"Ich habe neun Leben gelebt". Joseph Melzer
wie im Westen bedrohte auch die Gesamtsituation die einzelnen Juden. Gleichzeitig war die innere Verfassung des europäischen Judentums von einem Zustand der spirituellen Schwäche und internen Zerstrittenheit gekennzeichnet. Von der belebenden Frische eines aktiven religiösen Lebens, die das kollektive Gefühl der Stärke und Begeisterung hätte erwecken können, war nichts mehr zu spüren. Es gab nichts, was dem dahinschleichenden Judentum und seiner heranwachsenden Jugend eine inspirierende spirituelle Kraft hätte verleihen können. Politisch spaltete der Widerstand des orthodoxen Judentums gegen den aufkommenden Zionismus in zunehmenden Maßen die europäischen Juden.
Das Interesse an religiösen Themen hatte in weiten Kreisen des Judentums abgenommen. Es machte sich sogar eine atheistische Tendenz bemerkbar. Religionsfeindschaft wurde nicht selten als ein kultureller Fortschritt betrachtet. Der post-napoleonische Erhalt allgemeiner Bürgerrechte in weiten Teilen Europas sowie die Entwicklung eines aufgeklärten Reformjudentums hatten einen Prozess der Säkularisierung in Gang gesetzt, der manchen sogar befürchten ließ, dass die Vermittlung von jüdischer Religiosität an die junge Generation durch elterliche Erziehung und staatliche Schulbildung immer mehr vernachlässigt werde. Ein ausgeprägtes Desinteresse an Religion bemächtigte sich breiter jüdischer Kreise, das das Weltjudentum in kurzer Zeit obsolet machen würde.
In meiner Kindheit habe ich von all dem nichts mitbekommen, denn in meinem beschaulichen Galizien war die alte jüdische Traditionswelt noch sehr lebendig. Dort bestimmten nach wie vor die Gemeinderabbiner, wie Juden zu leben hatten. Ich wuchs im Hause meines Großvaters unter einer streng jüdischen Erziehung auf. Im Grunde kannte ich nur die jüdische Welt, ihre Gebote und strengen Verbote.
Im Gegensatz zu unserer Welt hatte sich in den urbanen Zentren Ost- und Westeuropas ein säkular geprägter Modernisierungsprozess entwickelt. Gerade junge Juden hatten längst angefangen, sich von den Bindungen der Tradition und der von ihnen so empfundenen Fesseln eines autoritär-repressiven Rabbinertums zu lösen.
Die Lage der europäischen Judenheit um die Wende zum 20. Jahrhundert war also äußerst grenzwertig. Für den geschichtsbewussten Beobachter seiner Zeit war dies jedoch nichts wirklich Ungewöhnliches. Schon oft in ihrer Geschichte hatten sich die Juden in einer vergleichbaren oder gar noch kritischeren Lage befunden. Bisher jedoch hatte unsere Gemeinschaft solche Perioden des Niedergangs immer überwinden können.
Eine große Zahl jüdischer Intellektueller verstand die Judenfrage in ihrer vollen Tragweite und empfand ein deutliches Unbehagen ob ihrer erniedrigenden Lage. Befreiungsversuche aufgrund wohlgemeinter und trotzdem schlecht durchdachter Ratschläge schossen in der jüdischen Welt wie Unkraut aus dem Boden. Wenn diesen nicht ein sich stetig ausbreitender Antisemitismus Vorschub geleistet hätte, hätte der Zionismus nie zu einer derartigen Massenbewegung werden können.
Es war eine nervöse und überreizte Zeit, Überlegungen verschiedenster Art wurden angestellt und diskutiert, wie und was zu tun sei, um eine grundlegende Besserung der Lebenssituation für die europäischen Juden herbeizuführen. Viele fühlten sich berufen, ihre mehr oder überwiegend weniger nützlichen Vorschläge dazu öffentlich vorzutragen. Darunter waren auch solche, die kaum etwas anderes darstellten als wirre, mystisch-religiöse Phantastereien. Typisch für solche kritischen Phasen jüdischer Geschichte waren Endzeitvorstellungen. Weite Kreise erfasste eine Sehnsucht nach dem Erscheinen des Messias. Die messianische Bewegung des Schabatai Zvi im 17. Jahrhundert wäre hierfür ein Beispiel.
Als Rettung aus aller Gefahr trat Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Zionismus eine Bewegung auf den Plan, die von sich behauptete, für die so weit verbreitete Not der Juden die Ursache gefunden zu haben: alles Elend komme daher, dass die Judenheit sich als Nation auflöse. Sie behauptete, das Judentum sei stets eine Nation gewesen und die Assimilation an die Kultur anderer Nationen sei eine Verschwendung und Vernichtung der besten jüdischen Kräfte. Dies stelle einen schmählichen Verrat am Wesen und der Zukunft des Judentums dar, was schon in der Vergangenheit zu nichts anderem als zu Unglück und Niedergang geführt habe. Gerade weil der jüdischen Nation ein territorialer Mittelpunkt fehle, gelte es diesen zu schaffen. Die Judenheit könne nur dann ein erträgliches Schicksal finden, wenn alle nationalen Kräfte zusammengeführt würden. Auf dem geheiligten Boden der Väter könne eine Zuflucht geschaffen werden, die einerseits dem verfolgten Judenvolk eine sichere Heimstätte gewähre, wo es seiner Eigenart gemäß leben könne, und von der andererseits eine geistige Belebung aller jüdischen Werte ausgehen werde. Theodor Herzl war es, der der neuen Bewegung mit seinem Buch Der Judenstaat einen entscheidenden Impuls zur Verwirklichung dieser zionistischen Vision gab.
