Die Revoluzzer. Werner Ryser
finsteres Loch, in das man Mathis Jacob eingesperrt hatte. Aus einer schmalen Luke fiel nur wenig Licht in den engen Raum mit vier feuchten Mauern aus rohen Quadersteinen und einem gestampften Lehmboden. Seine Notdurft würde er in einer Ecke verrichten müssen. Er setzte sich auf eine aus ungehobelten Brettern gefügte Pritsche. Noch immer war er voller Zorn über die Willkür des Landvogts. Zu Hause wartete man auf ihn. Auch seine Braut würde gegen Abend von Waldenburg, wo sie lebte, nach Sankt Wendelin hinaufsteigen, um mit ihm noch dieses und jenes im Zusammenhang mit der Hochzeit zu besprechen, die nun gar nicht stattfand, jedenfalls nicht am nächsten Sonntag. Hoffentlich erzählte ihr der Schlossschreiber, der auch im Städtchen wohnte, was geschehen war.
Seiner misslichen Lage zum Trotz lächelte Mathis, als er sich vorstellte, wie Barbara zetern würde, wenn sie von seinem Missgeschick erfuhr. Sie war ein temperamentvolles Ding und würde ihn dafür verantwortlich machen, dass sie nun mit dickem Bauch vor den Altar treten musste und man sich im ganzen Tal das Maul über das hitzige junge Paar zerreissen würde, das nicht hatte warten können und es bereits vor der Hochzeitsnacht miteinander getrieben hatte.
Mathis hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Wasser und Brot, hatte der Landvogt gesagt. Ob er bereits heute etwas bekommen würde? Er glaubte es nicht. Der Hunger, die Dunkelheit, das Nichtstun – ihm standen wohl die fünf längsten Tage seines bisherigen Lebens bevor.
Während er so dasass, den Kopf in die Hände gestützt, fiel ihm ein, dass er nicht der erste Jacob war, den man ins Verlies geworfen hatte. Seine Vorfahren waren im letzten Jahrhundert im Emmental als Täufer verfolgt worden. Den Urgrossvater, Ueli Jacob, hatten die Gnädigen Herren von Bern seines Glaubens wegen zu einer Galeerenstrafe verurteilt. Auf einer Ruderbank angeschmiedet, war er elend zugrunde gegangen. Seine Frau Anna, die sich gegen die Obrigkeit aufgelehnt hatte, war im Schloss Trachselwald eingekerkert und dann aus ihrer Heimat verbannt worden. Mit ihren drei Jüngsten war sie auf den Sonnenberg im Fürstbistum Basel gezogen, wo man mit Erfolg eine Käserei geführt hatte. Ihr Enkel Johannes, der Vater von Mathis, hatte keinerlei Aussicht, den Betrieb übernehmen zu können, denn dieser wurde nach bernischer Tradition an den jüngsten Sohn vererbt. So wanderte er in den Baselbieter Jura aus. Am Oberen Hauenstein, auf halber Höhe zwischen dem Städtchen Waldenburg und Langenbruck, fanden er und seine Familie ein Auskommen als Pächter von Sankt Wendelin, einem Sennhof, der dem reichen Basler Seidenfabrikanten Remigius Preiswerk gehörte. Der Bändelherr hatte ihn vor zwei Jahren, als seine Tochter Dorothea den Obristen Staehelin heiratete, der jungen Frau als Mitgift überschrieben.
Mathis legte sich auf die harte Pritsche und starrte in die Dunkelheit. Was wohl die Leute auf Sankt Wendelin machten?
Zur selben Stunde sassen dort Elisabeth Preiswerk, eine geborene Debary, und ihre Tochter Dorothea vor dem Hof an ihren Staffeleien und bemühten sich, den rot flammenden Abendhimmel über den bewaldeten Hügeln im Westen auf die Leinwand zu bannen. Remigius Preiswerk stand hinter ihnen. Er unterbrach seine wenig kunstsinnigen Bemerkungen, mit denen er das Schaffen der beiden Frauenzimmer kommentierte, und starrte stirnrunzelnd auf seinen Pächter, der vergeblich versuchte, die hemmungslos weinende Braut seines Sohnes zu trösten. Sie war soeben auf Sankt Wendelin eingetroffen.
«Was hat denn die Dirne so zu heulen», knurrte Preiswerk schliesslich. «Geh, frag sie», befahl er Dorothea.
Die junge Frau gehorchte widerwillig. Es widerstrebte ihr, sich in die Angelegenheiten der Jacobs zu mischen.
Schluchzend erzählte Barbara Strub, sie habe vor einer Stunde vom Schlossschreiber Schäublin erfahren, dass der Landvogt ihren Mathis für fünf Tage ins Loch gesteckt habe und dass nun am Sonntag nichts aus der Hochzeit werden könne.
Der Seidenbandfabrikant, der zu ihnen getreten war, hörte zu. «Soso», bemerkte er spöttisch. «Und den Pfarrer Werthemann will er beim wohlweisen Herrn Bürgermeister verklagen.» Dann wandte er sich barsch an die weinende Barbara: «Hör auf zu flennen, das bringt jetzt auch nichts! Ich werde morgen ins Schloss reiten und die Sache regeln.»
