Der Schwur der Engel. Pål Gerhard Olsen
gewesen war. Als kompetenter, wenn auch vielleicht etwas phantasieloser Verteidiger folgte er dem kriminalistischen Einmaleins: Drei Kriterien müssten erfüllt sein, um eine Untersuchungshaft zu rechtfertigen. Dann ging er daran, eins nach dem anderen zu entkräften. Aus Sicht der Polizei sei die Annahme einer Fluchtgefahr nicht völlig unbegründet. Das allein aber reiche nicht aus. Dann wäre da die angebliche Verdunklungsgefahr, Frau Blom. Das Gericht habe einen, wie ihm schien, zutiefst verzweifelten Mann gehört, der aus überaus verständlichen Gründen völlig aus dem Gleichgewicht geraten sei und versucht habe, den Mord an seiner geliebten Frau auf eigene Faust aufzuklären. Das mochte tadelnswert sein, nicht mehr. Und eine Wiederholungsgefahr sei aus offensichtlichen Gründen ebenfalls nicht gegeben.
Vor der Entscheidung hatten wir noch Zeit zum Mittagessen. Normierte Sandwichs. Ich bekam nur das abgestandene Wasser aus der Karaffe herunter. Ich sah, dass Lindtoft mit seinem Verlangen nach etwas Stärkerem kämpfte.
Nachdem die Richterin an ihren Tisch zurückgekehrt war, setzte sie die Brille ab. Hatte das etwas zu bedeuten? War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen für mich? Sie rekapitulierte alle Aspekte des Falls bis ins letzte Detail und sah dabei die ihr gegenüberliegende Wand an. Doch dann hörte ich das vergleichsweise umgangssprachliche Wort «überstürzt». Es könne der Eindruck entstehen, als sei die Polizei in dieser Sache etwas überstürzt vorgegangen. Die Grundlage des Antrags auf Untersuchungshaft sei nicht anfechtbar, die Aussagen der Zeugin sowie der Fund von belastendem Beweismaterial in den vom Verdächtigen gemieteten Räumen müssten gebührend gewürdigt werden. Gleichwohl richte sie die Aufforderung an die Polizei, in dem Fall sorgfältiger und weniger einseitig zu ermitteln, als dies bisher geschehen sei. Daher vertrete das Gericht nach eingehender Prüfung die Auffassung, dass die vorgelegten Indizien nicht ausreichten, um dem Antrag der Polizei auf Untersuchungshaft stattzugeben. Aber, sagte sie und sah mich dabei mit einer Miene an, als solle ich mir bloß nicht einbilden, dass sie zu Almosen neige, angesichts der Schwere des Verbrechens verhänge sie etwas, das sie als Haftersatz bezeichnen wolle: Meldepflicht für den Verdächtigen bis zum Abschluss der Ermittlungen.
Der Staatsanwalt wirkte wie vom Donner gerührt und legte sofort Beschwerde ein. Das Gericht tagte nicht mehr, es war aufgehoben. Die Richterin schickte sich an, den Raum zu verlassen.
«Danke», sagte ich, als ich vor ihr stand.
«Wofür?», fragte sie scharf.
«Dafür, dass Sie Turid und mich gesehen haben.»
«Ich weiß nicht, was ich gesehen habe. Nur dass ich das, was ich von den Polizeiermittlungen gesehen habe, schon viel besser gesehen habe.»
Der Staatsanwalt gab mir nicht mehr die Hand, er bewies wenig Sportsgeist, als er mir einfach aus dem Weg ging. Paulsen und ihr Anhängsel Svenning waren, wie angekündigt, nicht zum Termin gekommen. Dafür erschienen sie jetzt danach, sie an diesem Tag mit Pelzbesatz.
«Jetzt hat Ihr Lack einen Kratzer bekommen. Aber einmal ist immer das erste Mal.»
«Vielleicht», sagte sie gefasst, die Ohrläppchen tief im Zobel versenkt. «Ich will Sie nur daran erinnern, dass der Verdacht bestehen bleibt, falls die Richterin das nicht deutlich genug gesagt hat. Wir sind nicht fertig miteinander.»
«Nein, wir haben doch wohl gerade erst angefangen, oder?»
Meine Frage blieb unbeantwortet. Die Kulturschaffenden des Zeitungsgewerbes bedrängten Lindtoft und mich von der Drehtür des Gerichtsgebäudes bis zum Restaurant Gabler einige Straßen weiter. Große Teller, kleine Portionen, gesalzene Preise. In stillschweigender Übereinkunft strebten wir direkt auf die Bar zu, zuvor musste ich allerdings die dreistesten unter den Journalisten in unmissverständlichen Worten über die ethischen Grundsätze ihres Berufsstandes aufklären.
«Ich werde langsam zu alt für so etwas», stöhnte Lindtoft, nachdem er sich auf den Hocker gehangelt hatte.
«Für das Erklimmen eines Barhockers oder für dieses Theater bei Gericht?»
«Eher Letzteres.»
Gin Tonic für Lindtoft. Für mich Bushmill, ohne alles. Er trank genau so, wie ich es erwartet hatte – ohne Rücksicht auf die Schrumpfleber.
«Na, Ask, das haben wir doch gut hingekriegt, oder?», sagte er und stieß mit mir an.
«Mal sehen, wie es weitergeht.» Der Whiskey legte sich wie eine flauschige Decke über mich.
«Irgendwie geht es immer weiter», hobbyphilosophierte Lindtoft. Die über den Schädel gekämmten Haare begannen zu verrutschen. Er kümmerte sich nicht darum. «Kommen Sie über Neujahr mit nach Florida. Share some time with me.» Er kicherte in Moll über seinen eigenen Witz. «Sie sitzen im Schatten. Sitzen einfach da und gucken vor sich hin. Wenn Sie das lange genug gemacht haben, löst sich alles auf. Das können Sie auch.»
«Nein, Lindtoft. Das hat ein anderer für mich getan», antwortete ich, als vor dem Restaurant gerade alle meine Bekannten aus dem Polizeipräsidium auftauchten. Paulsen, Svenning und Vegard Bakke, mit dem ich nicht gerechnet hätte. Er trottete hinter den anderen her, hob im Vorübergehen den Blick und erstarrte bei meinem Anblick. Ich prostete auch ihm zu. Es war, als seien wir schon im Gespräch miteinander. Als hätten wir schon mehrere Themen angeschnitten, noch bevor wir das erste Wort gewechselt hatten.
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