"Ich habe neun Leben gelebt". Joseph Melzer
Sie haben mich das Leben führen lassen, das ich in diesem Buch schildern werde.
Ich hätte die Jahre in Berlin kaum überlebt, wenn »Aschinger« nicht großzügig Brötchen gratis verteilt hätte, wenn man dort eine Suppe für fünfzig Pfennig aß. Im Lager in Russland war ich nicht immer ein Held. Um ein Stück Brot zu erwischen, habe ich auch lügen oder mich erniedrigen müssen. In Samarkand war ich notgedrungen gezwungen zu betteln. Ich lief Hunden hinterher, die etwas Essbares im Maul hielten. Ich lebte am Existenzminimum. Der Hunger war mein ständiger Begleiter.
Die besten Jahre verbrachte ich in Paris im Exil. Ich war jung und finanziell unabhängig. Es ging mir gut. Ich war umgeben von lauter interessanten Emigranten, von denen ich viel lernen konnte. Vor allem war ich frei. Ich war nie mehr so frei wie damals in Paris. Später geriet ich in Russland in Haft, wo ich wie ein Sklave behandelt wurde. Und wieder später trug ich Verantwortung für eine Familie.
Ich floh im Januar 1933 vor den Nazis nach Palästina und versuchte, mir dort eine Existenz als Buchhändler aufzubauen. Als ich merkte, dass dort auch der Nationalismus zunahm und man Fahnen mehr verehrte als das biblische Gebot »Liebe deinen Nächsten«, verließ ich das Land wieder. Die Juden in Israel glaubten, besser und menschlicher zu sein als die arabischen Einwohner. Ich kehrte nach Europa zurück, wo mich der Zweite Weltkrieg erwischte, nach dessen Ende ich wieder in Palästina landete, das jetzt Israel heißt.
Wieder verließ ich 1958 »aufatmend« das Land und kehrte zurück nach Deutschland. Aus den wenigen Jahren, die ich bleiben wollte, sind jetzt mehr als 25 geworden. Freunde in Köln, wo ich zu Beginn dieser Zeit Station gemacht hatte, haben mich überredet und überzeugt zu bleiben und einen jüdischen Verlag zu gründen. Ich sollte die in den Nazijahren verbotene, verbrannte oder anderweitig verloren gegangene jüdische Literatur der Öffentlichkeit wieder zugänglich machen. Also blieb ich in Köln und gründete den Joseph-Melzer-Verlag, bei dessen Gründung die Göttin Fortuna Pate stand. Ich brachte eine ganze Reihe wichtiger Bücher zum Judentum auf den Markt. Der Joseph-Melzer-Verlag leistete echte Pionierarbeit, und wie das Schicksal den Pionieren oft mitspielt, konnten erst die Nachfolger die Ernte einbringen.
Zwar fand ich Anerkennung, jedoch wurde meine Verlagsarbeit von den jüdischen Organisationen und den »Berufsjuden« kaum beachtet. Nicht selten wurde meine Arbeit geradezu behindert. In jüdischen Kreisen wurde bevorzugt der als erfolgreich verstanden, der Immobilien besaß. In den ersten Jahren des Nachkriegsdeutschlands galten Bücher wenig, es zählten eher Scheckbücher. In eine Auseinandersetzung mit Heinz Galinski, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, mischte sich Ignaz Bubis ein. Er fragte mich mit aggressivem Unterton: »Was haben Sie denn schon für das Judentum geleistet, dass Sie es wagen, Heinz Galinski zu kritisieren?«
Ja, was? Es stimmt, ich habe keine Häuser im Frankfurter Westend erworben, sondern Bücher verlegt. Und nachdem man wusste, dass ich damit nicht nur kein Geld gemacht, sondern auch noch Geld verloren hatte, habe ich schon gar keine Anerkennung mehr finden können. Dennoch, ich bedauere nichts.
I 1907–1918
Eine unruhige Zeit
Ich wurde 1907 geboren in einer für das Judentum und die Judenheit denkwürdigen und geschichtlich hochinteressanten Epoche. Man kann es nicht gerade einen glücklichen Umstand nennen, wenn man zu Beginn des Jahrhunderts in einem jüdischen Städtchen Ostgaliziens zur Welt gekommen ist. Nicht etwa, weil es dort Antisemitismus gab, sondern weil das Leben dort für Juden grau und hoffnungslos war, auch wenn wir Kinder das nicht so empfunden haben. Wir lernten und spielten wie andere nichtjüdische Kinder auch. Je älter wir aber wurden, desto heftiger spürten wir den Unterschied. Unglücklich war der Umstand auch für die Nichtjuden, denn es warteten auf uns alle der Zerfall der alten Welt und zwei Weltkriege, die Millionen von uns dahinrafften, weil wir Deutsche, Franzosen, Engländer, Österreicher, Italiener oder Russen waren und auf uns Juden ganz besonders, weil wir eben Juden waren.
Die alte Welt lag in Agonie, und eine neue Welt, die das Leben der Juden umkrempeln sollte, erschien am Horizont. Etwa zehn Jahre vor meiner Geburt wurde die zionistische Bewegung gegründet, die das Leben der Juden veränderte. Ein knappes Jahrzehnt nach meiner Geburt begann der Erste Weltkrieg, der das alte Europa zerstörte und seine Trümmer umgestaltete.
