Die Revoluzzer. Werner Ryser

Die Revoluzzer - Werner Ryser


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      Die Geschwister lachten.

      «Das weiss ich nicht.» Samuel liess sich nicht beirren. «Aber ich werde Herrn Hoffmann fragen.»

      «Iss jetzt», sagte die Mutter streng, «und hör auf mit deinen albernen Geschichten!»

      «Das ist keine alberne Geschichte», bemerkte Dorothe Staehelin. «Der kleine Bursche hat recht. Dass die Erde die Sonne umkreist und sich jeden Tag um die eigene Achse dreht, hat vor bald dreihundert Jahren Nikolaus Kopernikus entdeckt, ein grosser Gelehrter. Ihr solltet stolz sein auf Euren Jüngsten …» Sie verstummte, als sie realisierte, dass Barbara Jacob die Lippen zusammenkniff und ihr einen feindseligen Blick zuwarf.

      Barbara stand auf. «Ich habe in der Küche zu tun.» Abrupt drehte sie sich um und verliess die Stube.

      Mathis Jacob konnte in dieser Nacht nicht einschlafen. Barbara hatte ihm im Bett den Rücken zugekehrt und beleidigt geschwiegen. Offenbar nahm sie es ihm übel, dass er bei Tisch nicht für sie Partei ergriffen hatte. Sicher fand sie, dass Dorothea sie belehrt hatte, um deutlich zu machen, dass sie nur eine dumme Bauernfrau sei. Als er glaubte, sie schlafe, verliess er leise die Kammer und ging in die Stube.

      Dort sass er jetzt, den Kopf in die Hände gestützt, am Stubentisch und grübelte beim Schein einer Kerze über einem Buch, das ihm Dorothea Staehelin vor ein paar Tagen ausgeliehen hatte. Die Wirthschaft eines philosophischen Bauern, hiess es. Ein Arzt, Hans Caspar Hirzel, hatte es verfasst. Er beschrieb darin Hans Jakob Gujer, bekannt als Kleinjogg, der im zürcherischen Rümlang einen Musterbetrieb geführt hatte. Der Mann hatte unter anderem Klee anstelle von Gras angebaut und konnte damit mehr Kühe füttern. Dadurch fiel mehr Mist und Gülle für die Düngung an, die er mit Kompost und Torfasche anreicherte. Und dies wirkte sich positiv auf die Ernte aus.

      Mathis seufzte. Es gab sie immer wieder, diese hellen Köpfe, die zwar nicht an Schulen gebildet worden waren, die aber durch Beobachtung und Experimentierlust neuen, nutzbringenden Ideen zum Durchbruch verhalfen.

      Er selber war kein Gujer. Wie seine Frau hatte auch er in der Gemeindeschule nicht viel mehr gelernt, als notdürftig zu lesen und zu schreiben und natürlich jene frommen Sprüche herzusagen, deren Kenntnis der Pfarrer für das Seelenheil seiner Schäfchen für unverzichtbar hielt. Aber anders als Barbara hatte er, wohl dank seines taufgesinnten Vaters, der darauf bestanden hatte, dass er täglich die Bibel zur Hand nahm, Freude an Gedrucktem bekommen. Es bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, die Pamphlete und Zeitungen zu lesen, die sein Schwiegervater aus Basel mitbrachte. Aber der Gedanke an Kleinjogg, der sich aus eigener Kraft ein Wissen angeeignet hatte, das ihm selber verschlossen blieb, quälte ihn. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, in all den Jahren, die hinter ihm lagen, aus seinem Verstand zu wenig gemacht zu haben. Das Gespräch beim Abendessen hatte es einmal mehr bestätigt: Nicht einmal, dass sich die Erde um die Sonne dreht, hatte er gewusst. Das musste er von seinem neunjährigen Sohn erfahren.

      Er stand auf und trat ans Fenster. Am samtschwarzen Nachthimmel leuchteten die Sterne. Was wusste er von ihnen? So gut wie nichts. Den Grossen Wagen kannte er und den hellen Polarstern. Auch den Morgen- und Abendstern konnte er am Himmel ausmachen. Ob sie aber in Wahrheit ein und derselbe Himmelskörper waren, wie er einmal gehört hatte, wusste er nicht mit Sicherheit. Vielleicht könnte ihm das Dorothe (heimlich nannte er sie noch immer so) sagen. Aber sie würde er nicht fragen. Um keinen Preis der Welt.

      Wie immer, wenn er intensiv über etwas nachdachte, strählte Mathis sich mit den Fingern der Rechten den Bart. Dann fasste er einen Entschluss. «Ich will von Sämi lernen», sagte er halblaut. «Er soll mir alles beibringen, was er von seinem Lehrer erfährt.»

