Die Revoluzzer. Werner Ryser

Die Revoluzzer - Werner Ryser


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betrieb er eine Schweinemast. Die Tiere fütterte er mit der Molke, die aus der Käseherstellung übrigblieb. Ausserdem besass er Schafe, ein Hühnervolk und zwei Pferde, die er gegen Entgelt seinem Schwiegervater, dem Fuhrunternehmer Emil Strub, auslieh, als zusätzlichen Vorspann für die schweren Deichselwagen, mit denen dieser Waren über den Oberen Hauenstein transportierte.

      Jedes Jahr legte Mathis auf seinem Weideland einen neuen Acker an, auf dem er Dinkel, Hafer und Roggen ansäte. Das alte Feld überliess er dem Graswuchs. Im Gemüsegarten vor dem Haus pflanzte Barbara Bohnen, Lattich, Kresse, Spinat, Kabis, Kohl und Zwiebeln. An den Obstbäumen im Bungert wuchsen Kirschen, Äpfel, Birnen und Zwetschgen. Und aus dem nahen Wald holte man Pilze, Beeren und Nüsse. In den Abendstunden arbeiteten Barbara und ihre Töchter an den beiden Webstühlen, die in der Spinnstube standen, und verdienten so ein Zubrot für die Familie.

      Im Frühsommer 1790 wurde die Wohnung im oberen Stockwerk von Barbara Jacob, Martha und Hanna gründlich gereinigt. Die Tücher, die das Mobiliar vor Staub geschützt hatten, wurden entfernt, denn Anfang Juni traf Madame Staehelin mit Salome auf Sankt Wendelin ein, zweispännig kutschiert von einem Bediensteten ihres Bruders Benedikt. Wie jedes Jahr standen die Jacobs – Vater, Mutter und die sechs Kinder – vor dem Haus und erwiesen der Besitzerin des Hofs, die in den nächsten Monaten mit ihnen unter demselben Dach leben würde, die Reverenz. Und wie jedes Jahr hatte diese Geschenke mitgebracht, dieselben wie immer: Tabak für Mathis, einen Likör für seine Frau Barbara und Süssigkeiten für die Kinder.

      Madame Staehelin trug, dem sommerlich warmen Wetter entsprechend, eine Robe à la Chemise, ein hemdartiges, knöchellanges Kleid aus federleichtem, weissem Musselin. Ihr Gurt, ein aufwendig gewobenes, mit farbigen Mustern durchsetztes Seidenband aus der Fabrikation ihres Bruders, das sie im Rücken zu einer grossen Schleife gebunden hatte, betonte ihre schlanke Taille. Ihr dunkles, gewelltes Haar war bedeckt von einer weichen, ebenfalls mit einem Seidenband geschmückten Haube mit breiter Krempe, die ihr Gesicht halb verdeckte. Die sechsjährige Salome war ähnlich gekleidet wie ihre Mutter. Die beiden folgten Mathis, der dem Kutscher half, die Bagage in den ersten Stock zu tragen.

      Samuel, der vor kurzem vier Jahre alt geworden war, schaute ihnen staunend nach. Sie sahen ganz anders aus als seine Mutter und seine Schwestern mit ihren dunklen Röcken und den mit Ärmeln versehenen Schnürmiedern, über denen sie Schürzen trugen. Obwohl man ihm gesagt hatte, dass Madame Staehelin und ihre Tochter schon im vergangenen Jahr hier gewesen waren, erinnerte er sich nicht mehr an sie.

      Am nächsten Tag hatten Madame Staehelin und Salome die Musselinkleider gegen ähnliche Trachten ausgetauscht, wie sie Barbara und ihre Töchter trugen.

      «Wir sind jetzt auf dem Land», bemerkte Dorothea, «und wollen uns nicht herausputzen.»

      Salome, die entdeckt hatte, dass Hanna und Samuel keine Hüte tragen mussten und barfuss gingen, quengelte so lange, bis auch sie die Haube ablegen und ihre Schnürstiefelchen und Strümpfe ausziehen durfte. Die kleine Mamsell nahm den um zwei Jahre jüngeren Samuel, der sich ihr bereitwillig unterordnete, unter ihre Fittiche.

      «Mir will scheinen», sagte Dorothea zu ihrem Pächter, der über den Hof schritt, «meine Tochter habe einen neuen Galan gefunden. Manchmal frage ich mich», fuhr sie fort, «ob Ihr Euch noch erinnert, dass wir als Kinder auch miteinander gespielt haben?» Sie sah ihm forschend ins Gesicht.

      Er strählte mit den Fingern durch den schwarzen Bart. Ihre Frage war ihm unangenehm. «Ich habe in der Käserei zu tun», brummte er.

      Sie sah ihm betroffen nach. Ob er ihr nicht verzieh, dass sie durch den Zufall ihrer Geburt zu jener Schicht gehörte, die Menschen wie ihn zum Stand der Leibeigenschaft verurteilte? Sie seufzte.

      Dorothea glaubte, selber von ständischem Denken frei zu sein. Sie bestand darauf, auf Sankt Wendelin dasselbe zu essen wie die Jacobs: Das dunkle, von Barbara gebackene Brot, dazu Käse, ferner Gemüse aus dem Pflanzgarten, manchmal auch Fleisch und zur Nachspeise Beeren. Nach dem Vorbild von Jean-Jacques Rousseaus Émile sollte Salome ein Stück jener Natürlichkeit erfahren, die Dorothea, im Vergleich zum Leben im Stadtpalais ihres Bruders, als die wahrhaftigere Form des Daseins erschien.

