er einmal, wie das der Pfarrer hoffe, ins Pädagogium eintreten wolle. Flüssiges Lesen und fehlerfreies Schreiben gehörten, ebenso wie die vier Grundoperationen des Rechnens, lediglich zur Basis einer gepflegten Bildung. Es werde nun darum gehen, ihn auch ins Bruchrechnen und in weitere Geheimnisse der Mathematik, insbesondere auch in die Geometrie einzuführen. Ob er überhaupt wisse, wer Pythagoras und wer Euklid gewesen seien? Und ohne eine Antwort abzuwarten, stellte der Kandidat fest, dass Geschichte, Geographie und mindestens die einfachsten Kenntnisse von Biologie, Physik und Chemie zum unverzichtbaren Bestandteil seines Unterrichts gehörten. Und natürlich die Sprachen. Zuallererst Französisch. Denn nur wer Französisch beherrsche, könne sich in der heutigen Zeit guten Gewissens als Mitglied einer Gesellschaft bezeichnen, welche die Vernunft und den Fortschritt auf ihre Fahne geschrieben habe. Dann natürlich Latein. Griechisch und Hebräisch würden auf dem Pädagogium folgen.
Bis dahin hatte Hoffmann ohne Punkt und Komma gesprochen. Ob er sich klar genug ausgedrückt habe, wollte er jetzt wissen. Streng blickte er durch seine Brillengläser auf den völlig verdatterten Samuel, der von diesem Vortrag kaum etwas begriffen hatte.
Um die schmalen Lippen des Hauslehrers spielte ein Lächeln. Nun, man werde sehen, meinte er versöhnlich.
In der Pause nahm der um ein Jahr ältere August Grynäus Samuel beiseite. «Du musst keine Angst haben vor Hoffmann», beruhigte er ihn. «Er spielt sich gerne auf, aber im Grunde ist er ein patenter Kerl.»
Tatsächlich erwies sich Sebastian Hoffmann als idealer Lehrer. Er forderte viel, blieb aber stets geduldig und verstand es, seine Schüler zu begeistern. Pfarrer Grynäus hatte dafür gesorgt, dass Samuel an den Schultagen Kleider trug, aus denen sein Sohn August herausgewachsen war. Es liege ihm daran, erklärte er dem Kandidaten, dass er den Schützling von Madame Staehelin, der aus einfachen Verhältnissen stamme, genau gleich behandle wie seine eigenen Kinder.
Der Hinweis wäre nicht nötig gewesen, meinte Hoffmann. Selbstverständlich beurteile er seine Schüler allein nach dem Mass ihres Fleisses und ihrer Leistungen. «Auch im Freistaat Basel», fuhr er fort, «wird man lernen müssen, dass gesellschaftliche Unterschiede nur im allgemeinen Nutzen begründet sein dürfen.»
Theophil Grynäus hüstelte. Es war nicht das erste Mal, dass ihm der Kandidat mit den Menschenrechten kam, die er durchaus kannte und im Prinzip für richtig hielt. Im Prinzip.
Ab und zu unternahm Sebastian Hoffmann mit seinen Schülern einen Ausflug in die Umgebung. Es liege ihm daran, erklärte er dem Pfarrer, der ihn nach dem Sinn seiner Exkursionen befragte, den Kindern eine Vorstellung vom Wirken der Natur zu vermitteln, davon, dass in dieser Welt alles mit allem zusammenhänge.
«Vom göttlichen Wirken», fühlte sich Theophil Grynäus bemüssigt zu bemerken.
«Selbstverständlich ist das Wirken der Natur ein Gesetz des Être suprême», bestätigte Hoffmann.
Der Pfarrer schwieg verstimmt. Bei aller Sympathie für die Aufklärung und den Fortschritt hielt er den «Kult des höchsten Wesens», den der im vergangenen Jahr hingerichtete Robespierre eingeführt hatte, für blasphemisch. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob der junge Mann, bei all seiner Gelehrtheit, den Seelen der ihm anvertrauten Kinder nicht Schaden zufüge.
An einem Juliabend des Jahres 1795 sassen die Leute von Sankt Wendelin am grossen Tisch in der niedrigen Stube beim Abendbrot, das Hanna zubereitet hatte. Alle, auch Madame Staehelin und Salome, waren todmüde, denn die beiden städtischen Frauenzimmer hatten es sich nicht nehmen lassen mitzuhelfen, als es darum ging, an diesem heissen Hochsommertag das Heu einzubringen. Ein paar Tage zuvor hatten Mathis und seine beiden älteren Söhne, zum zweiten Mal in diesem Jahr, das Gras geschnitten und gezettet. Seither war es mehrmals gewendet worden, damit es an der Luft trocknete. Bei Tagesanbruch hatte man es zu Schwaden zusammengerecht und auf den Wagen geladen, dem die beiden Pferde vorgespannt waren. Fuhre um Fuhre war es zur Scheune gebracht worden. Mit Rechen und Gabel waren Salome und Samuel daneben hergelaufen und hatten das Heu, das hinunterfiel, wieder auf den Wagen gepackt. Jetzt lag es auf dem Boden des Tenns. Für den dritten Schnitt, der, wenn das Wetter günstig war, im Frühherbst anstand, blieb nur noch wenig Raum. Mathis Jacob war zufrieden. Im kommenden Winter würde sein Vieh nicht unter Futtermangel leiden müssen.
Hanna brachte aus der Küche eine weitere Schüssel Kraut, auf dem ein grosses Stück Speck lag. Vor dem offenen Fenster blieb sie kurz stehen. «Schaut euch den schönen Sonnenuntergang an!», rief sie.
Die anderen hoben die Köpfe.
«Die Sonne geht nicht unter», behauptete Samuel. «Die Erde dreht sich von ihr weg.»
«Wer erzählt solchen Unsinn, Sämi?», wollte die Mutter wissen.
«Das ist kein Unsinn.» Der Junge war beleidigt. «Herr Hoffmann hat uns erklärt, dass die Erde eine Kugel ist, die in einem Jahr die Sonne umkreist und sich täglich um sich selbst dreht. Deshalb wird es bei uns Nacht, und jene, die auf der anderen Seite der Welt leben, haben Tag.»
«Und weshalb fallen wir nicht in