Die Revoluzzer. Werner Ryser

Die Revoluzzer - Werner Ryser


Скачать книгу
ist ohne Besinnung und blutet aus den Ohren und dem Mund und der Nase, soll ich Euch ausrichten», stammelte das Mädchen.

      Der Doktor nickte. «Sag dem Knecht, er soll das Pferd satteln», bat er seine Frau. «Ich werde inzwischen die Tasche mit den Medikamenten holen. Und dich nehme ich zu mir aufs Pferd», sagte er zu Hanna. «Unterwegs kannst du mir dann nochmals genau erzählen, was passiert ist.»

      Die nächsten Tage wurden für Hanna zu einem einzigen Albtraum. Sämi lag in einer verdunkelten Kammer in Madame Staehelins Wohnung. Der Doktor hatte einen Schädelbruch diagnostiziert und verschiedene Anordnungen getroffen. Er hatte Madame ein Fläschchen mit einer Opiumtinktur gegeben und sie angewiesen, Samuel alle paar Stunden davon fünf Tropfen einzuträufeln. Es gehe darum, ihn stillzulegen, er dürfe sich so wenig wie möglich bewegen. Nur sie dürfe zu ihm. Vielleicht noch ab und zu die Mutter, sonst aber niemand. Samuel brauche Ruhe, absolute Ruhe, ausserdem höchstens Dämmerlicht. Er dürfe auch keine feste Nahrung bekommen. Fleisch- und Gemüsebrühe, das schon, und vor allem Schafgarbentee, den man auch Blutstilltee nenne oder, wie das seine Mutter getan habe, «Heil der Welt». Man müsse ihn mit Honig süssen, denn er schmecke bitter. Aber die zarten, weissen Blüten, die man auf jeder Wiese finde, würden das Blut reinigen und den Kreislauf anregen, hatte er erklärt. Im Übrigen müsse man der Natur ihren Lauf lassen. Wie sich die Sache entwickle, liege in Gottes Hand. Samuel könne sterben oder genesen. Aber auch dann müsse man abwarten, ob keine Schädigung des Hirns zurückbleibe. «Aber davon sagt Ihr den Eltern besser nichts», hatte er Madame Staehelin geraten. «Falls das Schlimmste eintrifft, werden sie es noch früh genug erfahren.» Er selber werde regelmässig vorbeikommen, um nach dem Kleinen zu sehen.

      Die Eltern kam es hart an, ihren Jüngsten in der Obhut und Pflege von Madame Staehelin zu belassen, aber sie wagten nicht, gegen die Anweisungen des Doktors aufzubegehren. Beim Abendbrot schöpfte die Mutter schweigend den Haferbrei aus der Schüssel. Alle erhielten ihre Portion. Nur Samuels Teller, den Barbara aufgetischt hatte, blieb leer. Sie mochte sich einreden, solange man auch für den Jüngsten den Tisch decke, bleibe er am Leben. Für Hanna allerdings war dieser leere Teller ein stummer Vorwurf. Niemand sprach mit ihr. Niemand beachtete sie, als Tränen auf ihren Brei tropften. Sie würgte ihr Essen hinunter. In der Nacht weinte sie sich in den Schlaf. Sie biss ins Kissen, um Martha, die mit ihr die Kammer teilte, nicht aufzuwecken. «Hättest du nicht besser aufpassen können?», hatte die grosse Schwester gefragt.

      «Hättest du nicht besser aufpassen können?», wollten am nächsten Morgen die beiden Brüder, Peter und Paul, wissen.

      Der Vater sagte nichts. Er schaute sie nur an. Vorwurfsvoll? Hanna war überzeugt, dass er ihr die Schuld an Sämis Unfall gab. Sie täuschte sich. Mathis Jacob, dessen heimlicher Liebling sie war, ahnte, wie es in seiner Tochter aussah. Er hätte es aber weder ausdrücken können, noch hatte er je gelernt, dass man anderen mit einem guten Wort wenigstens einen Teil der Last, die jetzt seine eigene Tochter zu erdrücken drohte, von der Seele nehmen konnte.

      Auch die Mutter sprach nicht mit ihr. Sie behandelte sie wie Luft. «Sag ihr», wies sie Martha an, «sie soll hinaufgehen und ihre Arbeit machen.»

      Hanna schlich mit hängendem Kopf davon. Am Fuss der Treppe waren noch Blutflecken. Sie holte draussen am Brunnen einen Kessel Wasser und schrubbte den Boden, bis nichts mehr zu sehen war.

      Madame Staehelin stand oben und schaute ihr zu. Dann befahl sie ihr, die Nachttöpfe zu leeren und die Wohnung zu putzen. «Später gehst du mit Salome nach draussen und pflückst mit ihr einen Strauss Schafgarben. Ich brauche die Blüten für Samuel.» Ihre Stimme klang wie immer, gleichgültig, so, wie man eben mit einer Magd sprach.

      «Wie geht es ihm?», wagte Hanna zu fragen.

      «Er hat die Nacht überstanden. Geh jetzt an deine Arbeit.» Die Frau verschwand in der Kammer, in der Sämi lag.