Es ist schon verwunderlich, dass eine pseudomessianische Mission, wie man die zionistische Bewegung in ihrer Zielrichtung auf einen separaten jüdischen Staat verstehen kann, sich ausgerechnet auf das Prinzip eines säkularen Nationalstaates berief, der dem religiös-orthodoxen Judentum absolut fremd war. Einer zweitausendjährigen Entwicklung, die nur Religion und immer wieder Religion gefordert und gefördert hatte, wurde grundsätzlich widersprochen. Wie konnte es zu diesem Widerspruch kommen?
Hat der nationale Gedanke vielleicht doch eine unbewusste Grundlage in jüdischen Anschauungen? Gibt es irgendein Analogon oder einen zionistischen Vorläufer in der jüdischen Geschichte? Die Strenggläubigen pflegten sich auf die Sprüche Salomons im Alten Testament zu stützen und sagten: »Es gibt nichts neues unter der Sonne.«
Man könnte auf manche Bewegungen hinweisen, welche sich die Rückkehr in das Heilige Land ersehnten, aber keine war je vom prophetischen Wege abgewichen. Nie hatte man etwas anders erträumt als die Wiedererrichtung des Tempels und den Sieg der Religion! Mit dem Zionismus war etwas völlig Neues und Fremdes aufgetreten. Er appellierte nicht an religiöse Gefühle, und es ging ihm nicht um die Errichtung des Tempels und die Herbeiführung des Gottesstaates, sondern um den Aufbau eines nationalen Staatswesens, so wie andere Nationen sich ebenfalls zu Nationalstaaten entwickelt hatten. Die Judenfrage war somit zu einem ausschließlich politischen und wirtschaftlichen Problem mutiert – für jeden mit der jüdischen Geschichte Vertrauten ein völliges Novum.
In diese bewegte, von Zweifeln und Hoffnungen geprägte Zeit wurde ich hineingeboren, in ihr bin ich aufgewachsen. Wenn mein Vater mich in die Arme der zionistischen Bewegung in Deutschland warf, wie noch zu berichten sein wird, dann nicht, weil er ein glühender Zionist war, sondern weil er froh war, dass die zionistische Bewegung ihn von der Sorge um die Ernährung seines Ältesten entlastete. Auch ich war kein glühender Zionist, und der Gedanke, nach Palästina auszuwandern und dort beim Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens zu helfen, wäre mir von selbst nie in den Sinn gekommen.
Wie jede andere Weltanschauung hielt sich auch der Zionismus für unfehlbar. Er wurde zur neuen Religion für viele Juden. Aber nur die wenigsten merkten, dass der Zionismus an der falschen Front kämpfte und gemeinsame Sache mit den Antisemiten machte, indem er propagierte, dass die Juden nach Palästina gehörten. So wurde uns unsere deutsche Identität von zwei Seiten abgesprochen, von der antisemitischen und nicht weniger von der zionistischen Seite her. Vom Standpunkt des Zionismus als einem extremen Nationalismus war der Antisemitismus durchaus legitim. Er war für die zionistische Bewegung ein willkommenes Hilfsmittel.
Im Übrigen bin ich der Meinung. dass es nicht nur der Zionismus war, der später entscheidend dazu beitrug, den jüdischen Staat zu gründen, sondern allem voran der deutsche Nationalsozialismus, der Hunderttausende Juden, die sich vor der Vernichtung durch die Nazis retten wollten, als Flüchtlinge nach Palästina trieb. Wäre Adolf Hitler 1933 nicht an die Macht gelangt und hätte seine nationalistische und rassistische Politik nicht bis zur Vernichtung von sechs Millionen Juden und der Zerstörung halb Europas geführt, dann würde die Welt heute ganz anders aussehen. Ich wäre mit absoluter Sicherheit in Deutschland geblieben. Es waren also die Nazis, die mich in die Arme der Zionisten getrieben haben. Die deutschen Juden waren zuallererst Deutsche, viele auch deutsche Nationalisten, die 1870 und 1914 für Deutschland gekämpft und teilweise sogar das Eiserne Kreuz erhalten haben. Einige wären sogar gerne Nazis geworden, wie ich später erzählen werde, wenn die Partei sie nur aufgenommen hätte. Es stimmt, was mein Freund Bruno gesagt hat, dass die Juden Hitler nicht so gehasst haben wie Hitler sie. Und diejenigen, die sich als Juden identifiziert haben, waren auch gegen den Zionismus, weil sie in ihm eine Ideologie erkannt haben, die ihr Deutschtum in Frage