      Nicht ganz dazu passen wollte, dass ihr die inzwischen elfjährige Hanna auf Sankt Wendelin als Magd dienen musste. Das Mädchen hatte am Morgen als Erstes die Nachttöpfe von Madame und Salome zu leeren. Später war sie bei der Morgentoilette behilflich. Mit geschickten Händen flocht sie den dunkelbraunen Zopf, den Dorothea anschliessend à la Pompadour auf ihrem Scheitel feststeckte. Täglich fegte Hanna den Boden, denn man hielt im oberen Stockwerk auf Reinlichkeit. Ausserdem hatte sie Botengänge zu erledigen. Zu Dorotheas Vetter etwa, Pfarrer Theophil Grynäus, nach Waldenburg. Mit ihm tauschte Madame Bücher aus: Goethe, Schiller und Lessing, auch Diderot, Voltaire und eben – Rousseau. Letztere im Originaltext. Dorothea Staehelin sprach fliessend Französisch. Vetter und Base trafen sich regelmässig, um sich über ihre Lektüre zu unterhalten.

      Wenn sie nicht las, unternahm sie ausgedehnte Spaziergänge, manchmal zusammen mit ihrer Tochter und dem kleinen Samuel. Meistens aber streifte sie, ausgestattet mit einer Botanisiertrommel, allein durch die Wälder am Nordhang des Oberen Hauensteins. In ihnen wuchsen neben den belaubten Buchen, Eichen, Sommerlinden und Mehlbeerbäumen auch Fichten, Eiben, Föhren und Edeltannen. Wo die Sonne durchs Geäst brach, fand sie, je nach Bodenbeschaffenheit, den leuchtend roten Pyramiden-Hundswurz, das violette Knabenkraut, den Berg-Seidelbast und die Alpenhagrose. Sie pflückte einzelne Blumen, die sie zu Hause presste. Auf einem Herbarbogen, der ihre lateinische Bezeichnung und Angaben über den Fundort enthielt, wurden sie später in ihre Sammlung aufgenommen. Daneben malte sie mit Wasserfarben Pflanzen, die ihr besonders gefielen.

      Dorothea genoss die ländliche Idylle, während jenseits der Grenzen des Freistaats Basel ein Sturm aufzog. Wenn er sich ausbreitete, konnte er die Weltordnung auf den Kopf stellen. Als vor einem Jahr, im Juli 1789, die aufständische Bevölkerung von Paris die Bastille erstürmte, etwas später die französischen Standesprivilegien abgeschafft wurden und die Nationalversammlung eine Art Volksherrschaft erzwungen hatte, waren adelige Emigranten auf ihrer Flucht durch Basel gekommen. Man hatte sich wochenlang über die Sundgauer Bauern erregt, die Schlösser in Flammen aufgehen liessen und die Bezahlung von Zinsen und Zehnten verweigerten. Dorotheas Bruder Benedikt, der Besitzungen im Elsass hatte, hatte Verluste erlitten. Ob die Baselbieter Bauern auch zu solchen Aufständen fähig wären? Mathis Jacob? Sie wusste, dass er einen tiefen Groll gegen die Obrigkeit hegte. Aber sie wagte nicht, ihn zu fragen. Er selber äusserte sich nicht zu den Vorgängen in Frankreich.

      Jener Teil der städtischen Oberschicht, der sich in den Reformgesellschaften traf und das Gedankengut der Aufklärung diskutierte, war überzeugt, dass man handeln müsse. Der Ratsherr Abel Merian, der mit den neuen Ideen sympathisierte, hatte mit vor Pathos bebender Stimme gefordert, die Barbarey des Mittelalters zu beenden und die Leibeigenschaft der Untertanen draussen in der Landschaft aufzuheben. Das war vor bald neun Monaten gewesen. Aber noch immer hatte man im Grossen Rat nicht über den Antrag entschieden.

      3

      Sankt Peter, die einzige Kirche der Talschaft, lag flussabwärts, unterhalb von Oberdorf. Am Sonntag nach ihrer Ankunft begleitete Dorothea Staehelin Barbara Jacob und deren drei älteste Kinder in den Gottesdienst. Heute war Anwesenheit Pflicht, denn die Männer des Amtes Waldenburg hatten vor dem neuen Landvogt Hans Jakob Müller den Huldigungseid abzulegen. Mathis war allerdings nicht mitgekommen. Er habe sich nachts mehrmals übergeben müssen, berichtete seine Frau. Ausserdem quälten ihn heftige Kopfschmerzen. Auch Salome und Samuel waren, unter der Obhut von Hanna, zu Hause geblieben.

      Amüsiert beobachtete Dorothea, wie Müller, ein kleiner, gedrungener Mensch, hoch aufgerichtet auf dem für ihn reservierten Stuhl im Chor der Kirche sass. Er war Meister der Zunft zu Metzgern in Basel. Durch einen Losentscheid war ihm für acht Jahre die Herrschaft über das Amt Waldenburg in den Schoss gefallen. Er trug einen schwarzen Mantel, schwarze Kniehosen und schwarze, seidene Strümpfe. Den Ratsherrenhut hielt er auf den Knien. Das Kinn in die gefältelte spanische Halskrause gedrückt, betrachtete er misstrauisch seine Untertanen. Dorothea wusste, dass bei der Besetzung von einträglichen Stellen im Freistaat


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