      Hanna quälte sich mit Vorwürfen. Hätte sie den Kleinen doch nicht am Arm festgehalten, dann hätte er sich nicht losreissen müssen und wäre nicht die Treppe hinuntergestürzt. Wenn sie nach Waldenburg hinuntergeschickt wurde, um bei Pfarrer Grynäus die von Madame Staehelin gelesenen Bücher zurückzugeben und neue mitzunehmen, so drückte sie sich mit gesenktem Kopf den Häusern entlang durch die Strassen. Sie war überzeugt, gezeichnet zu sein, so wie Kain, der seinen Bruder Abel erschlagen hatte, von Gott gezeichnet worden war. Sie glaubte, jedermann könne erkennen, dass sie schuldig war.

      Nachts schreckten sie Träume aus dem Schlaf, der sie nur für kurze Zeit erlöste. Immer wieder überschlug sich Sämi vor ihren Augen auf der Treppe und blieb regungslos liegen. Manchmal schrie sie auf. «Sei still!», fauchte dann Martha, die schlafen wollte. Hanna mochte kaum mehr essen. Niemand kümmerte sich darum.

      Einmal, als er auf Krankenvisite kam, bemerkte der Doktor das Mädchen, das im Hof stand und ihn mit grossen Augen verzweifelt ansah. «Was ist denn mit dir, Hanna?», fragte er, erschreckt über ihr blasses Aussehen. «Du wirst doch nicht etwa auch krank sein?»

      Es war seit Tagen das erste Mal, dass jemand ein Wort an sie richtete, in dem eine gewisse Wärme lag. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.

      «Na, na», brummte der Arzt. Er legte den Arm um ihre schmalen Schultern, führte sie zur Bank vor dem Haus und liess sie neben sich ausweinen. «Willst du mir nicht sagen», fragte er endlich, «was dir so grossen Kummer macht?»

      «Ich bin schuld, wenn Sämi stirbt!», brach es aus ihr heraus, und schniefend erklärte sie dem Doktor, dass sie doch nicht gewollt habe, dass der Bruder die Treppe hinunterfalle. Sie habe doch versucht, ihn zurückzuhalten.

      Der Arzt, der ein einfühlsamer Mensch war und wusste, wie sehr sich eine Kinderseele quälen konnte, zog Hanna näher an sich und strich ihr über den Kopf. «Du bist nicht schuld.» Er betonte jedes einzelne Wort. «Du bist nicht schuld.»

      Er blieb noch eine Weile neben ihr sitzen. «Ich muss jetzt zu deinem kleinen Bruder», sagte er schliesslich. «Er wird den Schädelbruch überleben, aber ich weiss noch nicht, ob er sich völlig erholt.» Dann fasste er Hanna unter dem Kinn und zwang sie, ihn anzuschauen. «Aber denk immer daran: Du bist nicht schuld.» Er strich ihr nochmals über den Kopf und stand dann auf.

      Eine halbe Stunde später beobachtete Hanna, wie der Doktor unter der Haustüre mit den Eltern und Madame Staehelin sprach. Sie sahen immer wieder zu ihr hinüber. Als er ging, winkte er ihr zu.

      Von da an redete die Mutter wieder mit ihr. Sie tat, als sei nichts geschehen. Auch der Vater strich ihr jetzt wieder ab und zu über die Wangen, so verlegen wie vor dem Unglück, denn er hatte seine Gefühle nie zeigen können. Hanna lächelte verstohlen. Zum ersten Mal seit langem.

      Und dann, vier Wochen nach dem schrecklichen Unfall, kam jener Tag, an dem Madame Staehelin die Tür zu Samuels Kammer öffnete und Hanna zu sich rief. «Der kleine Mann scheint jetzt wieder hergestellt zu sein. Jedenfalls hat er mich erkannt und dann nach dir verlangt. ‹Wo ist Hanna›, hat er als Erstes gefragt. Er will dich sehen, nicht die Mutter, nicht den Vater, nur dich.»

      5

      Zu Silvester 1790 lag das Land am Oberen Hauenstein unter einer dicken Schneedecke. Auf den Waldweiden waren Spuren von Wildtieren zu erkennen, die sich nachts, getrieben von der Hoffnung auf etwas Essbares, in die Nähe des Hofs wagten. Die bizarren Felsformationen auf der Gerstelfluh trugen weisse Kappen. Auch auf den Ästen der Bäume lag Schnee.

      Tags zuvor war überraschend Dorothea Staehelin mit Salome eingetroffen. Die Kutsche ihres Bruders hatte in Waldenburg umkehren müssen. Die Passstrasse war vereist und nicht befahrbar. So waren sie, in Begleitung des Knechts von Pfarrer Grynäus, der ihr Gepäck trug, zu Fuss nach Sankt Wendelin hinaufgestiegen. Sie wolle das alte Jahr auf ihrem Hof ausklingen lassen und hier auch die ersten Tage des neuen verbringen, hatte sie gesagt.

      Mathis befahl Hanna, den Kachelofen in der oberen Wohnung einzuheizen. Einstweilen wärmten sich Mutter und Tochter in der Stube der Jacobs auf. Während Barbara Glühwein und Gebäck auftischte, kramte Madame Staehelin die üblichen Geschenke aus ihrer grossen Reisetasche: Tabak, Likör und Süssigkeiten. Für Samuel aber hatte


Скачать книгу