      Und so sassen vom nächsten Tag an Mathis Jacob und sein Jüngster nach dem Essen zusammen am grossen Tisch. Abend für Abend. Der kleine, blonde Bursche als Schulmeister seines grossen, dunklen Vaters, dessen Sehnsucht nach Bildung ihn die ungewohnte Rolle – recht eigentlich eine Umkehrung der Verhältnisse – annehmen liess. Samuel hielt sich genau an das Vorbild von Sebastian Hoffmann. Beim Bruchrechnen etwa zerschnitt er einen Apfel in zwei Hälften, dann machte er aus ihnen vier Viertel und schliesslich acht Achtel. Er brachte dem Vater bei, einen Bruch mit zwei Zahlen zu schreiben, die durch einen Strich getrennt sind, und erklärte ihm, dass unter dem Strich der Nenner anzeigt, in wie viele Teile das Ganze dividiert wird, während über dem Strich der Zähler deutlich macht, wie viele Teile des Ganzen gemeint sind. Ein paar Tage später liess er ihn wissen, dass man Brüche erweitern und kürzen konnte. Samuel führte Mathis nicht nur in die ersten Geheimnisse der Mathematik ein, er liess ihn auch an seinem neu erworbenen Wissen über Heimat- und Naturkunde, Geschichte und Geometrie teilhaben. Das Kind lehrte ihn, dass eine Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist. Auch von Pythagoras erzählte er, der rund fünfhundert Jahre vor Christi Geburt gelebt hatte. Gemeinsam konstruierten Vater und Sohn rechtwinklige Dreiecke. Auf das Erlernen französischer und lateinischer Vokabeln allerdings verzichtete Mathis. Dafür sei er zu alt, meinte er. Es falle ihm schon schwer genug zu verstehen, was ihm sein Jüngster in der Muttersprache beibringe.

      Die Kenntnisse, die er sich aneignete, entsprachen lediglich jenem Basiswissen, das man Söhnen reicher Basler Stadtbürger vermittelte, um sie für den Eintritt ins Pädagogium vorzubereiten. Gleichwohl eröffnete der abendliche Unterricht bei seinem Sohn dem einfachen Mann eine neue Welt. Wenn er jetzt am Morgen oder abends im Stall seine Kühe molk, hörte er kaum mehr zu, wenn Peter und Paul einander von der kleinen Welt in Waldenburg berichteten. Mathis überdachte, was er gelernt hatte und grübelte über den praktischen Nutzen seines neuen Wissens nach. Er las jetzt auch den Hinkenden Boten aufmerksamer, jenen Volkskalender, der einmal jährlich im Spätherbst ausgeliefert wurde und dessen Titelblatt ein Kriegsinvalider mit einem Holzbein zierte. Bis dahin hatte er sich vor allem für die im Almanach publizierten Daten der regionalen Vieh- und Wochenmärkte interessiert. Nun nahm er sich auch die zahlreichen Artikel vor, welche die Leserschaft über Ereignisse des vergangenen Jahrs, diesseits und jenseits der Eidgenossenschaft, unterrichtete. Dazu kamen verschiedene Bücher, die ihm Dorothea Staehelin auslieh. Ihr war sein Lerneifer, der sie faszinierte und rührte, nicht entgangen.

      Seine Frau Barbara reagierte mit gemischten Gefühlen auf die abendlichen Unterrichtsstunden. Einerseits erfüllte es sie mit Stolz, dass ihr Jüngster seinem Vater Dinge beibringen konnte, die sie selber nicht verstand und auch gar nicht verstehen wollte. Andererseits ärgerte sie sich im Stillen darüber, dass Madame Staehelin ihrem Mann Bücher zusteckte. Sie befürchtete, das Wissen, das sich Mathis aneignete, trage dazu bei, dass er sich, zusammen mit Sämi, immer mehr von ihr und den vier Grossen entferne. «Wir sind doch nur kleine Leute und Untertanen», hatte sie einmal, bedrängt von ihren Ängsten, die Familie könne auseinanderfallen, zu ihm gesagt. «Was willst du dich über deinen Stand erheben?»

      Mathis hatte sie lange angeschaut. Dann hatte er die Stirn in Falten gezogen und sich von ihr abgewandt.

      9

      «Auf ein Wort, Bürger Jacob!»

      Mathis, der sich nach dem sonntäglichen Gottesdienst im August 1795 mitten unter den Gläubigen vor der Peterskirche mit seinem Schwiegervater Emil Strub unterhielt, wandte sich erstaunt um. Bürger Jacob hatte ihn noch nie jemand genannt. Vor ihm stand Sebastian Hoffmann. Ihm musste die helle fordernde Männerstimme gehören. Er kannte den seltsamen Menschen, der stets enge, lange Hosen trug, nur vom Sehen. «Meint Ihr mich?»

      Der Kandidat nickte. «Euer Jüngster, notabene ein überaus begabter Schüler, hat mir viel von Euch erzählt. Es ist mir ein Bedürfnis, einem Mann die Hand zu drücken, der sich nicht zu schade ist, von einem Kind zu lernen, einem Menschen, der willens ist, sich aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien.»

      Mathis starrte den eifrigen jungen Mann, dessen Wangen sich gerötet hatten und dessen Augen ihn hinter blitzenden Brillengläsern musterten, verwundert an. «Wovon will ich mich befreien?»

      «Aus Eurer selbst verschuldeten Unmündigkeit», wiederholte der Kandidat. Das Wort stamme nicht von ihm, sondern von Immanuel Kant, einem deutschen Denker. Die Menschen müssten lernen, erläuterte er, sich ihres Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. «Ihr, Bürger


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