Der Schwur der Engel. Pål Gerhard Olsen

Der Schwur der Engel - Pål Gerhard Olsen


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schlafen können?», fragte die Kommissarin mit einer aufrichtig wirkenden Fürsorglichkeit in der Stimme.

      Damit ließen sie mich gehen. Ich wurde nach Hause gebracht. Die steilen Kehren hinauf zum Mehrfamilienbungalow im Betzy Kjelsbergvei im Stadtteil Grefsen knallte der Regen wie Splitterbomben gegen die Scheiben. Nachdem ich die Wohnungstür geöffnet hatte, blieb ich lange lauschend im Flur stehen, flüsterte ihren Namen. Die Leere, die sie hinterließ, war so groß, dass ich nach Luft schnappte. Alles schien über mir zusammenzuschlagen. Ich musste ihr ihre Würde wiedergeben. Wenn ich lebte, dann war es ihr Leben in mir. Ihres und das des Ungeborenen. Sie war im dritten Monat schwanger gewesen.

      Das Tageslicht war nichts als ein unwilliger kleiner Spalt Grau. Nach einer schlaflosen Nacht, die mir die Polizistin so korrekt vorausgesagt hatte, lag ich zusammengerollt und von kaltem Schweiß bedeckt auf der einen Seite des Betts und fixierte die kaum merkliche Vertiefung auf der anderen Seite der Matratze. Vom Körper meiner Geliebten, den es nur noch in meiner Erinnerung gab.

      Später schnitt ich mich beim Rasieren, ließ die Klinge in das blutgerötete Wasser fallen, setzte mich auf den Kachelboden, schlang die Arme um die Knie und brach in Schluchzen aus. Schaukelte, schüttelte, zitterte die Tränen heraus. Es war, als risse das Weinen alles aus mir heraus, alles außer ihr, sie war wie ein harter Kern, es gab nur noch sie und meinen festen Vorsatz, ihr Genugtuung zu verschaffen. Meine Trauer war noch neu, sie war erst im Entstehen, aber es war bereits eine entschlossene Trauer.

      Turid war nicht in einem Vakuum gestorben. Ich war nicht der einzige Hinterbliebene. Sie hatte eine Familie, die ich allerdings kaum kannte. Musste ich sie nicht unterrichten? Ich stand mit dem Hörer in der Hand da, konnte mich aber nicht überwinden, die Tasten zu drücken, die mich mit ihrem Heimatort verbunden hätten. Jevnaker. Die Polizei würde das für mich tun, wenn sie es nicht schon getan hatte. Ich hatte eine andere Aufgabe. Ich musste mich dem unfassbaren ersten Tag nach dem Mord stellen.

      Im Bus saß ich am Fenster und ließ die Schaufenster mit Weihnachtsdekoration passieren, sie widerten mich an. Den Maridalsvei hinunter erschienen mir die renovierten, bunt gestrichenen Holzhäuser wie Schwarzweißfernsehen, eine Idylle mit kleinen Fenstern und weißen Gardinen, die weiter unten von moderneren Gebäuden abgelöst wurde.

      Mein zehn Jahre alter Golf stand nicht weit von der Stelle, wo sich Maridalsvei und Sagvei gabelten. Ich sah zu den Fenstern der Wohnung hinauf, in die mich mein Auftrag geführt hatte, sie lag im zweiten Stock eines sandgelben, lang gestreckten Mehrfamilienhauses. Wieso hatte man mich mit dem Auto in Verbindung gebracht? Ich hatte nicht falsch geparkt; der Wagen war also nicht wegen einer Verkehrswidrigkeit an das Polizeipräsidium gemeldet worden.

      Auf dem Klingelschild stand Johnsen. Knapp. Geschäftsmäßig.

      «Ich komme hoch», sagte ich in die Gegensprechanlage.

      «Habe nicht geöffnet.»

      «Für mich schon.»

      Als ich im zweiten Stock ankam, stand sie schon in der Tür und ließ mich ebenso schnell ein wie zwölf Stunden vorher. Das Paneel der Flurwände war mit gerahmten Fotos bedeckt. Tiere und Kinder. Zwei der Kinder waren ihre eigenen. Sie wohnten beim Vater in Lørenskog. Richtige Jungs, hatte sie gesagt, als erkläre das alles. «Er ist seither nicht mehr hier gewesen?»

      «Welcher ‹er›?», sagte sie und zupfte an ihrem geräumigen Pullover herum. Ihre Stimme klang wie ein Rennwagenmotor im Leerlauf. Längliches Gesicht mit hohen Wangenknochen. Das Haar weizenblond, die Spitzen sonnengebleicht. Barfuß und ungeschminkt. Außer Dienst.

      «Der, wegen dem Sie mich angerufen haben.»

      «Ach der», sagte sie, als sei ihr so früh am Morgen noch kein Gedanke an Männer gekommen.