Als Remigius Preiswerk am nächsten Tag von seinem Ausritt zurückkam, übergab er Dorothea den Eheschein. «Bring ihn zu Johannes und sag ihm, sein Sohn könne heiraten, sobald er seine Strafe abgesessen habe.» Er war gut gelaunt. Auf ihre Frage, wie er das Kunststück fertiggebracht habe, den Landvogt umzustimmen, erklärte er: «Ich habe dem Parvenü mit seinem wohlweisen Herrn Bürgermeister gedroht.»
Dorothea begriff. Für den reichen und angesehenen Fabrikanten und Handelsherrn, der als Dreizehnerrat dem wichtigsten Kollegium der Basler Obrigkeit angehörte, waren Zeitgenossen wie Brodbeck Nonvaleurs. Selbst wenn sie ein gewisses Vermögen besassen, stammten sie nur aus Handwerkerkreisen. Für solche Leute war das Amt eines Landvogts, das sie nur dank Losglück erhielten, bereits die höchste Stufe, die sie erreichen konnten. Brodbeck gehörte eben nicht zu jenen alteingesessenen Familien wie die Burckhardts, die Vischers, die Staehelins, die Preiswerks, die Iselins oder die Werthemanns, die über die Verhältnisse im Kanton Basel bestimmten. Als Mitglied des Kleinen Rats war der Vater letztlich Vorgesetzter des Landvogts. Ausserdem war er nicht nur mit dem Pfarrer von Waldenburg, sondern über seine Frau auch mit dem Bürgermeister Johannes Debary verwandt. Dass Brodbeck damit gedroht hatte, Werthemann beim Staatsoberhaupt zu verklagen, war für ihn unfassbar. Er hatte den Wichtigtuer auf den ihm gebührenden Platz verwiesen.
«Und wann kommt Mathis zurück?», wollte Dorothea wissen.
«Der wird seine Strafe abhocken müssen», knurrte Preiswerk. «Ich habe ihm übrigens noch fünf weitere Tage aufgebrummt. Es ist höchste Zeit, dass der Kerl lernt, was ein Herr und was ein Knecht ist.» Er wandte ihr den Rücken zu und stolzierte über den Hof. Am Sonntag würden er und seine Frau nach Basel fahren.
Dorothea sah ihrem Vater nach. Sie hasste ihn. Er war ein machtbesessener, auf seine Würde bedachter städtischer Patrizier, der das Glück seiner Mitmenschen bedenkenlos mit Füssen trat, wenn es um seine eigenen Interessen ging. Manchmal geschah dies gar aus einer blossen Laune heraus. Nicht nur Mathis, auch sie selbst war ein Opfer der väterlichen Willkür.
Mathis war zwei Jahre älter als sie. In ihrer Jugend waren sie unzertrennlich gewesen. Sie begleitete ihn auf die Weide und in den Wald. An seiner Seite half sie bei der Heuernte mit. Er brachte ihr das Melken bei. Einmal durfte sie dabei sein, als eine Kuh kalbte. Dorothe nannte er sie – bis zu jenem Tag vor vier Jahren, als ihr Vater zwischen seinen Geschäften in der Stadt wieder einmal für zwei oder drei Tage nach Sankt Wendelin kam. Preiswerk machte dem damals Achtzehnjährigen unmissverständlich klar, dass er als Sohn des Pächters seine Tochter als Jungfer Dorothea anzusprechen habe. Er hatte ihn unterm Kinn gefasst und gezwungen, ihm in die kalten Augen zu schauen. «Jungfer und Dorothea. Dorothea, nicht Dorothe. Sie ist schliesslich keine Bauerndirne. Hast du das verstanden?» Und als der junge Mann eingeschüchtert schwieg, lauter: «Hast du das verstanden?»
«Ja, Herr», presste Mathis zwischen den Zähnen hervor.
«Na also, es geht doch.» Remigius Preiswerk wandte sich an Mathis’ Vater, der schweigend danebenstand. «Wenn du auf dem Hof Pächter bleiben willst, Johann», knurrte er, «dann sorg dafür, dass die Ordnung der Dinge gewahrt bleibt.»
Später, beim Nachtessen, oben in der Wohnung, begehrte sie gegen den Alten auf. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen: «Ich bin nicht die Jungfer Dorothea!», schrie sie. «Nicht für Mathis.»
Er zog die Brauen zusammen. «Jungfer Dorothea und später Madame und der Name des Mannes, den ich für dich aussuchen werde.»
«Nein.» Sie ballte die Fäuste.
«Nein?» Remigius Preiswerk packte sie, legte sie übers Knie und verprügelte sie mit seinem Stock. «Wer bist du?», brüllte er, immer wieder. «Wer bist du?» Er liess erst von ihr ab, als sie ihm schluchzend bestätigte, sie sei die Jungfer Dorothea.
Am andern Tag, als sie sich vor dem Hof begegneten, schauten sich die beiden Jungen verstört an. «Grüss dich, Mathis», sagte sie schliesslich.
«Grüss Euch.» Er schaute sie kurz an und lief dann in Richtung Wald davon.
Damals war etwas in ihr zerbrochen. Zwei Jahre später wurde Dorothea, ohne dass man sie nach ihrer Meinung gefragt hätte,