Für meinen Großvater war die Emanzipation ein Irrtum und Zionismus ein Götzendienst. Die Entwurzelung der Juden aus dem Judentum bedeutete für ihn eine Katastrophe. Für mich freilich war die Judenfrage keine Frage der Juden allein, sondern eine Frage der Nichtjuden, der Christen, und damit eine Frage der ganzen Menschheit.
Die Lebensbedingungen der Juden am Ende des 19. Jahrhunderts unterschieden sich – wenigstens was ihre große Mehrheit betrifft – kaum von den finstersten Zeiten des Mittelalters. Die Mehrheit der russischen und der galizischen Juden, unter denen ich aufgewachsen war, lebte in wirtschaftlicher, sozialer und geistiger Not. Viele diskriminierende Gesetze, deren Liste sich kontinuierlich erweiterte, entzog den Juden eine wirtschaftliche Existenzmöglichkeit nach der anderen. Derart repressive Verhältnisse ließen unter Juden den Aberglauben aufblühen. Sie waren fruchtbarer Boden einer sich verbreitenden Mystik des Chassidismus. Die ständige Furcht vor blutrünstigen Verfolgern eliminierte das aufrechte und selbstbewusste Judentum. Besonders für Russland konnte man, auch ohne ein Prophet sein zu müssen, voraussagen, dass sich eine wirtschaftliche, geistige und moralische Katastrophe in Richtung auf die Judenheit Bahn brach, die es in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Die Verzweiflung hatte noch einen weiteren Grund. Die modernen Verkehrsverhältnisse, die den Volksmassen Beweglichkeit verschaffte, schienen zu Beginn auch den Juden zugute zu kommen. Viele von ihnen glaubten, die Auswanderung in die Fremde könne ihnen Freiheit, Sicherheit und Brot verschaffen. Aber abgesehen davon, dass Massenauswanderung kaum geeignet sein kann, die Lösung des Problems von Millionen zu sein, begann sich auch das gelobte Land der Freiheit, Nordamerika, und mit ihm die alte Hochburg der Toleranz, England, gegen den Zuzug der Ostjuden energisch zu wehren. Auch diese Länder machten die Einwanderungserlaubnis von Bedingungen abhängig, denen nur ein kleiner Teil der Auswanderer genügen konnte. So wurde die Emigration als ein möglicher Weg zur Rettung aus miserablen Lebensverhältnissen erschwert oder gar versperrt.
Um dieselbe Zeit machten sich auch in den westlichen Ländern bedenkliche Entwicklungen bemerkbar. Der politische Liberalismus, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, besonders in Deutschland, tonangebend geworden war, hatte Juden die politische Gleichberechtigung gebracht. Er versprach ihnen die gesellschaftliche Integration und eine verheißungsvolle Zukunft. Umso härter traf darum vor allem die deutschen Juden der zunächst schleichende, aber dann immer weitere Kreise der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens erfassende Machtgewinn reaktionär-konservativer Kräfte. Ohne das verfassungsmäßig gewährte Recht der Gleichberechtigung formal anzutasten, entwickelte sich zunehmend eine diskriminierende Verwaltungspraxis. Freiheiten und Rechte, die die Juden erst wenige Jahrzehnte zuvor errungen hatten, wurden in der gesellschaftlichen Praxis sukzessive wieder eingeschränkt. Posten, die sie mit Eifer ausgefüllt hatten, nahm man ihnen weg. Demütigungen von Westjuden wurden zur alltäglichen Realität, die von denen umso erdrückender empfunden werden musste, die am Erblühen und Erstarken der westlichen Gesellschaften nicht unwesentlich beteiligt waren. Es traf sie ins Mark, dass sie nicht mehr für würdig gehalten wurden, ihrem Kaiser als Offizier zu dienen. Sie, die sich als Deutsche verstanden und deutsch fühlten und die sich im Ersten Weltkrieg bewährt und mit Begeisterung mehr als nur ihre staatsbürgerliche Pflicht getan hatten.
Genauso entsetzt waren sie, dass antisemitische Agitatoren ihr Haupt frei erheben durften und dass Verhöhnung und Beschimpfung von Juden in gewissen Kreisen üblich wurden. Und wenn deutsche Juden in ihrer Verzweiflung sich umschauten, mussten sie zur Kenntnis nehmen, dass es anderswo nicht besser war. In Frankreich hatte die Dreyfus-Affäre geradezu erschreckende Einblicke in die Tiefe antisemitischer Vorurteile eröffnet. In Österreich waren die beiden wichtigsten miteinander konkurrierenden Parteien, die Christlich-Sozialen und die Deutschnationalen, sich nur dann einig, wenn es gegen die verhassten Juden ging. In jeder jüdischen Seele, die noch eine Spur von Feinfühligkeit und Stolz bewahrt hatte, tauchte die verzweifelte Frage auf, ob es denn überhaupt einen Nichtjuden gebe, der kein Antisemit war. Wer diese Zeiten