Der Schwur der Engel. Pål Gerhard Olsen
Fällen zugewandt. Aber sie war immer wieder mit kleinen Bemerkungen auf die Vorgänge in dieser Wohngemeinschaft zurückgekommen. Irgendetwas an diesem Fall hatte sie nicht losgelassen.
Nachdem ich im Archiv einer der großen Osloer Zeitungen eine Stunde mit der Lektüre alter Ausgaben zugebracht hatte, wusste ich über diese ganze Geschichte wieder mehr als genug. Die Zeitungskonzerne hatten sich die Berichterstattung über Verbrechen zur wichtigsten kulturellen Pflicht gemacht. Jetzt würde Turid selbst der öffentlichen Begutachtung preisgegeben werden, erbarmungslos und bis ins letzte Detail. Das bedeutete, ein zweites Mal zu sterben, und wieder war ich völlig machtlos.
Das Haus im vornehmen Westen war von einer merkwürdigen Ansammlung von Leuten bewohnt. Es hatte einen weiten Blick über die Stadt und lag an der Straße, die zur Sprungschanze Holmenkollen hinaufführte. Joachim Bucher. So hieß der Mordverdächtige. Ehemaliger Skispringer. 1993 hatte er nur um Haaresbereite den Sieg der norwegischen Schanzen-Tournee verfehlt. 29 Jahre alt. Er machte ein bisschen in Weinimport zusammen mit einem zurückgetretenen Politiker der äußersten Rechten und während der Goldgräberzeit irgendetwas mit IT. Er besaß eine Neigung zu Cabriolets und Edelrestaurants. Ein Schürzenjäger. Bevorzugte junge Mädchen, wie Turid herausgefunden hatte. Am liebsten Mädchen in Pfadfinderuniformen, was auf ein pervertiertes Reinheitsideal hindeutete. Vielleicht hatte sein älterer Bruder Amund eine Meinung zu Turids Tod. Seine Berufsbezeichnung lautete kurz und knapp «Berater».
Ich musste mich am Lenkrad festhalten, als ich von meinem Parkplatz in der Innenstadt losfuhr. Die verzögerten Reaktionen waren chronisch geworden. Ich war aus der Haut gefahren, und das würde so bleiben. So lange, wie ich brauchte, um das Unfassbare fassen zu können.
*
Ich fuhr Richtung Holmenkollen, Oslos Hausberg. Ich verließ das Auto wie auf Luftkissen. Wie leicht und wackelig ich geworden war. Ein sportlicher Jüngling in Seemannspullover hüpfte in kleinen Tigersprüngen von Briefkasten zu Briefkasten und stellte die Post zu.
«Ich nehme die Post mit rein», sagte ich mit weit vorgestreckter Hand, als der junge Athlet einen Stapel Umschläge in Buchers Schlitz stecken wollte.
Er nahm mein Angebot ohne Widerrede an. Der Garten vor der säulengeschmückten Villa war auf dekorative und aristokratische Weise verwildert. An der Haustür war keine Türklingel. Vielleicht ging man einfach hinein, nachdem man ohne Ergebnis angeklopft hatte. Die Tür gab nicht nach. Ich umrundete das Haus und kam zu einem angebauten, nach Nordwesten gehenden Wintergarten neueren Datums. Ein Gewächshaus mit üppigen Grünpflanzen. Ein Aquarium wie ein gewaltiger Weinballon. Rattanmöbel. In einem der Sessel saß ein junger Mann und onanierte. Hemd über der Hose. Handystöpsel im Ohr.
Ich betrat das Haus durch eine Sprossentür an der Schmalseite des Wintergartens. Der Onanierer lächelte, murmelte einsilbige Kommentare auf die Pikanterien des Ohrstöpsels und wippte dabei wohlig mit dem Stuhl vor und zurück. Ich trat leicht gegen ein Bein seines Stuhls. Er kippte in der Sekunde um, als es ihm kam. Das Aquarium bekam eine Breitseite ab.
«Was verflucht ...»
Ich zog ihm den Ohrstöpsel heraus.
«Was hat es gekostet?»
«Was meinen Sie – das Aquarium?»
«Das Telefongespräch.»
«Eh, 280.»
Ich hielt ihm die Post vor die Nase. «Jemand zu Hause? Bucher, beispielsweise? Ich meine den, der frei herumläuft? Oder sind alle unten in der Stadt, um sich den Bauch voll zu schlagen?»
«Weiß nicht genau. Ich glaube, ich habe ihn heute Morgen gesehen. Dann wäre er oben. Da hat er ein Büro.»
«Und Sie – wo wohnen Sie? Wenn Sie nicht hier sitzen und bombensicheren Sex haben.»
«Ich ... also ich bin Kellner, in der Torggate. Ich habe gleich Dienst.»
«Ja», sagte ich und betrachtete das subtropische Schlachtfeld. «Es ist serviert.»
