Die Revoluzzer. Werner Ryser

Die Revoluzzer - Werner Ryser


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einer der vier Basler Kompanien in Frankreich gedient hatte, wurde er Oberst bei der Landmiliz. Die Ehe war nicht glücklich. Trotz Dorotheas Bitten und Drängen weigerte sich Staehelin, ein ausgesprochener Libertin, sein Verhältnis mit einer Dame von zweifelhaftem Ruf aufzugeben.

      Dass sie zur Heirat den Hof Sankt Wendelin als Brautgabe erhalten hatte, war für sie ein Trost. Staehelin war kurz nach der Hochzeit einmal dort gewesen. Aber das Landleben behagte ihm nicht. Dorothea hingegen verbrachte die Zeit zwischen Johanni und Michaelis meist auf dem Hof.

      Mathis schloss, vom ungewohnten Licht geblendet, die Augen. Die Tür zu seinem Kerker war endlich aufgeschlossen worden, und eine Laterne erleuchtete das Verlies. Gestern hätte seine Hochzeit stattfinden sollen. Jetzt würde man ihn laufenlassen.

      «Das stinkt ja wie in einem Schweinestall», sagte Brodbeck angewidert und trat einen Schritt zurück. Der Landvogt hatte sich persönlich zu ihm in die Unterwelt bemüht. Eine Wache begleitete ihn. «Ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt», knurrte er.

      «Ja, Gnädiger Herr», sagte Mathis, gewillt, den Zorn zu bezähmen, der ihm geholfen hatte, die vergangenen Tage zu überstehen.

      «Nun, der Ratsherr Preiswerk war der Meinung, die fünf Tage, zu denen ich dich verurteilt habe, seien für einen Flegel wie dich zu wenig, um ihn zur Besinnung zu bringen. Wir werden dich deshalb bis Ende Woche hierbehalten.» Brodbeck sah seinen Gefangenen lauernd an.

      Mathis biss sich auf die Unterlippe

      «Du hast nichts dazu zu sagen?»

      «Nein, Herr», sagte er gepresst.

      «Weiterhin Wasser und Brot!», befahl der Landvogt der Wache. «Und nun sperr die Türe wieder zu!»

      Wie betäubt liess sich Mathis auf die Pritsche fallen. Seit Remigius Preiswerk ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er keinerlei freundschaftlichen Verkehr zwischen ihm und Dorothea dulde, hatte er den Sohn seines Pächters mit Misstrauen beobachtet. Mathis wusste, dass der Tyrann an jenem Abend seine Tochter gezüchtigt hatte. Er war damals im Hof unter dem offenen Fenster gestanden, ohnmächtig, mit geballten Fäusten.

      Mathis hatte sich geschämt, dass er unfähig war, sie vor ihrem Vater zu schützen. Er war überzeugt, ihrer nicht wert zu sein. Seither hatte er sich von Dorothe – für ihn war sie Dorothe geblieben – ferngehalten. Und er hatte auch stets darauf geachtet, dem Alten nicht in die Quere zu kommen. Weshalb hatte Remigius Preiswerk trotzdem seine Kerkerhaft verlängert? Aus schierer Boshaftigkeit? Ging es ihm darum, seine Macht zu demonstrieren und ihn, den leibeigenen Untertanen, klein zu halten?

      Mathis spürte, wie sich zum Zorn der vergangenen Tage der Hass gesellte, ein kalter, abgrundtiefer Hass: auf den Landvogt, auf Remigius Preiswerk, auf die Gnädigen Herren von Basel. Und er fühlte, dass dieser Hass ihn künftig begleiten würde.

      Am 22. Juli blieb Dorothea Staehelin in ihrer Wohnung. Sie wusste, dass Mathis heute im Verlauf des Tages aus seiner Haft entlassen würde. Das niederträchtige Handeln ihres Vaters erfüllte sie mit Scham, und die Vorstellung, dass Mathis glauben könnte, sie sei damit einverstanden gewesen, quälte sie. Was sollte sie tun oder sagen, wenn sie ihm draussen vor dem Haus gegenüberstehen und er an ihr vorbeigehen würde, ohne sie zu beachten?

      Sie hatte sich mit einer Stickerei ans Fenster gesetzt, aber sie mochte nicht arbeiten. Sie dachte an das schwärmerische junge Mädchen, das sie einst gewesen war. Ihr Herz war weit geworden, wenn sie das Geläut der Herden und den morgendlichen Gesang der Vögel gehört hatte. So hatte sie es jedenfalls in einem Brief an ihre Freundin, Anna Sarasin, formuliert. Was sie ihr aber nicht geschrieben hatte: In Mathis Jacob, dem Sohn des Pächters, sah sie das lebende Vorbild für den allerliebsten Schäfer in seinem Rokokokostüm, das in der Manufaktur von Meissen hergestellt worden war und im elterlichen Haus zum Goldenen Falken am Nadelberg die Kredenz zierte.