      Tiere und Kinder auch an den Wohnzimmerwänden. Lämpchen mit viel Dekor. Flokatis. Übermöbliert, die Luft von einträglichem Männerschweiß durchdrungen. Das drei Quadratmeter große Handtuch mit einem Gran-Canaria-Motiv lag nicht mehr auf dem Fußboden. Fußboden oder Sofa, nie im Schlafzimmer, hatte sie mir gesagt. Ihre Tarife begannen bei 1500. Sie hatte mir alles aufgezählt – ihre komplette Angebotspalette. Als sei ich deswegen gekommen, beim ersten Mal. Dabei hätte ich ihr durchaus sagen können, dass ihr Anliegen nicht zu meiner Angebotspalette gehörte, und sie an ein Krisenzentrum oder etwas Ähnliches verweisen können. Aber ich war zu ihr gegangen. Warum eigentlich?, fragte ich mich, während sie sich auf das Sofa setzte und den Pullover wie eine Zeltplane über die Knie zog. Wusste ich das wirklich nicht? Ich kannte doch meine verheerende Neigung, dem anderen Geschlecht zu Diensten sein zu wollen. Diese übertriebene Ritterlichkeit, die allzu oft dazu geführt hat, dass ich selbst Prügel bezog. Sie hatte angerufen, ich war angerannt gekommen. Manche lernen es eben nie.

      Sie zündete eine Pall Mall an und pulte sich ein wenig zwischen den Fußzehen herum, während im Radio die Zehn-Uhr-Nachrichten liefen. In der Küche prustete die Kaffeemaschine. Ihr griffbereit platziertes Nokia brach in schrilles Vogelgezwitscher aus.

      «Wollen Sie nicht antworten?»

      «Nicht um diese Tageszeit.»

      «Es könnte sich um etwas anderes handeln.»

      «Das tut es nie.»

      «Es gibt eine Tote», sagte ich.

      «Tote?», sagte sie mit deutlichem Entsetzen vor dem, was das Wort implizierte.

      Ich drückte die Klinke zur Balkontür herunter.

      «Die klemmt ganz furchtbar», sagte sie, als wolle sie mich davon abhalten. Ich zog so heftig, dass das Glas klirrte. Mein Fingernagel versank im Holz.

      «Fängt an zu modern.»

      «Kriege keine Handwerker. Die bewegen ihren Arsch erst, wenn die dicke Kohle winkt.»

      «Ja, ja», sagte ich geistesabwesend und trat auf den Balkon. Eine zusammengeklappte Sonnenliege mit verflecktem Bezug. Eine Wäscheleine, die mir ins Gesicht schlug. Die Aussicht ging auf Fabrikdächer sowie auf die Grünfläche neben der Stelle, wo Turid starb.

      «Jemand, den ich kenne», sagte ich, als ich wieder hereinkam.

      «Das tut mir Leid», sagte meine Auftraggeberin aus der Küche. Als sie zurückkam, hatte sie zwei Becher mit Teddymuster in den Händen. War das jetzt Entsetzen oder nur professionelles Mitleid? Ich saß ihr gegenüber im Sessel und konnte sehen, dass sie nicht alle Requisiten weggeräumt hatte. Unter dem Sofa lag ein Paar altmodische Damenpumps, die aussahen, als stammten sie noch aus den fünfziger Jahren. Als ich sie darauf hinwies, angelte sie sich ungerührt einen und ließ ihn an den Zehen baumeln. «Für Sie oder einen Kunden?»

      «Einen Kunden. Hätte fast den Absatz abgebrochen, dieses Tier. Wollen alle etwas anderes sein, als sie sind. Schon komisch.»

      «Aus der eigenen Haut fahren», fügte ich hinzu.

      «Sind Sie auch so drauf?»

      «Nein. Das war ich einmal, war lange aus der Haut gefahren. Jetzt will ich nur da sein, wo ich bin. Daheim.»

      «Viel Glück dabei. Wenn alle wären wie Sie, gäbe es nicht viel zu verdienen.»

      «Da sehe ich keine akute Gefahr.»

      «Was wollen Sie eigentlich?» Sie befreite sich aus dem zeltartigen Pullover und griff nach der Kaffeetasse.

      «Wissen, was Sie gestern Abend wirklich von mir wollten. Sie brauchten Hilfe. Es ginge um einen Mann, sagten Sie. Keinen Exmann. Nur einen Mann. Aber er sei sehr beängstigend. Ich selbst brauche jetzt lediglich einen Ort, wo ich gewesen bin. Die Polizei verlangt das von mir. Das kann unangenehme Konsequenzen für Sie haben, auch wenn Ihr Broterwerb davon zunächst einmal nicht betroffen ist. Ich muss angeben, dass ich bei Ihnen war. Es sei denn, Sie waren bereits so uneigennützig und haben es ihnen selbst gesteckt.»

      «Ich?», protestierte sie entsetzt.

      «Die Polizei hat mein Auto gefunden. Jemand muss ihnen einen Tipp gegeben haben.»

      «Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt», sagte sie und wickelte sich wieder


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