Der Schwur der Engel. Pål Gerhard Olsen

Der Schwur der Engel - Pål Gerhard Olsen


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wieder auftauchen könnte, und Sie behaupten, ich hätte keine anderen Sorgen, als Sie in irgendetwas reinzureiten.»

      «Ja, ist das nicht unerhört? Aber mir kommt das alles merkwürdig vor, ich wüsste gern mehr über ihn. Wiederholen Sie bitte, was Sie gestern Abend gesagt haben. Mir kommt es vor, als sei ich heute aufnahmebereiter dafür.»

      Sie tat, worum ich sie gebeten hatte. Sprach über ihn, seine Angewohnheiten. Es klang überzeugend. Sie verwickelte sich in keine Widersprüche, sie wiederholte präzise die Aussage vom Vortag. Aber es gelang mir trotzdem nicht, das Bild dieses Mannes in irgendeine einleuchtende Beziehung dazu zu bringen, wie ich Turid vorgefunden hatte.

      «Jemand will mir etwas anhängen», sagte ich.

      «Ich nicht», kam es sofort vom Sofa. «Ich will nur raus aus dieser Hölle.»

      «Und in den Himmel», sagte ich und sah aus dem Fenster, hinaus in den Tag, der zur Neige ging, obwohl er noch gar nicht richtig begonnen hatte. Oslo im Dezember war ein Kohlenkeller.

      «Also das kann noch warten.»

      «Er meldet sich nicht an. Er kommt einfach – das sagten Sie doch, oder? Nicht durch die geschlossene Tür, sondern durch die Tür, die Sie ihm aufschließen, weil er Sie mit seiner Stimme willenlos macht. Sagt keine Silbe über sich selbst. Er sagt nur, wie er Sie haben will», sagte ich, ging um den Couchtisch herum und beugte mich über sie, die Hände rechts und links von ihren merkwürdig kleinen Ohren auf die Rückenlehne gestützt. «Aber gestern sind Sie drangegangen. Ans Telefon. Es war die richtige Tageszeit, aber etwas fiel mir auf. Ja, sagten Sie. Sonst nichts. Ja und amen.»

      Ich rückte näher an sie heran. Sie wich mit dem Kopf seitlich aus.

      «Als ob Sie Anweisungen erhielten. Sagen Sie also nicht, dass er nicht anruft. Er ruft an. Die Polizei hat mich gefragt: Wie haben Sie sie gefunden? Ja, wie war das möglich? Nicht schlecht, bei dieser Dunkelheit, oder?»

      «Kapiere nicht, was Sie da reden. Das war nur einer von diesen üblichen Schwätzern, die nicht potent genug sind, herzukommen und sich zu holen, was sie haben wollen.»

      Meine Handrücken legten sich wie Schraubzwingen über ihre Haare, die in einem Halbkreis auf dem Sofarücken lagen. Sie schob das Kinn nach oben, verdrehte die Augen.

      «Erinnern Sie sich, wie wir gingen? Sie wollten nach Ihrer Höllenstunde an die frische Luft, sagten, dass Sie sich mit mir sicher fühlen. Und wir gingen zur Aker hinunter. Sie redeten fast nur über die Enten, den Fluss, Sie hatten für nichts anderes Augen. Dann sah ich etwas, das, was ich sehen sollte, und Sie konnten sich zurückziehen.»

      «Jetzt hören Sie auf damit. Sie sind doch plötzlich ins Wasser gesprungen. Hätte ich den ganzen Abend da herumstehen und mir Ihre idiotische Planscherei ansehen sollen? Da bin ich lieber nach Hause. Ich hab nichts gewusst und konnte auch nicht erkennen, was Sie da plötzlich entdeckt haben. Sie haben sich da drübergehängt wie eine verdammte Plane.»

      «Haare», sagte ich und schob meine Hände auf ihren ausgebreiteten Haaren langsam nach außen. Ihre Augen wurden kreideweiß wie Flipperkugeln, der Hals war glatt wie eine Schwimmbadrutsche. «Haare, die nicht mehr da waren. Das habe ich entdeckt.»

      «Nicht, nicht», japste sie.

      Ich zog etwas fester. «Sagen Sie etwas anderes. Etwas mit Hand und Fuß.»

      «Was ... denn ... zum Beispiel?», brachte die heimarbeitende Sexualdienstleisterin keuchend hervor, den Blick blind zur Decke gerichtet. Ich machte ihr Angst, aber sie würde deswegen nicht den Verstand verlieren. Ich war zu harmlos, zu trivial. Ich war der Konkurrenz nicht gewachsen. Nicht, solange ich ihr nicht wirklich den Hals brach.

      Ich ließ mich wieder in den Sessel fallen.

      «Zum Beispiel, ob es diesen Mann wirklich gibt.» Sie schüttelte das zusammengedrückte Haar, die Pupillen kehrten an die richtige Stelle zurück.

      «Natürlich. Ihn auch.»

      «Ihn auch? Was soll das heißen?»

      «Nichts. Nur dass die Welt voller Verrückter ist», sagte sie, die Panik stand ihr noch deutlich im Gesicht. Aber vielleicht war das nur eine verzögerte Reaktion.