      Vom Vorhang halb verborgen, schaute sie immer wieder aus dem Fenster. Endlich, um die Vesperzeit, sah sie, wie Mathis vom Wald her auf den Hof zuschritt: ein Soldat der Landmiliz, das Gewehr an einem Riemen über die Schulter gehängt. Ihr Herz klopfte wie wild, und sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Seine Uniform war verschmutzt, sein Gesicht ausgezehrt vom zehntägigen Fasten, sein schwarzes, struppiges Haar fiel ungekämmt über die Ohren, und seine unrasierten Wangen und das Kinn schimmerten bläulich. Das war nicht mehr der romantische Schäfer ihrer Jungmädchenträume, das war ein Krieger, der stattlichste Mann, dem Dorothea je begegnet war.

      Mathis schaute zum Fenster hoch. Ihre Blicke kreuzten sich. Zaghaft hob sie die rechte Hand. Huschte ein Lächeln über sein Gesicht? Sie glaubte, es gesehen zu haben. Sie wollte es gesehen haben.

      2

      Dorothea liebte das Land am Oberen Hauenstein mit seinen steilen Hügeln, den schroffen Kalksteinfelsen, dem lichten Mischwald und den Waldweiden. Sie liebte den weiten Blick nach Norden über die Hochebenen des Tafeljuras bis zum fernen Schwarzwald. Sie liebte Sankt Wendelin, ihren Hof, mit seinen aus hellem Jurakalk gefügten Bruchsteinmauern und dem mit Ziegeln bedeckten Satteldach. Es beschirmte den grossen Stall, das Tenn und die beiden Wohnungen, von denen sie jene im ersten Stockwerk für sich bestimmt hatte. Sie oben, die Jacobs unten. Besitzer und Pächter, städtische Herrschaft und ländliche Untertanen, oben und unten – wie es im Baselbiet Brauch war.

      Fünfzehn Jahre waren vergangen, seit Mathis aus seiner Haft entlassen worden war. Remigius Preiswerk, der reiche Handelsherr, und Johannes Jacob, sein Pächter auf Sankt Wendelin, hatten längst das Zeitliche gesegnet, und auch ihre Ehefrauen waren den beiden ins Grab gefolgt.

      Im Dezember 1775 hatte Barbara Jacob das von Mathis in vorehelicher Lust gezeugte Kind zur Welt gebracht. Auf Martha folgte ein Jahr später Peter, der erste Sohn. 1778 schrie der zweite, Paul, in seiner Wiege. Zwölf Monate darauf gab es noch einmal ein Mädchen, Hanna. Nach einer unfruchtbaren Zeit stillte Barbara die kleine Klara, der aber lediglich drei Wochen auf dieser Welt beschieden waren. 1786 schliesslich, sieben Jahre nach Hanna, kam Samuel zur Welt. Er blieb der Jüngste der Familie Jacob.

      Nach dem Tod seines Vaters wurde Mathis Pächter von Dorothea Staehelin. Auch sie war inzwischen Mutter geworden. Ihre 1784 geborene Tochter Salome wuchs vaterlos auf, denn Dorothea hatte im Jahr ihrer Geburt den Obristen Christoph Staehelin, der sie immer wieder mit losen Weibern betrogen hatte, wegen Ehebruchs vor Gericht zitiert.

      Die Familie des treulosen Gatten hatte mit allen Mitteln versucht, eine Scheidung, die als schimpflich galt, zu verhindern. Als Dorothea den alten Elias Staehelin auf dessen Landgut in Münchenstein aufsuchte, um über die bevorstehende Trennung zu sprechen, verjagte der Wüterich seine Schwiegertochter mit Steinwürfen und drohte, sie zu erschiessen, falls sie von ihren Plänen nicht Abstand nehme. Sie liess sich nicht einschüchtern, und nach langwierigen Verhandlungen gelang es ihr, mithilfe eines Anwalts, die Scheidung durchzusetzen und das Sorgerecht für Salome zu erstreiten. Zum Vormund des Mädchens bestellte der Kleine Rat ihren älteren Bruder, Benedikt Preiswerk, der die väterliche Seidenbandfabrik übernommen hatte und Mutter und Tochter im elterlichen Haus zum Goldenen Falken am Nadelberg in Basel aufnahm.

      Als geschiedene und alleinerziehende Frau erlitt Dorothea Staehelins gesellschaftliche Reputation Schaden. Ob sie darunter litt, liess sie sich nicht anmerken. Eines aber war unübersehbar: Die vordergründig stolze und kalte Frau blühte auf, wenn sie die Sommermonate, zusammen mit ihrer Tochter, fern der Stadt, auf Sankt Wendelin verbrachte.

      Ihr Verhältnis zu Mathis blieb allerdings seltsam distanziert. Zwar sprachen sie unbefangen über Dinge, die den Betrieb betrafen, über Neuanschaffungen etwa oder Viehzucht, manchmal auch über Allgemeines, aber was sie als Kinder und Jugendliche verbunden hatte, schien zerstört. Sie nannte ihn «Ihr» und «Mathis». Er selber blieb beim nackten «Ihr». Die «Madame Staehelin» wollte ihm so wenig über die Lippen wie seinerzeit die «Jungfer Dorothea». Gleichwohl entging ihr nicht, wie er sie in Augenblicken, in denen er sich unbeobachtet fühlte, betrachtete. Sie schalt sich ein närrisches Wesen, wenn sie merkte, wie unsinnig sie sich darüber freute.

      Sie liebte es, ihn bei der Arbeit zu beobachten. Mithilfe seiner beiden heranwachsenden Söhne Peter und Paul verarbeitete


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