"Ich habe neun Leben gelebt". Joseph Melzer
der Himmel ihm auftrug, ein Menschenbild aus Lehm zu erschaffen: »Erschaffe ein Menschenbild aus Lehm, und du wirst der Böswilligen Absicht zerstören.« Um den Golem zu erschaffen, ging er mit einem seiner Schüler und einem Diener zu einer Lehmgrube an der Moldau. Dort kneteten sie aus der formlosen Masse eine menschliche Figur, um die sie dann siebenmal liefen und daraufhin mehrere Formeln sprachen. Der Golem erwachte zum Leben. Er war ausdruckslos, nur seine Augen leuchteten rot. Es ist nicht genau überliefert, wie er aussah, es steht aber fest, dass er sehr groß war und ungeheure Kräfte hatte. Die meiste Zeit saß er reglos zurückgezogen in einem Winkel der Stube des Rabbis. Mit einem Amulett aus Hirschhaut konnte dieser ihn unsichtbar machen. Und wenn er einen Auftrag für den Golem hatte, legte er ihm ein mit Zaubersprüchen beschriebenes Pergament in den Mund. Die meisten Aufträge, die der Rabbi ihm gab, bezogen sich auf die Bekämpfung der diversen widerlichen Blutbeschuldigungen. Der Golem patrouillierte dabei nachts im jüdischen Viertel. Er hielt jeden an, der eine Last trug. War die Last eine Kinderleiche, die zum Zwecke der Beschuldigung der Prager Juden in ihrem Viertel abgelegt und aufgefunden werden sollte, wurde der Überführte den hohen Leuten im Stadthaus übergeben.
Als 1593 wieder Ruhe eingekehrt war, nicht zuletzt dank eines Gesetzes, das die Blutbeschuldigung unter Anklage stellte, beschloss der Rabbi, den Golem wieder den Elementen zurückzugeben. Wieder ging er mit seinen Vertrauten zur Lehmgrube und vollzog das Ritual in umgekehrter Reihenfolge. Dann verstauten sie die Überreste in Rabbi Löws Dachstube. Bis heute sollen sie dort noch liegen.«
Eine andere Version berichtet, dass Rabbi Löw ein Pergament mit einer Zauberformel im Mund des Golems vergessen hatte, der Golem Amok lief und deswegen beseitigt werden musste.
In diesen Zeiten verbreitete sich der Chassidismus in Osteuropa. Auch meine Familie war davon berührt. Den Schritt zum Chassidismus tat mein Urgroßvater Schalom Stein. Er war, wie man so sagt, ein »seidener« Mensch, ganz ungewöhnlich gelehrt, von vollendeter Frömmigkeit und mit allen Tugenden reich gesegnet. Rabbiner wollte er aber aus Bescheidenheit nicht werden. Sein Wunsch war, ein gewöhnlicher Geschäftsmann zu sein, ein Holzhändler zu werden wie sein Vater. Doch meistens saß er über seinen heiligen Büchern gebeugt und studierte den Talmud. Die Holzgeschäfte führte seine Frau, die dazu auch noch den Haushalt beaufsichtigte. Das war aber keineswegs ungewöhnlich. Überall führten bei wohlhabenden chassidischen Geschäftsleuten die Frauen die Geschäfte, und die Männer konnten sich dem Studium der Thora und des Talmuds widmen.
Mein Großvater wurde also, so wie sein Vater, von dem er das Geschäft geerbt hatte, Holzhändler. Holz gab es in den Wäldern der Umgebung genug. Mein Großvater trug einen dichten weißen Bart und sah mit 40 schon wie ein alter Mann aus. Er spendete viel Geld für wohltätige Zwecke. In seiner jüdischen Gemeinde war er sehr aktiv und half dem, der Hilfe bedurfte. Seine Gemeinde war die der Chassidim, die sich in der Kleidung nicht nur von den Konservativen, sondern noch deutlicher von den Liberalen unterschieden.
Die Juden vermieden es in der Regel, zu den staatlichen Gerichten zu gehen, und regelten ihre Streitigkeiten unter sich. Natürlich musste alles später vom Rabbiner gesegnet werden. Unser Rabbi war ein fröhlicher Chassid, stets zu einem jiddischen Witz aufgelegt, und damit ein scharfer Kontrast zu den konservativen Rabbis, die immer streng, humorlos und ernst auftraten. Bei uns hielt man sich an die Lehre von Rabbi Hillel, der predigte: »Was Du nicht willst, dass man es Dir tut, das füg auch keinem anderen zu.«
Großvater Abraham Stein
Besonders deutlich wurde der Unterschied am Pessachfest. Bei den Konservativen reichte ein Becher Wein für die ganze Zeremonie beim Abendmahl, bei dem man zur Heiligung des Namens, zum Segnen des Mahls und zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten koscheren Wein trinkt. Auf dem Tisch stand auch ein voller Becher für den Propheten Elijahu (oder Elijas), der als Gast erwartet wurde, von dem man aber wusste, dass er nie kommen würde. Bei den Konservativen nippte der Rebbe beim »Kiddusch« nur am Becher, und am Ende der ganzen, langen Zeremonie lautete der Segensspruch: »Nächstes Jahr in Jerusalem«.