      «Ich komme wieder», sagte ich, als sie mich zur Tür brachte. «Falls nötig.»

      «Ach ja?», sagte sie, als würde sie jederzeit dagegen wetten, und drückte die fünfte Zigarette, die unseren Kaffeeklatsch begleitet hatte, an der Halterung der Sicherheitskette aus.

      2

      Im Auto bekam ich Sodbrennen. Die Hände schlugen unkontrollierbar auf das Lenkrad. Ich zuckte am ganzen Körper. Verzögerte Reaktionen waren ansteckend. Vor meinem inneren Auge lief immer wieder der Film mit Turids groteskem Tod, ohne dass ich das Geringste dagegen tun konnte. Würde es mir helfen, wenn ich ihren Mörder fand? Vielleicht wäre das nur eine höhere Stufe der Hilflosigkeit. Ihn zu finden, um zu verstehen, wie jemand sie so behandeln konnte. Das war meine Existenzberechtigung.

      Wenche Johnsen hatte so wenig gelogen, wie sie konnte. Sie lag auf einer Streckbank. Um mich stand es vielleicht nicht viel besser, auch wenn ich den Gedanken, dass jemand etwas gegen mich hatte, nicht zu Ende denken wollte, bevor ich dazu gezwungen war. Vielleicht war das Ende unseres Abendspazierganges wirklich nur Zufall, wenn auch ein ganz und gar unglaublicher. Aber der Mord an Turid war mit Sicherheit kein Zufall. Ich konnte auch nicht an einen Raubmord glauben. Irgendjemand hatte offenbar ein Exempel statuieren wollen. Zur Warnung und Abschreckung. Als Kommissarin im Dezernat für Gewaltverbrechen und Glücksspiel hatte sie sich weit aus dem Fenster gelehnt. Eine eigensinnige und ehrgeizige Polizistin, die allem auf den Grund gehen wollte. Sie ermittelte nicht nur, wenn sie im Dienst war, sondern rund um die Uhr. Ich legte abends meinen Job ab wie ein schmutziges Kleidungsstück, sie aber dachte ständig daran. Bei dem ganzen Klatsch und Tratsch und Ärger, den sie indiskreterweise bei mir ablud, ging es meist um klar definierte Fälle.

      War die Erklärung nicht da zu suchen – in einem der Fälle, die sie bearbeitete? War das nicht das Nächstliegende? Ich ließ den Motor an, drehte die Heizung auf, wartete, bis mein kleines metallenes Schneckenhaus langsam auftaute, während ich ihre Fälle in Gedanken rekapitulierte, Fälle, die ihr nachtblaue Schatten unter den Augen beschert hatten. Sie hatte mit jedem Einzelnen gelebt. Jeder ging ihr gleich nah. Aber einer war anders als die anderen gewesen. Es war erst wenige Monate her. Damals hatte man ihr mit Repressalien gedroht. Es hatte Drohanrufe gegeben, sogar bei uns zu Hause. Ich hatte ihr angesehen, dass da etwas war, aber sie wollte nicht darüber sprechen, welchem Druck sie ausgesetzt war, bis ich eines Abends ans Telefon ging. Und selbst da wollte sie nicht, dass der Anrufer aufgespürt wurde. Sie wollte keine Geheimnummer, wollte einfach so weitermachen, im Clinch mit dem Fall. In dessen Mittelpunkt stand eine Wohngemeinschaft im eleganten Westend der Stadt. Ein Haus, in dem ständig Leute ein- und auszogen. Und dann lag eines Morgens eine Sechzehnjährige auf dem Esstisch, in der Scheide eine Kerze, über dem Kopf eine Plastiktüte.

      Auto-Erotik. So nannte man das. Eine Praktik der sexuellen Stimulation ohne Partner. So schien es jedenfalls. Aber Turid hatte sich nie mit dem Anschein zufrieden gegeben. Sie ging den Sachen auf den Grund. Sie vermutete einen provozierten Tod zur Steigerung der Lust eines anderen. Sie umkreiste eine Person und kriegte sie schließlich. Nicht aufgrund von Indizien. Sie befasste sich mit der Persönlichkeit eines Verdächtigen. Ihr ging es mehr um die menschliche Dimension als um die DNA. Sie konnte den Menschen, den sie im Verhör vor sich hatte, ausziehen, indem sie ihm oder ihr immer näher kam. Zuhörte. Mitspielte. Des Teufels Advokat und zugleich sie selbst war. So arbeitete sie: auf dem Drahtseil über dem Abgrund balancierend. Darin hatte sie in mir einen Verbündeten. So hatten wir einander gefunden, im unglaublich heißen Sommer 1997. Der Fall, der uns zusammenführte, war der erste Baustein unserer Beziehung gewesen. Wir wussten beide, wie leicht man Grenzen überschreitet: Nur eine kleine Drehung an der mentalen Schraube, und schon verschwindet die Trennlinie zwischen Zivilisation und Barbarei. Wir hatten das gleiche Menschenbild gehabt. Konnten wir mehr teilen als das? In diesem speziellen Fall hatte ihre halsbrecherische Strategie allerdings nicht zu einem klaren Geständnis geführt, sondern zu einem gut


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