Draußen in der Eingangshalle stieß ich lediglich auf ein Surfbrett sowie einen Thermoanzug, der an einer Garderobe hing. Teppichbelegte Stufen, Tapeten, deren Ränder klafften, als wollten sie aufplatzen.
Er stand in der ersten Tür, die ich sah, als ich oben ankam. Groß und schlank. Falkennase. Haare sehr kurz geschoren. Lederhose, Ringershirt. Auf dem Oberarm eine Tätowierung. Eine vulgärrote Rose. Nicht gerade das, womit man im Elternhaus beim Weihnachtsessen protzen würde. Aber heute war alles erlaubt. Stil haben bedeutete, stillos zu sein.
«Sie stören», sagte er. Er sprach, wie ich es erwartet hatte: arrogant näselnd.
«Das deckt die Versicherung.»
«Ihre oder meine?»
«Doch wohl die von Ihrem Vater», sagte ich und gab ihm die Post.
Er ging vor mir ins Zimmer – mit einem Gang wie ein Löwe. Büro und Privatzimmer in einem Raum. Der war dafür aber riesig. In der Ferne ein Specksteinkamin. Eine Sofagruppe mit Bauhaus-Anklängen. Ein Bauernschrank als Bar. Auf einem Glastisch das Magazin Wallpaper und alle norwegischen Finanzzeitungen. Bang & Olufsen vertikal aufgehängt. Das Neueste und Teuerste an Büroausstattung, aber der Schreibtisch hätte im Büro eines Reeders stehen können. Zeitgemäß und traditionsbewusst. Von allem etwas. Das Cover einer Led-Zeppelin-Platte als Poster an der Wand. Houses of the Holy. Jungfräuliche Mädchen mit langem Blondhaar, die in einer mythologischen Steinlandschaft herumklettern. Waren sie Jungfrauen? War die Sechzehnjährige Jungfrau gewesen? Ich hatte hohen Blutdruck. Bis in die Augen.
Ich sagte, was ich Wenche Johnsen gesagt hatte, berichtete von einem Todesfall. Noch ein Versuchsballon.
«Shit happens. All the time.»
«Soll ich Ihnen nicht sagen, wer ich bin?»
«Sind Sie nicht schon dabei? Man muss den Leuten eine Chance geben, das ist mein Motto. Alles kommt zu dem, der warten kann.»
«Meine Frau hat Ihren Bruder eingebuchtet. Den mit der Kerze. Mit dem Pfadfinderehrenwort und den vielen Spielsachen. Sie wissen schon.»
Er kratzte sich auf der Brust, ein scharrendes Geräusch, wie von Kakerlaken. Er zog sich an den Eiern. Ein glatteres Geräusch. Dann sah er sich das Fax an, das gekommen war, während wir unser Vorgeplänkel absolvierten. Er machte daraus ein Papierflugzeug, das gegen meine Brust krachte.
«Ja, spielen wir doch ein bisschen, ein Spiel unter Gleichen? Homo ludens, Sie wissen schon», sagte er nachäffend.
«Und jetzt ist sie tot», sagte ich und riss das Flugzeug in winzige Stücke.
Er schnalzte herablassend mit der Zunge und trank einen Schluck des französischen Mineralwassers, das er auf dem Tisch stehen hatte.
Meine Wut nahm immer mehr zu. Er hatte sich hinter den Schreibtisch gesetzt, drehte sich ein wenig hin und her. Er spielte wieder, jetzt mit einem Papiermesser, ließ den Zeigefinger über die Schneide gleiten.
«Sie bekam Morddrohungen. Aber sie ließ nicht locker. Das war ihr Job: Sie buddelte in Scheiße. Sie war beharrlich, sie gab nicht auf. Sie gibt immer noch nicht auf. Jetzt bin ich an ihrer Statt hier.»
«Ach Gott, wie süß. Höre ich das Libretto einer Liebesgeschichte für das neue Jahrtausend, auf das wir uns alle so minutiös vorbereiten? Ich könnte im Besetzungsbüro der Oper anrufen und einen Termin für ein Vorsingen arrangieren.»
«Das Vorsingen hat schon stattgefunden, Bucher. Durch Sie. Der Anrufer waren Sie.»
Das Messer stand wie ein Pfahl im Schreibtisch, in den er es hineingerammt hatte.
«Natürlich war ich der Anrufer. Ich telefoniere am laufenden Band. Habe an jedem Finger ein Handy. Telefonieren ist mein Broterwerb. Manchmal gehe ich damit Pleite, aber das ist eine andere Geschichte. Und was wäre, wenn ich der Anrufer gewesen wäre? Wenn ich sie gebeten hätte, die Sache einzustellen? Was beweist das? Wie weit kommen Sie damit? Sie sind die Treppe hochgekommen. Freddy ist ein miserabler Türwächter. Er ist meistens ein aufgegeilter