Die Revoluzzer. Werner Ryser

Die Revoluzzer - Werner Ryser


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scharlachroten Auf- und Überschlägen. Dazu einen schwarzen Dreispitz, Gamaschen, ein weisses Bandelier sowie Flinte und Säbel aus Holz. Sie half Samuel, die Sachen anzuziehen. «Ist er nicht ein süsser Soldat, mein kleiner Goldschatz?», wandte sie sich an die Eltern. «Er wird gewiss einmal ein schmucker Offizier.»

      Mein kleiner Goldschatz. Mein! Barbara Jacob hob die Brauen. Dorothea bemerkte es nicht. Sie liess den kleinen Burschen in der Stube auf und ab marschieren. «Links – links – links!», kommandierte sie lachend. Salome klatschte in die Hände.

      «Das sollte jetzt reichen. Er wird das Exerzieren noch früh genug verfluchen», sagte schliesslich Mathis. «Und Offizier wird er auch nicht, höchstens Sergeant.» Er wusste, wovon er sprach. Es gehörte zu den Pflichten der leibeigenen Baselbieter, im Krieg ihre Haut für die Obrigkeit zu Markte zu tragen. Jeder Mann zwischen dem sechzehnten und sechzigsten Altersjahr hatte in einem der beiden Regimenter der Landmiliz Dienst zu leisten. An bestimmten Sonntagen wurden sie nach der Predigt auf dem Gemeindeanger gedrillt. Die Offizierslaufbahn war ausschliesslich Stadtbürgern vorbehalten.

      Mit Ausnahme von Salome und Samuel, die man in der Obhut von Hanna zurückliess, nahmen die Leute von Sankt Wendelin in der Silvesternacht den weiten Weg zur Kirche unter die Füsse.

      Pfarrer Grynäus legte seiner Predigt Vers acht aus dem siebten Kapitel des Matthäusevangeliums zugrunde: Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Er zitierte aus dem Bittbrief, den die Liestaler Bürgerschaft im Juli des vergangenen Jahres an die Basler Obrigkeit gesandt hatte, in dem sie den vor Monaten eingereichten und immer noch nicht behandelten Antrag des Ratsherrn Abel Merian unterstützten und unsere Gnädigen Herren demüthigst gebeten hatten, Hochdieselben möchten dero Unterthanen die Leibes Freÿheit und mit Verbundenes in Gnaden schenken.

      «Denn wer da bittet, der empfängt», wiederholte Theophil Grynäus den Predigttext, um dann mit bewegter Stimme zu erklären, der Rat der Stadt Basel habe vor vier Tagen, am 27. Dezember 1790, beschlossen, dass die Leibeigenschaft, mit welcher die Landleute der Stadt zugethan sind, aufgehoben und zernichtet sey und sie nebst ihren Nachkommen auf immer leibsfreye Unterthanen erklärt seyn.

      Grynäus hielt inne und liess den Blick über seine Gemeinde schweifen. Erwartete er Beifallskundgebungen? Auch der Landvogt musterte neugierig die Gesichter der Leute, in denen weder Freude noch Ablehnung erkennbar waren.

      Dorothea Staehelin war berührt. Ihr schien, die Obrigkeit habe mit der Abschaffung der Leibeigenschaft die Zeichen der Zeit erkannt und das wichtigste Postulat der Menschenrechte erfüllt. Sie suchte unter den Gläubigen, drüben auf der Männerseite, ihren Pächter, dem sie die neue Freiheit von Herzen gönnte. Aber Mathis Jacob hatte die Arme vor der Brust verschränkt und starrte finster zum Pfarrer hinauf. Und als dieser zögernd hinzufügte, dass alle bisherigen Verpflichtungen der Landleute gegenüber der Stadt auch in Zukunft zu erfüllen seien, lächelte er spöttisch.

      Als Mathis am Neujahrsmorgen 1791 mit zwei grossen Kesseln Milch aus dem Stall trat, wo er mithilfe von Peter und Paul seine drei Dutzend Kühe gemolken hatte, sah er, wie Sämi in seiner neuen Uniform mit geschultertem Holzgewehr hinter Salome über den Hof marschierte. Mathis schüttelte den Kopf und wandte sich dem Abgang zum Käsekeller zu, aber Dorothea Staehelin vertrat ihm den Weg.

      «Vielleicht wird er jetzt, wo die Baselbieter die Freiheit erlangt haben, doch einmal Offizier, was meint Ihr?»