Bei den Chassidim hingegen trank der Rebbe bei jedem Segensspruch den vollen Becher aus, und einer der Schüler war immer dafür verantwortlich, ihn mit koscherem Wein aufzufüllen. Nach dem fünften oder sechsten Spruch war der Rebbe beschwipst und am Ende leicht betrunken, so dass er nach der Zeremonie auf den geräumten Tisch stieg und anfing zu tanzen. Er blieb allein da oben, die anderen tanzten auf dem Boden, denn man hatte Angst, dass der Tisch die Last nicht tragen könne. Und so tanzte man bis in den frühen Morgen, bis alle vor Erschöpfung umfielen.
In der chassidischen Synagoge, oder wie wir sie nannten, in der »Schul«, herrschte immer ein fröhliches Durcheinander, besonders weil man die Kinder machen ließ, was sie wollten. Die Erwachsenen sprachen mehr über ihre Geschäfte, anstatt sich dem Gebetbuch zu widmen, und manch erfolgreiches Geschäft wurde zwischen zwei Gebeten beschlossen. Die Frauen saßen auf der Galerie und blickten auf die Männer herunter. Auch sie redeten ununterbrochen miteinander, und nur Gott weiß, was sie sich zu sagen hatten. Möglicherweise tauschten sie Backrezepte aus oder verkuppelten ihre Töchter und Söhne, möglichst gut und teuer. Wenn der Sohn eines reichen Honoratioren Bar-Mizwa feierte, wurden Süßigkeiten verteilt und von den Frauen auf der Galerie heruntergeworfen; für die Erwachsenen gab es nach dem Gebet einen Umtrunk.
Besonders beliebt waren bei mir die Mahlzeiten am Schabbat. Da gab es immer meine Lieblingsspeise, die »Kreplach«, Knödel oder dreieckige Taschen aus unvergorenem Teig, gefüllt mit feingehacktem Fleisch. Kreplach wurden nur an Samstagen und Feiertagen gemacht. An letzteren, zum Beispiel Pfingsten, werden sie jedoch nicht wie üblich mit Fleisch gefüllt und auch nicht in Suppe gekocht, sondern in Töpfe gefüllt und gesondert gekocht. Wer die Kreplach meiner Großmutter nicht gegessen hat, hat noch nie in seinem Leben richtige Kreplach gegessen.
Hinter dem Haus meines Großvaters standen die Kirchen der drei verschiedenen christlichen Konfessionen, jeweils mehrere hundert Meter voneinander entfernt. Die größte war die römisch-katholische der Polen. Die Ruthenen hatten ihre etwas kleinere griechisch-orthodoxe, und die kleinste war die protestantische Kirche, in welche die meisten Deutschen gingen.
Es gab eine Hauptsynagoge und mindestens 20 Bethäuser für die Anhänger der untereinander zerstrittenen chassidischen Rabbis. Mein Großvater war auch ein Chassid, jedoch einer von sanfter, milder Natur. Ihm war jede Art von Zelotentum fremd, ohne dass er dabei auch nur ein Jota der 613 Gebote und Verbote missachtete. Ihm galten meine große kindliche Liebe und Verehrung.
Unter seinen Fittichen bin ich bis zu meinem siebten Lebensjahr herangewachsen, nur der unselige Krieg 1914 konnte mich von ihm trennen, ihn aber nicht vergessen lassen. Sein Bild hängt über meinem Schreibtisch. Über seinem Antlitz mit dem schlohweißen Bart schwebt eine Aureole von Güte und Weisheit, die mich immer noch tief beeindruckt. Es verging kein Tag, an dem er nicht »lernte« oder einen Traktat des Babylonischen Talmuds mit melodischem Gesang vortrug. Seine Gottesfurcht und -liebe war nicht nur Lippenbekenntnis, sondern voll warmer Herzensgüte für Menschen und Tiere. Ich entsinne mich noch sehr deutlich, wie er mich bei einem Spaziergang am Schabbat davor warnte, einen Wurm zu zertreten. »Dieses ist ein Geschöpf Gottes, mein Kind, wir dürfen es nicht töten.«
Ich erlebte, wie er jeden Morgen inbrünstig sein Morgengebet sprach – nein –, sogar sang: »Mit großer Innbrunst hast Du uns geliebt, Ewiger, unser Gott! Mit großer und überschwänglicher Barmherzigkeit Dich unser erbarmt, unser Vater und König! Um unserer Väter willen, die auf Dich vertraut und denen Du die Lehren des Lebens erteiltest, sei auch uns gnädig und belehre uns, unser Vater, Barmherziger, Gnadenreicher! Erbarme Dich unser und gib uns in das Herz, all die Worte der Belehrung aus Deiner Lehre zu verstehen und zu erkennen, zu hören, zu lernen und zu lehren, zu bewahren und auszuüben.«
Und so ging es noch lange weiter, und wenn er fertig war, wusch er sich die Hände und nahm sein Frühstück ein. Am Schabbat sprach er noch den Kiddusch, bevor er das Brot an alle Anwesenden verteilte.
Mein Großvater war eine Zeitlang der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde in Kuty. Er war nicht nur für Streitigkeiten als Schlichter oder, wenn er nicht zu schlichten vermochte, als Richter