      «Freiheit?!» Er lachte unfroh. Dann stellte er die beiden Kessel auf den Boden. Man wisse schon seit zwei Tagen vom Erlass des städtischen Rats. Ein Wort habe man gestrichen, ein einziges Wort, mehr nicht. Alles andere sei geblieben. Er zählte auf: «Die Bodenzinsen, den Zehnten, die Taxen für jeden Wisch, den der Landvogt schreibt, die Ehesteuer, die Waldgebühren, selbst das Fasnachtshuhn. Auch den Frondienst gibt es noch. Wenn es Strassen und Brücken zu reparieren gilt oder wenn etwas im Schloss in Ordnung gebracht werden muss, dann interessiert es die Obrigkeit einen Dreck, ob wir mitten in der Ernte sind oder nicht. Wir bleiben Untertanen. Wir haben zu schweigen und zu gehorchen. Auch die politischen Rechte will man uns nicht gewähren.»

      «Politische Rechte?» Dorothea war schockiert. Es war für sie unvorstellbar, dass ungebildete Bauern im Rat mitreden und mitbestimmen wollten.

      «Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens», zitierte Mathis Artikel sechs der Menschenrechte. «Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken. Glaubt Ihr, man habe das in Basel begriffen?», fragte er.

      Erneut stellte Dorothea fest, dass man die Menschenrechte auf der Landschaft wohl besser kannte, als manchem Ratsherrn lieb sein mochte. «Man kann nicht alles auf einmal haben», sagte sie. Und als ob sie spürte, dass das ein ungeschicktes Argument war, fügte sie hinzu: «Immerhin kann der Landvogt Eure Söhne, wenn sie sich einmal verehelichen wollen, nicht mehr so schikanieren, wie Euch Franz Brodbeck vor Eurer Heirat schikaniert hat.»

      Mathis’ Gesicht verfinsterte sich. Die Erinnerung an jenen demütigenden Vorfall im Schloss war eine offene Wunde, die nicht verheilen wollte. Er bückte sich und nahm seine beiden Milchkessel wieder in die Hände. «Freiheit», sagte er. Es klang, als ob er ein Lachen unterdrücke. Dann stieg er die Treppe zum Käsekeller hinunter.

      Sie sah ihm nach. Nicht zum ersten Mal zog sie den Vergleich zwischen diesem stattlichen, ernsthaften Mann, der sich über so vieles Gedanken machte, und ihrem ehemaligen Gatten, der als vermögender Schürzenjäger ein Lotterleben führte. Sie seufzte. Hatte Barbara Jacob, diese Landpomeranze, das bessere Los gezogen als sie, die reiche Fabrikantentochter?

      Am frühen Morgen des sechsten Januars wurde Dorothea von hellen Kinderstimmen geweckt, die ein Lied sangen:

      Die Heiligen Drei Könige mit ihrigem Stern,

      sie sueched den Heiland und hätten ihn gern.

      Sie ritten zusammen das Rainele us,

      sie kamen vor König Herodesse Hus.

      Sie stieg aus dem Bett und trat im Hemd ans Fenster ihrer Kammer. Mit ihren warmen Händen taute sie die Eisblumen auf, die sich in der Nacht am Glas gebildet hatten. Am Himmel leuchtete hell und klar der Morgenstern.

      Vier Kinder standen vor dem Haus. Ein etwa fünf oder sechs Jahre altes Mädchen hielt einen Stecken, an dem ein Stern aus Karton befestigt war. Hinter ihm standen ein etwas älterer Knabe und zwei halbwüchsige Mädchen, von denen eines eine Fackel trug. Die drei Grösseren hatten farbige Tücher um ihre Schultern gelegt und trugen gelb bemalte Kronen auf dem Kopf. Das Gesicht des Jungen war geschwärzt.

      «Warum singen die Kinder?» Auch Salome war erwacht und drängte sich jetzt an die Mutter.

      «Das sind die Heiligen Drei Könige», erklärte Dorothea. «Sie bitten um eine milde Gabe für arme Kinder oder für sich und ihre Familien. Aber sei jetzt still, hör lieber zu.»

       Herodes schaute zum Fenster hinaus:

       Ihr Herren Gesellen wo wöllet ihr hin?

      Nach Bethlehem führt uns unser Stern,

      wir wollen Maria und s Chindeli sehn.

      Drüben im Wohnzimmer rumorte Hanna, die den Ofen einheizte.

      «Komm herüber, Mädchen», rief Madame Staehelin. Als Hanna unter der Türe stand, fragte sie: «Wer sind die kleinen Sternsinger da unten?»

      «Das sind dem Schuh-Heini seine. Sie kommen jedes Jahr hierher.»

      Dorothea wusste, dass mit dem Schuh-Heini Heinrich Bidert, der Schuhmacher in Bärenwil, einem Weiler südlich von Langenbruck, gemeint war. Sein Einkommen war schmal, und er musste sich, um seine vier Kinder durchzufüttern, als Tagelöhner ein Zubrot verdienen. Das Dreikönigssingen war für die Familie wohl ein hochwillkommener Brauch.

      Jetzt trat der kleine Samuel Jacob aus der Türe. Er schleppte einen grossen Korb mit sich, dessen Inhalt mit einem weissen Tuch zugedeckt war. Er stellte ihn vor die Sternenträgerin.

      «Was


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